XIX. KAPITEL

Kerker

 

Peter saß auf einem Haufen alten, feuchten Strohs, das in einer Ecke der Kerkerzelle zu einem elenden Lager aufgeschichtet war. Hier hatte man ihn nach seiner Begegnung mit Alissandra unverzüglich eingesperrt.

Er war von dieser Szene noch so tief erschüttert und innerlich aufgewühlt, daß er kaum etwas davon mitbekommen hatte, wie man ihn in Ketten gefesselt und über zahllose Gänge und Treppen hinab in das Gefängnis geschleift hatte. Während er von den Wachen und den Offizieren der Leibgarde umgeben war, hatte er eine unbeteiligte, ja geradezu versteinerte Miene aufgesetzt. Jetzt aber, wo er allein und verlassen im Dunkeln saß, konnte und brauchte er seine stolze Haltung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Er vergrub das Gesicht in den Händen und weinte eine Zeit lang still vor sich hin.

Da außer ihm niemand in der Nähe war, brauchte er sich, als der Anfall vorüber war, auch nicht zu schämen. Immerhin fühlte er sich jetzt ein bißchen besser. Der Schmerz in seinem Herzen und die entsetzliche Demütigung waren zwar nicht verschwunden, aber er hatte sich wieder so weit in der Gewalt, daß er Gelegenheit fand, sein Gefängnis näher in Augenschein zu nehmen.

Die Zelle, in der man ihn eingesperrt hatte, war ziemlich groß und schien ursprünglich für mehrere Häftlinge ausgelegt zu sein. Das gesamte Mobiliar — wenn man es so nennen durfte — bestand aus zwei wackeligen Holzschemeln und einem Blechkübel mit Deckel. Die Wände bestanden aus großen, sorgfältig vermauerten Granitquadern, der Fußboden unter einer dünnen Schicht aus Sägemehl, war aus dem gleichen Material gemauert. Die Decke über seinem Kopf war ziemlich hoch und hatte die Form eines Tonnengewölbes. An den Wänden waren in regelmäßigen Abständen eiserne Ringe eingelassen, an welchen die Häftlinge zusätzlich festgekettet werden konnten. Die Lagerstatt bestand aus dem bereits erwähnten Haufen Stroh und einer zerschlissenen, stinkenden Wolldecke. Licht gab es keines, außer dem schwachen Schein, der durch ein winziges vergittertes Fenster hoch über seinem Kopf herein drang. Die Fensteröffnung mußte sich dicht über dem Erboden befinden, denn ab zu konnte Peter den Schatten von vorüberhuschenden Beinen sehen. Das Fenster besaß natürlich keine Glasscheibe, so daß ein stetiger feuchtkalter Luftzug herrschte. Am gegenüberliegenden Ende der Zelle befand sich die Tür. Sie war aus dicken, eisenbeschlagenen Eichenbrettern gezimmert. In der Mitte der Tür gab es eine kleine quadratische Öffnung, welche von vergittert und mit einer nur von außer zu öffnenden Klappe verschlossen war.

Es war dunkel, kalt und feucht. Ein schwerer Modergeruch lag in der Luft, an den Peter sich nicht so schnell gewöhnen konnte.

Das also war auf unbestimmte Zeit sein Zuhause! Hier unten ließen sie ihn verschimmeln, während Alissandra oben im Palaste Hochzeit feierte.

Peter kauerte sich in der Ecke auf dem Strohhaufen zusammen und stützte den Kopf auf die Knie. Allmählich wurde es stockfinster und durch das Fenster drang die feuchte, kalte Nachtluft herein. Peter fröstelte und wickelte sich trotz anfänglicher heftiger Abscheu in die schmuddelige Decke.

Bis jetzt war keiner gekommen, um nach ihm zu sehen. Wahrscheinlich war er bereits nach der Essenszeit eingeliefert worden, so daß die einzige Stärkung, die ihm zuteil wurde, aus einigen Schlucken Brunnenwassers bestand, welches er in einer nicht besonders sauberen Blechkanne neben dem Toiletteneimer fand.

