Orientierung
Als
Kiko die Augen aufschlug, war alles um sie herum leuchtend grün. Ihr Kopf tat höllisch
weh und in ihren Ohren summte es wie in einem Transformatorenhäuschen. Ihr war
speiübel und sie hatte das Gefühl, als würde sie sich ganz langsam im Kreise
drehen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie sich nicht bewegte,
sondern auf dem Rücken lag. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte, daß das
unheimliche grüne Leuchten von einer grünen Zeltplane über ihrem Kopf herrührte.
Sie lag in einem nicht sehr geräumigen Zelt. Sie tastete mit der Hand nach
ihrer Stirn, wo ein feuchter, zusammengefalteter Lappen lag. Benommen richtete
sie sich auf. Sogleich wurden ihre Kopfschmerzen schlimmer. Kiko biß die Zähne
zusammen und streifte die rauhe Wolldecke ab, mit der sie zugedeckt war.
Langsam
kehrte die Erinnerung wieder und sie fuhr erschrocken zusammen. Wo mochte sie
sich befinden? Offensichtlich lag sie weder in einem Krankenhaus noch in einer
Arrestzelle. Noch bevor sie sich ganz aus der decke geschält hatte, wurde die
Zeltplane zurückgeschlagen und in der Öffnung erschien Kosuke, der sie besorgt
musterte. Er wandte sich um und sprach: „He! Ryō! Die Kleine ist
aufgewacht.“
Sogleich
erschien ein zweites Gesicht. Ryō schlug die Zeltplane weit auseinander und
befestigte die Enden auf der Außenseite.
„Wie
du siehst, haben wir dich nicht an die Behörden ausgeliefert. Noch nicht“, fügte
er hinzu. „Aber dafür erwarten wir ein paar Informationen von dir.“
„Und
welche wären das?“ fragte Kiko mit rauher Stimme. In ihrem Hals steckte ein
dicker Kloß. Was sollte sie den beiden erzählen? Die Wahrheit konnte sie ihnen
unmöglich anvertrauen. Aber auf die Schnelle sich eine glaubwürdige Geschichte
auszudenken, war auch nicht so einfach; vor allem, wenn man die Ereignisse der
vergangenen Nacht in Betracht zog. Wenn es ihr aber nicht gelänge, die beiden
zu überzeugen, würde sie an die Behörden ausgeliefert werde. Das würde
zweifellos das Ende ihrer Mission bedeuten. Und das mußte sie mit allen Mitteln
verhindern.
Ryō
setzte sich vor der Öffnung des Zeltes auf den Boden. Er zog einen schweren
hell schimmernden Gegenstand aus seiner Jacke; es war Kikos Waffe.
„Zuerst
wüßte ich gerne, wer du bist und wo du herkommst“, begann er das Verhör.
„Wieso
habt ihr mich nicht gestern Nacht schon ausgeliefert?“
„Das
hast du in erster Linie der Gutmütigkeit von Kosuke zu verdanken — und meiner
Neugier. Also wie heißt du?“
„Ich
bin Kiko Tamarin. Ich bin Spezial-Agentin der Innenbehörde. Ich habe einen
Geheimauftrag zu erfüllen, über den ich nicht sprechen darf.“
„Willst
du mich verarschen? Für wie bescheuert hältst du uns eigentlich?“ rief Ryō
erbost und fuchtelte mit Kikos Waffe in der Luft herum.
„Von
welchem Planeten kommst du?“ fragte Kosuke freundlich. „Ich meine, das Ding,
was gestern im See abgestürzt ist, war doch ein Raumschiff, nicht wahr?“
„Ich
komme von keinem fremden Planeten. Ich bin wie ihr auf der Erde geboren.“
„So
so, Spezial-Agentin der Innenbehörde. Von welchem Land? Und wenn du eine
Agentin bist, dann hast du bestimmt einen Ausweis, oder so etwas“, sagte Ryō
und spielte an der Pistole herum. Kiko schüttelte den Kopf.
„Ich
hab’ keinen Ausweis. Es handelt sich schließlich um einen Geheimauftrag. Außerdem
solltest du ein bißchen vorsichtiger mit der Waffe umgehen. Das ist kein
Spielzeug.“
„Eine
Spionin also. Oder gehörst du vielleicht zu einer Terror-Organisation?“
fragte Ryō verächtlich. „Wir sollten doch die Polizei verständigen. Die
haben ihre Methoden, um Leute wie dich zum Reden zu bringen.“
„Nein,
bitte! Du verstehst nicht, was...“ Sie stand auf und mußte sich an der
Zeltstange festhalten, weil ihr so schwindelig war.
„Keinen
Schritt weiter, oder ich knall’ dich ab!“ sagte Ryō scharf und zielte
mit der Waffe auf Kikos Kopf. Sein Blick war streng und kalt.
„Mit
so einem Verbrechergesindel sollte man kurzen Prozeß machen“, sagte er voller
Verachtung.
„Mensch,
Ryō! Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich gar nicht“ sagte Kosuke
erschrocken. Kiko kniff die Augen zusammen. Aus schmalen Schlitzen blitzte sie
Ryō an.
„Du
willst mich also erschießen? Na los, versuch’ es doch!“ Sie richtete sich
auf und stelle sich herausfordern vor Ryō auf. Dieser wurde rot und ergriff
die Pistole mit beiden Händen. Kiko musterte ihn von oben bis unten.
Mit
einem verächtlichen „Hm!“ griff sie nach der Waffe und entwand sie Ryōs
zitternden Händen.
„Drohe
nie damit, jemanden umzubringen, wenn du nicht den Mumm dazu hast, es auch
wirklich zu tun“, sagte sie und ging an ihm vorüber. „Außerdem solltest du
die Waffe vorher entsichern“, fügte sie hinzu, ohne ihn eines weiteren
Blickes zu würdigen. Sie hob den Frachtbehälter auf, der neben dem Zelt stand.
An dem unversehrten Siegel konnte sie erkennen, daß die beiden nicht versucht
hatten, ihn aufzumachen. Sie ging einige Schritte, dann blieb sie noch einmal
stehen und wandte sich zu den beiden Jungen um.
„Ihr
habt mir das Leben gerettet. Dafür schulde ich euch Dank. Aber kommt mir nicht
mehr in die Quere, denn ich werde im Ernstfall nicht zögern, abzudrücken.“
Sie schulterte den Behälter und marschierte davon. Zurück blieben Kosuke, der
ihr verdutzt hinterher schaute und Ryō, der noch immer am Boden saß und
finster vor sich hin starrte.
Kiko
schlug ihr Lager im Wald auf. Trotz ihrer guten Konstitution war es ein hartes
Stück Arbeit, den Frachtbehälter mehrere Kilometer weit durch den Wald zu
schleppen. Hinzu kam, daß das Gelände ziemlich steil war. Auf einer winzigen
Lichtung unterhalb eines Felsens, fand Kiko einen geeigneten Platz zum Lagern.
Sie
durfte nicht viel Zeit verlieren. Als erstes mußte sie sich Klarheit darüber
verschaffen, wo sie sich befand und was bei ihrer Landung schief gelaufen war.
Vom Wandern noch ganz außer Atem ließ sich Kiko in das weiche Laub fallen.
Alles erstes mußte sie den Anzug ausziehen. Er war unbequem und im Inneren noch
ganz naß. Sie entledigte sich auch gleich des dünnen Overalls, den sie
darunter trug. Ein bißchen ungeschickt hing sie die nassen Sachen zum Trocknen
über Äste und Büsche. Nur in Unterwäsche herum zu sitzen machte ihr nichts
aus, denn es war Sommer und an diesem einsamen Ort würde niemand sie sehen.
Bevor
sie sich daran machte, den Inhalt des Frachtbehälters zu überprüfen, sah sie
sich gründlich um. Es war das erste Mal, daß sie ganz allein in einem
richtigen Wald war. Alle die viele Sinneseindrücke verwirrten sie. Die Farben
des laubbedeckten Bodens, das mannigfaltige Grün der Baumkronen, das Glitzern
der Sonnenstrahlen zwischen dem Blattwerk und das helle reine Blau des noch ein
wenig dunstigen Morgenhimmels hatte Kiko noch nie so nah und intensiv
wahrgenommen. Die Luft war so frisch und rein und von würzigen Düften erfüllt,
daß ihr davon fast schwindelig wurde. Andächtig lauschte sie dem Gesang der Vögel,
die unsichtbar die Bäume bevölkerten. Sie fragte sich, ob es hier wohl noch
andere Tiere gäbe: Füchse, Bären, Wölfe und Affen.