Viel rascher als befürchtet fiel Peter in einen unruhigen, wenig erholsamen Schlaf.

Als er am anderen Morgen wieder aufwachte, fühlte er sich eiskalt und steif und alle Knochen im Leib taten ihm weh.

Während er den Eimer benutzte, bemerkte er, daß in der Zwischenzeit jemand das Frühstück gebracht hatte — wenn man das so nennen durfte. Auf dem Boden vor der Tür stand nämlich eine frische Kanne mit Wasser und ein halber Laib altbackenen Brotes, sowie eine Schale mit einer lauwarmen, bräunlichen Flüssigkeit. Besteck gab es natürlich keines. Vielleicht hatte der Kerkermeister Angst, die Häftlinge könnten sich mit ihren Löffeln durch die meterdicken Mauern graben, was durchaus möglich wäre, wenn man lange genug Zeit dafür hat. Und Zeit war das einzige, was den Unglücklichen, welche hier darbten, geblieben war.

Vorsichtig kostete Peter von der Suppe. Der Geschmack erregte Übelkeit. Beinahe mußte r sich übergeben. Angewidert spie er aus und schleuderte den Napf samt Inhalt gegen die Wand.

Peter fluchte laut und zeterte und stieß üble Verwünschungen aus. Er begann in der Zelle auf und ab zu laufen; erst lief er diagonal von einer Ecke zur anderen, dann kreiste er in der Mitte umher, bis er müde war. Und das dauerte lange, denn er war sehr, sehr wütend.

Sein Schreien und Lärmen war vergeblich. Bis zum Mittag bekam er niemanden zu sehen oder zu hören.

Überhaupt war es geradezu unheimlich ruhig in dem Kerker. Peter hatte den Eindruck, als sei er der einzige Gefangene hier unten; womit er übrigens recht hatte. Er blieb stehen und lauschte an der Tür. Aber die einzigen Geräusche, die er durch das dicke Holz vernehmen konnte, kamen von draußen durch das Fenster herein.

»Ich weiß genau, was ihr wollt! Ihr wollt mich fertig machen!« schrie er laut. »Ihr wartet, bis ich hier unten verrückt werde! Ihr…« Seine Stimme versagte. Er sank auf die Knie und hieb mit beiden Fäusten auf den Boden.

Wenn er noch lange hier bleiben mußte, dann würde er tatsächlich den Verstand verlieren. Auf einmal fühlte er sich einsam und verlassen. Beinahe hätte er erneut angefangen zu Weinen. Aber diesmal beherrschte er sich. Diesen Triumph wollte er seinen Peinigern nicht bieten.

Er durfte jetzt nicht aufgeben. Das war es doch, was die dort oben von ihm erwarteten. Nein, er mußte ausharren. Früher oder später würde er Hilfe bekommen. Auf Wilo war Verlaß und Tamina würde ihn bestimmt auch nicht vergessen.

»Oh nein! Ihr kriegt mich nicht klein!« rief er und sprang auf.

Das wichtigste war jetzt, daß er nicht die Nerven verlor. Zum Glück war die Zelle groß genug. In einer winzigen Gefängniszelle, wo man sich kaum umdrehen konnte, würde er es keine drei Tage aushalten, bis er mit dem Kopf gegen die Wand liefe. Wenn er nur irgend etwas fände, mit dem er sich beschäftigen könnte! Dann würde ihm auch die Zeit nicht lang werden.

Als ersten wollte er ein wenig Ordnung schaffen. Er schaufelte mit bloßen Händen das Stroh zu einem Haufen und faltete die Wolldecke ordentlich zusammen. Die beiden Schemel stellte er so hin, daß er sie als Tisch und Sitz gebrauchen konnte.

Darüber bemerkte er schließlich, wie hungrig er war. Die Suppe war verschüttet, aber ihm blieb wenigstens noch das Brot. Glücklicherweise war es nur trocken, aber nicht verdorben oder schimmelig, so daß er es essen konnte.