Fast
ein wenig unwillig schüttelte sie den Kopf. Wie kam sie nur auf solche absurde
Gedanken? Ein lautes Knurren ihres Bauches erinnerte sie mit einem Male daran,
daß sie seit einem Tag nichts mehr gegessen hatte. Am Tag zuvor war sie so sehr
mit den Vorbereitungen des Zeitsprunges beschäftigt gewesen, daß sie seit dem
Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte; und kurz vor dem Abschuß der
Kapsel wollte sich auch nichts mehr essen.
Kiko
stellte den Frachtbehälter aufrecht hin. Mit Hilfe eines kleinen Taschenmessers
entfernte sie die Versiegelung. Dach konnte sie die beiden Verschlüsse mittels
eines kleinen, flachen Schlüssel-Chips, den sie an einer Kette um den Hals
trug, öffnen. Der Frachtbehälter besaß in seinem Inneren mehrere
herausnehmbare Einsätze, die auf mehreren Ebenen angeordnet waren. Er enthielt
alles, was sie zur Erfüllung ihrer Mission benötigen würde. Der Inhalt war
extrem dicht gepackt. Dadurch paßte unheimlich viel hinein. Auf der anderen
Seite hatte es den Nachteil, daß es sehr schwierig war, entnommene Gegenstände
wieder hineinzupacken, da alles beinahe nahtlos wie ein Puzzle ineinander
gesteckt wurde. Daß der Behälter trotz seines Gewichtes schwimmfähig war, lag
nicht zuletzt daran, daß seine Außenhülle aus einem sehr leichten, aber
hochfesten Material bestand, welches unzählige bienenwabenartige Kammern besaß
und dadurch ein großes Luftvolumen einschloß. Durch die besonderer Art der
Konstruktion wurde der Inhalt hervorragend gegen Erschütterungen und
Temperaturunterschiede geschützt.
„Zuerst
das Wichtigste!“ sagte Kiko leise während sie den Behälter auseinander nahm
und die einzelnen Fächer in einem Halbkreis auf dem Boden ausbreitete. Das
oberste Fach enthielt einen kleinen Mikrocomputer im Notizbuch-Format. Er
enthielt alle Daten und Informationen, Landkarten, sowie spezielle Software zur
Steuerung und Bedienung weiterer Geräte, welche zur Ausrüstung gehörten. Ein
weiteres größeres Kästchen enthielt ein mobiles Laboratorium, welches an den
Computer angeschlossen werden konnte und zur chemischen und mikrobiellen Analyse
von Substanzen aller Art diente. An ihrem Handgelenk trug Kiko eine Uhr, welche
mit dem Computer kommunizieren konnte. Des weiteren waren in dem Behälter eine
Notfall-Apotheke enthalten, der Kiko ein größeres Glas mit winzigen weißen Kügelchen
entnahm. Sie pickte vorsichtig zwei der Kügelchen heraus und schluckte sie
herunter. Dann verschloß sie das Glas wieder sorgfältig und verstaute es an
seinem Platz. Den restlichen Inhalt des Frachtbehälters unterzog sie lediglich
einer kurzen Musterung, um sich zu vergewissern, daß auch alles vorhanden war.
Befriedigt stellte sie fest, daß der Inhalt und vollständig und, wie es
schien, auch unversehrt war. Als sie beim untersten Fach anlangte, flog ein
breites Grinsen über ihr Gesicht. Dieses Fach trug nämlich am meisten zum
Gewicht des Behälters bei. Es war randvoll mit dicken Bündeln großer
Banknoten. Den genauen Wert kannte Kiko auswendig: es waren zweihundert
Millionen. Da wo sie herkam, wäre das infolge der Inflation nicht viel wert
gewesen — abgesehen davon, daß diese antiken Banknoten ohnehin nicht mehr gültig
waren. Hier und jetzt aber konnte man ordentlich etwas damit anfangen. Die übrigen
Fächer enthielten Ersatzkleidung, Werkzeug und andere Utensilien, derer sie möglicherweise
benötigen könnte.
Kiko
nahm ein kleines Päckchen Geld heraus und steckte es in einen kleinen Rucksack,
der zu einem winzigen Würfel zusammengefaltet in einer Schachtel gelegen hatte.