Trockenes Brot ist genau so nahrhaft wie frisches, daß wußte Peter. Also knabberte und kaute er an dem steinharten Brocken herum. Das war zwar ziemlich anstrengend, aber dafür war er eine Weile beschäftigt.

Während er aß und ab und zu einen Schluck Wasser aus der Kanne trank, lauschte er den Geräuschen, die von draußen an sein Ohr drangen.

Er hörte Vogelgezwitscher und das klappern von Pferdehufen auf dem Pflaster und das Rumpeln von Wagenrädern. Auch vernahm er zuweilen vereinzelte Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was sie sprachen. Das Kerkerfenster mußte also auf einen der gepflasterten Höfe des Palastes führen. Dieser Teil der Palastanlage gehörte freilich nicht zu den Wohngebäuden des Regenten, sondern eher zu den Verwaltungs- oder Versorgungsgebäuden. Und damit war er potentiell zugänglich für Tamina oder irgend einen anderen, der ihm vielleicht helfen könnte; und sei es auch nur, indem er eine Nachricht von ihm übermittelte. Er müßte jetzt nur noch einen Weg finden, um mit der Außenwelt in Verbindung zu treten.

Peter sah sich in der Zelle um. Leider gab es nicht viel, was sich für sein Vorhaben als nützlich erweisen könnte.

Die beiden hölzernen Schemel ließen sich leicht aufeinander stapeln. Viel schwieriger war es allerdings, hinauf zu steigen, denn sowohl der untere, als auch der obere wackelten bedenklich. Peter benötigte drei Versuche, bis er die optimale Position gefunden hatte.

Zu seiner Enttäuschung mußte er leider feststellen, daß er sogar wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, nicht aus dem Fenster schauen konnte. Es gelang ihm gerade, den unteren Rand der leicht abschüssigen Brüstung zu erreichen. Selbst bei größter Anstrengung gelang es ihm nicht einmal, die Gitterstäbe zu fassen. Dazu müßte er schon einen Luftsprung machen. Aber da er nichts sehen konnte, weil er das Gesicht gegen die Wand drücken mußte, würde er nicht die Stäbe zu greifen bekommen, sondern rücklings hinabstürzen und sich wahrscheinlich den Hals brechen. Aus diesem Grunde versuchte er es gar nicht erst.

Das war eine herbe Enttäuschung für Peter. Er hatte gehofft, wenigstens einen kurzen Blick nach draußen werfen zu können, um zu sehen, wo er sich befand. Aber alles, was er zu sehen bekommen hatte, war ein Stück des wolkenlosen, blauen Himmels.

Verdrießlich trat er nach einem der Schemel, daß dieser gegen die Wand flog.

Irgendwie brachte er die träge fließende Zeit herum. Gegen Mittag endlich sah er zum ersten Male seinen Kerkermeister. Es war ein Bär von einem Manne. Ertrug die Uniform der Palastwache. In seinem Gürtel steckte auf der einen Seite ein gewaltiger Knüppel, auf der anderen Seite hing ein riesiger Schlüsselbund.

Vielleicht, wenn es ihm gelänge, den Kerl zu überwältigen… Aber er verwarf diesen Gedanken sogleich wieder, als er die grimmige Miene des Kerl sah. Mit dem war nicht gut Kirschen essen. Bestimmt könnte er ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen.

Was Peter aber am meisten an dem Wärter haßte, war, daß er stumm blieb wie ein Fisch. Egal, was Peter ihn fragte oder zu ihm sagte, gleichgültig, welches üble Schimpfwort er ihm an den Kopf warf, der Kerl reagierte nicht im mindesten und sprach kein Wort.

Als Peter sich ihm endlich herausfordernd in den Weg stellte, schob ihn jener einfach zur Seite. Er hätte sich genausogut einem Ackergaul unterwegs zu Futterkrippe in den Weg stellen können.

Der Wärter brachte das Mittagessen — wenn man dies so nennen durfte — und tauschte den Wasserkrug gegen einen frischen aus. Dann ging er hinaus, schloß sorgfältig die Tür hinter sich ab und schob die beiden schweren Riegel vor. Nach einer Weile hörte Peter, wie eine weitere Tür krachend ins Schloß fiel, dann war es wieder absolut still in dem Kerker.