Einmal geöffnet sprang der Rucksack wie von einer Feder getrieben heraus und
entfaltete sich zu seiner vollen Größe. Kiko staunte ein mal mehr über die
technische Raffinesse der RZA-Ausrüstung. Selbst auf dem Schwarzmarkt hätte
man derlei Dinge nicht kaufen können. Der einzige Nachteil dieses Wunderwerks
bestand aber darin, daß man ihn, einmal ausgepackt, nicht wieder zu einem Würfel
zusammenfalten konnte. Doch eigentlich suchte Kiko etwas anderes, nämlich etwas
zu essen.
Sie
fand schließlich eine Flasche mit Wasser und ein Nahrungspäckchen und eine
kleine Tafel Schokolade. Das Nahrungspäckchen war so konstruiert, daß, wenn
man an einer Lasche zog, sich der Inhalt durch eine chemische Reaktion von
selbst erhitzte. Kiko zog an der roten Lasche und knetete das in silbrige
Plastikfolie eingeschweißte Päckchen gut durch. Innerhalb weniger Augenblicke
wurde das Päckchen so heiß, daß Kiko es nicht mehr mit bloßen Händen
anfassen konnte. Es war gar nicht so einfach, die Folie aufzureißen, aber mit
Hilfe ihres Schweizer Taschenmessers gelang ihr auch das.
So
ein Messer hatte sie sich schon immer gewünscht. Sie hatte gar nicht gewußt,
daß sie überhaupt noch hergestellt wurden. Die einzigen, die sie je gesehen
hatte, waren antik und kosteten ein Vermögen. Aber dieses hier war ganz neu.
Die Griffschalen waren auf Hochglanz poliert und leuchtend blau. Auf der
Vorderseite war das Wappen der Schweiz eingelassen, auf der Rückseite das
Emblem der RZA.
Mit
Heißhunger machte Kiko sich über den Inhalt des Päckchens her. Sie hatte
diese Art der Fertignahrung schon einige Male während des Trainings gekostet
und es hatte ihr jedesmal ziemlich fade geschmeckt. Doch jetzt inmitten der
Natur und mit dem aufgestauten Hunger von einem ganzen Tag schmeckte es ihr gar
nicht schlecht. Irgend wie war es schon seltsam, etwas zu essen, was noch gar
nicht hergestellt worden war, fand sie, während sie das auf der Rückseite des
Päckchens aufgedruckte Herstellungsdatum las.
Nachdem
sie alles aufgegessen hatte, schaltete sie den Computer ein. Als erstes mußte
sie ihre Position und die Zeit bestimmen. Zum Glück gab es in dieser Zeit
bereits ein globales Positionierungssystem. So dauerte es nicht lange, bis auf
dem Bildschirm eine digitale Landkarte mit ihren exakten Koordinaten erschien.
Kiko erkannte ihren gegenwärtigen Standort an einem blinkenden roten Dreieck.
Nicht weit davon entfernt befand sich der See, wo sie letzte Nacht gelandet war.
Ungefähr zehn Kilometer entfernt zeigte ein roter Kreis den Ort ihrer
vorgesehenen Landekoordinaten an.
„Von
wegen punktgenaue Landung“, murmelte sie spöttisch. „Die Landekoordinaten
stimmen auf zehn Zentimeter genau“, hatten ihr die Ingenieure versichert.
„Na,
hoffentlich stimm wenigstens die Ankunftszeit“, sagte sie zu sich selbst, und
auf einmal überfiel sie ein dumpfes Gefühl. Was wenn die Ankunftszeit
ebenfalls falsch wäre? Kikos Finger zitterten ein bißchen, als sie den
Zeitempfänger einschaltete. Es dauerte ungefähr fünfzehn Sekunden, bis das
Gerät das Zeitsignal empfangen und die Uhr synchronisiert hatte.
8:39:05,02
war auf dem Display ihrer Armbanduhr zu lesen. Kein Datum. Lag das am Gerät
oder an dem Zeitsignal?
„Nur
keine Panik. Wir sind doch für alles ausgerüstet“, sagte sie sich. Sie
kramte in dem Frachtbehälter bis das entsprechende Gerät gefunden hatte. Es
war ein kleines tragbares Radioteleskop. Das Gerät verfügte über eine kleine
auffächerbare Parabolantenne etwa von der Größe eine Salatschüssel und war
dafür konstruiert, Radiosignale aus dem Weltall zu empfangen. Es empfing die
Signale bestimmter Sterne und berechnete daraus deren Position und die der Erde
. Aus diesen Daten ließ sich das exakte Datum, und sogar – allerdings mit
einer gewissen Ungenauigkeit, welche von der Größe und Qualität des
verwendeten Empfängers abhängig war – die Uhrzeit.
Kiko
stellte das Gerät ein und wartete voller Ungeduld darauf, daß die Anzeige des
Apparates endlich eine Zahl anzeigte. Eine präzise Messung konnte mehrere
Minuten dauern. Je genauer das Ergebnis sein sollte, desto länger würde die
Messung dauern. Kiko stellte das Gerät so ein, daß es die Zeit auf eine Stunde
anzeigen sollte.
Ihre
Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Aber nach einer guten halben Stunde
endlich lag das Ergebnis der Messung vor. Mit gemischten Gefühlen näherte Kiko
sich dem Gerät, nachdem ein akustisches Signal das Ende der Messung angezeigt
hatte. wenn sie in einer falschen Zeit gelandet war, wäre ihre Mission
gescheitert. Und damit wäre wohl auch das Schicksal der Menschheit in der
Zukunft besiegelt. Kiko wußte genau, daß die RZA nicht über die Ressourcen
verfügte, eine zweite Mission durchzuführen; zumindest nicht innerhalb der nächsten
drei bis vier Jahren.
Das
Ergebnis der Messung lautete: T2004-184,330124... Kiko fiel ein schwerer Stein
vom Herzen. Die vorausberechnete und einprogrammierte Ankunftszeit war nämlich
T2004-184,000000 gewesen. Tatsächlich war sie sogar etwas früher gelandet. Wie
es zu dieser Abweichung kommen konnte, vermochte sie nicht zu erklären, aber
die ganze Zeitsprungtechnologie war so neu, daß selbst die Wissenschaftler der
RZA nicht ganz genau wußte, was dabei wirklich geschah.
Noch
genau eine Woche bis zum Tag X. Kiko hatte also noch genug Zeit und konnte nun
in aller Ruhe ihr weiteres Vorgehen planen. Als erstes würde sie sich in die nächst
gelegene Ortschaft begeben, um ihre Ausrüstung zu ergänzen. In dem Frachtbehälter
war nur das Notwendigste für die ersten Stunden enthalten. Dank des reichlich
vorhandenen Geldes konnte sie sich alles kaufen, was sie brauchen würde. Den
Rest dürfte sie behalten und nach Belieben ausgeben. Nach Abschluß ihrer
Mission konnte sie sich eine schöne Zeit in der Vergangenheit machen.
Da
Kiko den schweren Frachtbehälter nicht mit nehmen wollte, beschloß sie, ihn
bei dem Felsen zu verstecken und ihn später, wenn sie sich ein geeignetes
Transportmittel beschafft hätte, abholen kommen. In dieser einsamen Gegend, ein
gutes stück vom nächsten Weg entfernt würde ihn so schnell niemand finden.
Sie packte alles zusammen, verschloß den Behälter sorgfältig und vergrub ihn
unter einer dicken Schicht von Laub und trockener Walderde am Fuße des Felsens.
Sie prägte sich die Stelle ein und speicherte die zur Sicherheit die genauen
Koordinaten in ihrer PC-Uhr. Auch den Schutzanzug, den sie nicht mehr brauchen würde,
vergrub sie in der Nähe. Verbrennen könnte
sie ihn ohnehin nicht, da es aus feuerfestem Material bestand. Nachdem sie sich
sorgfältig vergewissert hatte, daß von ihrem Lager keine Spuren zurückblieben,
machte sie sich auf den Weg ins nächste Dorf. Das bedeutete einen Fußmarsch
von fast zehn Kilometern, aber da Kiko in guter Form war und es fast die ganze
Strecke leicht bergab ging, hoffte sie bis Mittag im Dorfe zu sein.
Ryō
und Kosuke waren mit dem Abbrechen ihres Zeltes noch nicht fertig, als der Wagen
von Ryōs Großvater die schmale Straße heranpreschte. Mit quietschenden
Reifen kam der altersschwache Toyota zum Stehen. Ryōs Großvater stieg aus
und lief den steilen Pfad, der von der Straße zum Seeufer führte, herab.