Jetzt wußte er, daß er ganz allein in diesem Verlies schmachtete. Wahrscheinlich hatte Tibor ihn absichtlich in dieses elende Rattenloch stecken lassen. Die übrigen Gefangenen des Regenten wurden nämlich nicht mehr im Palast selbst, sondern im Gefängnis am Stadtrand verwahrt. Wahrscheinlich wurde dieses Verlies seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt, und man hatte es eigens für ihn wieder in Betrieb genommen.

Das Mittagessen war alles andere als genießbar, trotzdem würgte Peter es irgendwie hinab, denn er mußte bei Kräften bleiben. Ein Hungerstreik würde weder den Regenten, noch diesen widerlichen Tibor im geringsten beeindrucken.

Im Verlaufe des Nachmittags zogen dunkle Wolken am Himmel auf und in Peters Zelle wurde es beinahe stockfinster. Ein leises Rumpeln in der Ferne kündigte das herannahende Gewitter an.

Es dauerte keine Dreiviertelstunde, bis es über dem Palast blitzte und krachte. Ein sintflutartiger Regen stürzte vom Himmel. Erschrocken sprang Peter auf. Seit dem Erlebnis im Walde, als er nach Arkanien versetzt worden war und sein ganzes Leben sich auf einen Schlag verändert hatte, waren ihm Gewitter — besonders die Blitze — nicht mehr geheuer.

Eine feuchte, nach Regen und Erde riechende Luft drang an seine Nase. Gierig sog er den frischen, erdigen Duft den er so gern mochte, ein.

Leider war die frische Luft nicht das einzige, was durch das Fenster herein kam. Ein dünnes Rinnsal Regenwassers floß die Wand herab und bildete eine rasch wachsende Pfütze auf dem Boden. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wenn das so weiterginge, dann würde er heute Nacht ein Bad nehmen können.

Der Regen ließ aber zu Peters Erleichterung bald nach und auch der Wasserstrom in der Zelle versiegte endlich.

Die zweite Nacht im Kerker war noch schlimmer als die erste. Peter fand keinen Schlaf. Die wirrsten Gedanken kreisten in seinem Kopfe. So sehr er sich auch anstrengte, an gar nichts zu denken, wollte es ihm einfach nicht gelingen, seinen Kopf leer zu bekommen. Vielleicht war dies bereits der erste Schritt in Richtung des Wahnsinns.

Am anderen Morgen fühlte Peter sich leider nicht besonders wohl. Er war müde und hatte keine Lust aufzustehen, oder irgend etwas anzufangen. So blieb er die meiste Zeit auf seinem Strohlager liegen und starrte an das Deckengewölbe.

Wie sollte er diese nicht enden wollende, sinnlose, unerträgliche Warterei aushalten. Niemand sprach mit ihm, er hatte keine Ahnung, was draußen geschah, wie es seinen Freunden erging.

Der Tag verging und Peters Stimmung wurde immer schlechter. Seine Gedanken wanderten immer öfter zu Alissandra, obgleich er sich heftig dagegen sträubte, an sie zu denken. Er stöhnte laut auf und preßte beide Hände an den Kopf. Wenn nicht bald etwas geschähe, würde er noch verrückt.

Er begann die Mauersteine zu zählen. Aber weil er in der finsteren Zelle nicht richtig sehen konnte, verzählte er sich oft und mußte wieder von vorn anfangen.

Irgendwann gab er auch das auf, weil ihm die Augen weh taten.

Peter wußte nicht, wie lange er mit geschlossenen Augen vor sich hin gedöst hatte, als ihn auf einmal ein plötzliches Geräusch aufschrecken ließ. Es war ein leises Prasseln, gefolgt von einem feinen Zischen.

Dann vernahm er eine vertraute Stimme, die seinen Namen flüsterte. Er traute seinen Ohren nicht. Fing er jetzt an zu halluzinieren?

»Psst! Peter! Bist du da unten?«

Das war Tamina. Peter sprang in die Höhe und rief: »Tamina! Bist du es wirklich?«

»Ja! Endlich habe ich dich gefunden, Peter. Aber ich kann nicht lange bleiben. Wenn der Wächter seine nächste Runde dreht, muß ich weiter.«

»Ich komme ans Fenster!« rief Peter leise. Hurtig stapelte er die beiden Schemel aufeinander und stieg hinauf.

»Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.«

»Ich stehe direkt unter dem Fenster. Wenn du deinen Arm hindurchstreckst, kann ich deine Hand nehmen. — Ja, so ist’s gut. Noch ein Stück!«

Endlich berührten seine klammen Finger Taminens kleine warme Hand. Diese Berührung tat ihm unendlich gut.

»Ich bin ja so froh, daß es dir gut geht, Peter«, sagte Tamina und aus ihrer Stimme klang eine große Erleichterung.

»Sag! Wie hast du mich gefunden?« fragte Peter.

»Warte! Bevor ich die alles erzähle, muß ich die etwas geben. Hier, nimm!« Sie quetschte ein kleines Päckchen durch den schmalen Zwischenraum zwischen den dicken Gitterstäben.

»Du brauchst etwas anständiges zu essen.« Dankbar nahm Peter das Päckchen an sich und schnupperte daran. Es roch einfach wundervoll nach Wurst und Käse.

»Also, ich will’s kurz machen«, hub sie an zu erzählen. »Als ich deinen Brief bekam, da wußte ich — äh, ich meine, ich dachte mir, du könntest in Schwierigkeiten geraten. Gestern früh dann wurde deine Verhaftung öffentlich gemacht. Natürlich dachte ich zuerst, sie hätten dich ins Stadtgefängnis gesteckt. Aber das stimmte nicht. Ich bin heute morgen da gewesen. Heute ist mein erster freier Tag. Ich habe überall herumgefragt, bis mir endlich einer gesagt hat, daß es im Schloß noch einen alten Kerker gibt. — Oje! Da kommt die Wache. Bis gleich!«

Sie ließ Peters Hand los und stürzte davon. Bangen Herzens harrte Peter unten ihrer Rückkehr. Er mußte aber nicht lange warten, da vernahm er Taminas Stimme wieder über seinem Haupte.

»Ich bin wieder da! Also, wie geht es Alissandra? Hast du sie gesehen?«

Peter knurrte und sagte unwillig: »Laß uns nicht von dieser fiesen Verräterin reden!«

»Aber Peter! Was sagst du da? Wie kannst du…«

»Dieser falschen Schlange habe ich es zu verdanken, daß ich hier unten sitze. Ich war allein mit ihr im Turm und sie hat die Wachen gerufen. Sie will offenbar doch den ekeligen Tibor heiraten.«

»Nein, Peter! Das kann ich einfach nicht glauben. Vielleicht hat man sie gezwungen, das zu sagen, oder…«

»Das ist mir gleich!« fuhr Peter sie an.

»Mich interessiert im Augenblick nur, wie ich hier wieder herauskomme.«

»Wenn ich dir nur irgendwie helfen könnte. Aber alles wird streng bewacht. Tag und Nacht laufen zwei Wächter herum; alle Mauern und Wachtürme sind besetzt; die Tore werden streng bewacht.«

»Wenn ich nur mein Zauberschwert hätte… Aber das hat Tiras jetzt auch!« stöhnte Peter deprimiert. Auch Tamina schwieg nachdenklich.

Plötzlich rief sie: »Ich hab’s! Meister Callidon hat doch etwas von einem blauen Zauberkristall erzählt. Wenn ich dir den besorge, kannst du den Regenten besiegen.«

Peter schüttelte den Kopf — was Tamina allerdings nicht sehen konnte — und sprach: »Das ist viel zu weit und viel zu gefährlich für dich allein, Tamina. Ich könnte das nicht von dir verlangen.«

»Das ist doch nicht wahr, Peter. Ich kann es schaffen. Ich habe ja noch den Plan von Meister Callidon, wo der Weg eingezeichnet ist. Von hier ist es nicht mehr weit. Außerdem tue ich es nicht allein für dich, sondern für Arkanien und die Freiheit und…«

»Würdest du das wirklich tun?« fragte Peter und drückte ihre Hand noch fester. Tamina nickte — was Peter zwar nicht sehen konnte — und sagte zur Bekräftigung noch einmal: »Ich will es tun! Noch heute mache ich mich auf den Weg.«

»Das ist sehr tapfer von dir, Tamina.«

»Ich glaube, ich muß jetzt gehen. Bald kommt der Wächter wieder vorbei«, sagte sie und wollte Peters Hand auslassen, aber er hielt sie fest umklammert.

»Halt! Warte bitte einen Augenblick!« sagte er und ließ ihre Hand los.

Er zog den goldenen Talisman unter seinem Hemd hervor und begann den Verschluß aufzuschrauben. Es war nicht einfach, aber endlich gab der altmodische Verschluß der Kette nach. In demselben Augenblick, da er das Amulett abnahm, hatte er das merkwürdige Gefühl, als ob es in dem Kerker noch eine Spur dunkler und kälter würde. Peter bekam eine richtige Gänsehaut.

»Hier, nimm das! Es soll dich beschützen.« Er drückte ihr das Kleinod in die Hand.

Tamina erschrak und sagte: »Nein, Peter! Du darfst es auf keinen Fall weggeben. Meister Callidon hat ausdrücklich gesagt…«

»Keine Widerrede, Tamina! Du brauchst seinen Schutz dringender als ich — falls es wirklich etwas nützt. Hier unten habe ich keine Verwendung dafür.«

»Aber…«

»Tamina! Hör mir jetzt bitte gut zu! Falls du es schaffst, den Kristall zu finden, dann versprich mir bitte, daß du ihn niemand anderem außer mir geben wirst. Er besitzt eine ungeheure Macht. Wenn er in die falschen Hände gelangt, dann ist alles aus. In diesen Zeiten kann man niemandem mehr vertrauen. Ich habe das am eigenen Leib erfahren müssen.« Er sprach den letzten Satz nicht ohne eine tiefe Bitterkeit aus.

»Ich versprech’s dir, Peter. Ich gebe den Kristall nur dir allein. In ein paar Tagen bin ich wieder zurück. Halte durch! — Oje! Ich muß fort!« Peter hörte nur noch ihr Schritte über das Pflaster huschen, dann war sie weg und in seine Zelle kehrte wieder Stille und Trostlosigkeit ein.

Peter wollte jetzt keine Traurigkeit aufkommen lassen. Er wickelte das Eßpaket aus, das Tamina ihm mitgebracht hatte. Es enthielt ein großes Stück Fleischwurst, eine dicke Scheibe halbharten Käses und ein Stück frisch gebackenen Hefekuchens. Da Peter völlig ausgehungert war, griff er tüchtig zu und aß alles durcheinander, bis er so voll und satt war, daß er für eine Weile die Ungemach seiner Lage vergaß.

Als der dritte Tag von Peters Kerkerhaft anbrach, fand er den unglücklichen Häftling in einer schlechten Verfassung vor. Obwohl er fest geschlafen hatte, fühlte Peter sich müde und unwohl. Irgendwie schien es im Kerker kälter geworden zu sein, obwohl draußen die Sonne hell vom wolkenlosen Himmel schien. Hinzu kam, daß er bereits beim Aufstehen leichte Kopfschmerzen verspürte, welche im Laufe des Tages zunahmen.

Gegen Abend wurde ihm auf einmal heiß. Er begann zu schwitzen und er verspürte einen unersättlichen Durst. Vermutlich war er im Begriffe krank zu werden, was kein Wunder war, in diesem kalten, feuchten Loch.

Mitten in der Nacht wachte Peter auf. Irgend ein Geräusch hatte ihn aufgeweckt. Er fühlte sich elend, und es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß das Geräusch das Klappern seiner eigenen Zähne war.

Obzwar draußen vor dem Fenster die Grillen zirpten und es eine laue Mittsommernacht war, lag Peter zitternd vor Kälte auf seinem Strohlager. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Ihm war speiübel und er hatte das Gefühl, als drehe er sich schnell im Kreise. Er mußte sich aufsetzen, so schwindelig war ihm. Im Sitzen ging es ein wenig besser.

»Wenn das so weiter geht, dann nimmt es noch ein böses Ende mit mir«, sprach er leise zu sich selber.

Ob dies vielleicht die Strafe dafür war, daß es den Talisman weggegeben hatte?

»Ach, Unsinn! Das ist nur eine leichte Sommergrippe!« Er legte sich wieder hin.

Am nächsten Tag mußte Peter wohl ziemlich schlecht ausgesehen haben, und sogar der stumme Kerkermeister schien Mitleid mit ihm zu haben, denn er brachte ihm frisches Stroh und zwei zusätzliche Wolldecken. Sogar eine kräftige Fleischbrühe gab es zum Essen. Aber Peter rührte kaum etwas davon an. Er hatte keinen Appetit.

Den ganzen Tage über blieb Peter liegen. Er fühlte sich matt und elend. Außerdem mußte er ständig an Alissandra denken. Bestimmt amüsierte sie sich im Augenblick prächtig, während er hier unten siechte. Zum ersten Male begann er sie richtig zu hassen. Er stellte sich in den lebhaftesten Farben vor, wie sie es sich in den Armen des Prinzregenten gut gehen ließ.

Armer Peter! Im Laufe des Tages stieg sein Fieber weiter an. Gegen Abend zitterte er am ganzen Leib, während ihm gleichzeitig der Schweiß aus allen Poren lief.

In der Nacht schlief er kaum; dafür aber träumte er um so mehr. Es waren keine richtigen Träume, sondern eher wirre, unzusammenhängende Bilder und Szenen, die durch sein Unterbewußtsein spukten.

Mehrere Male schreckte er atemlos hoch und rang keuchend nach Luft. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Eine plötzliche, unbezähmbare Angst stieg in ihm hoch. Auf einmal fühlte er, daß er bald sterben würde. Niemand würde ihm beistehen. Ganz einsam und verlassen in einem dreckigen, dunklen Loch würde er seine Seele aushauchen, und niemand würde es merken.

Das also war sein ganzes Leben gewesen! Was hatte er erreicht, was vollbracht? Vielleicht war es ja wahr, daß gewisse Menschen von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren. Vielleicht war dies eben sein Schicksal. Er hatte immer geglaubt, für etwas besonderes vorgesehen zu sein, eines Tages eine besondere Tat zu vollbringen; aber es sollte eben nicht sein.

Von den wenigen Freunden, die er im Leben hatte, war ihm nur Tamina noch geblieben. Aber auch sie war jetzt weit weg, konnte ihm nicht mehr helfen. Arme, gute Tamina! Wie enttäuscht würde sie sein, bei ihrer Rückkehr. Wenn sie jetzt doch nur hier wäre, bei ihm, an seiner Seite!

Für einen kurzen Augenblick glaubte er tatsächlich, die Türe täte sich auf und Tamina käme mit dem leuchtend blauen Kristall auf ihn zu. Aber das war nur ein Trugbild.

Ermattet sank er auf sein Lager zurück. Vor seinen verschleierten Augen tanzten formlose Schatten. Irgendwo war ein helles Licht. Es kam näher. Vielleicht war dies das Licht einer neuen, besseren Welt. Neben dem Licht tauchten zwei große unförmige Gestalten auf. Waren das die Engel, die ihn fort trugen?

Peter konnte nicht mehr klar denken. Nein! Die Gestalten waren schwarz; das waren keine Engel — eher das Gegenteil davon. Die Reise würde wohl in die entgegengesetzte Richtung gehen — wohin auch sonst?

Das waren seine letzte Gedanken, bevor Peter mit einem tiefen Seufzer das Bewußtsein verlor und ihm die Augen zufielen. Er merkte nicht mehr, wie er empor gehoben wurde und diesen schrecklichen Ort für immer verließ.

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