„Gott
sei Dank! Ihr seid beide unverletzt“, rief er aufgeregt. Vom Laufen war er
ganz außer Atem und sein Kopf war ziemlich rot angelaufen. „Opa, was machst
du denn hier?“ fragt Ryō erstaunt. „Wir haben dich erst am Nachmittag
erwartet.“
„Ich
habe mir große Sorgen um euch gemacht. Als ich gestern das Feuer auf dem See
gesehen habe und die schreckliche Explosion.“
„Jetzt
beruhige dich doch wieder. Wie du siehst, sind wir beide wohlauf.“
„Die
Leute im Dorf sagen, es sei ein Meteorit abgestürzt. Doch ich sage, das war die
Strafe des Himmels!“
„Die
Strafe des Himmels? Ich bitte Sie, Herr Fujita. Wir leben im 21. Jahrhundert“,
sagte Kosuke beschwichtigend.
„Unsinn!“
brummte der Alte griesgrämig. „Was wißt ihr jungen Leute schon? Ihr sitzt
den ganzen Tag vor euren Computern und Maschinen und glaubt, die Welt zu
verstehen... Auf jeden Fall sollt ihr euch vom See fernhalten. Das Fischen und
Baden ist bis auf weiteres verboten. Sie wollen Experten aus der Stadt schicken.
Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, ist der Zutritt zum See verboten. Das
wird mächtigen Ärger geben im Dorf. Wovon sollen die Fischer leben, wenn sie
nicht auf den See rausfahren dürfen?“
„Bestimmt
werden viele Schaulustige kommen. Das ist gut für den Tourismus. Vielleicht
berichtet sogar das Fernsehen darüber...“ meinte Kosuke. Der Alte schüttelte
aber bloß mißmutig den Kopf.
Mit
Großvaters Hilfe brachen die beiden Jungen ihr Lager ab und verstauten alles im
Wagen.
„Was
sollen wie die nächsten vierzehn Tage machen, wenn wir nicht mehr zum See dürfen?“
fragte Kosuke.
„Ihr
könnt doch immer noch wandern gehen oder einen Ausflug mit dem Fahrrad
machen“, schlug der Großvater vor. „Außerdem findet nächste Woche das
Sommerfest in unserem Dorf statt.“
„Uns
wird schon nicht langweilig werden“, sagt Ryō und auf seinem Gesicht
erschien ein finsteres Lächeln. Kosuke bemerkte es, sagte aber nichts. Er
ahnte, was sein Freund vorhatte und fragte sich, wie er ihn davon abbringen könnte.
Dieses geheimnisvolle Mädchen durfte man nicht unterschätzen. Wenn man ihr in
die Quere kam, könnte das sehr unangenehm werden. Aber insgeheim war auch er
neugierig und wünschte sich, jene geheimnisvolle Kiko noch einmal
wiederzusehen.
Kiko
war noch nie in einem kleinen Dorf gewesen. Sie hatte nur das Leben in der Großstadt.
Die kleinen Häuser waren alle sauber und gepflegt. Die Gärten, die Straßen
die ganze Landschaft, alles wirkte aufgeräumt und ordentlich. Nirgends war eine
Spur von Unrat oder verfall zu sehen, obgleich die Häuser nicht neu waren.
Es
gab nur eine Handvoll Geschäfte, die alle an der Hauptstraße lagen. Hier würde
Kiko nicht alles bekommen, was sie brauchte. Aber in der nächsten größeren
Stadt, könnte sie sich bestimmt mit allem eindecken. Außerdem brauchte sie
noch eine Unterkunft. Zwar gab es im Dorf zwei Pensionen, aber die waren beide
ausgebucht. Es waren Sommerferien und der nahe gelegene See zog viele Angler und
Ausflügler an.
Auf
der Dorfstraße waren kaum Leute unterwegs. Dennoch hatte Kiko, während sie die
Straße entlang ging, das Gefühl, angestarrt zu werden. An ihrer Kleidung
konnte es nicht liegen. Sie bestand aus antiken Originalstücken. Vielleicht
fiel sie als Fremde einfach auf oder die Leute auf dem Lande waren eben ein bißchen
seltsam.
Auf
der Hauptstraße befand sich eine Bushaltestelle. Kiko erkannte sie sogleich an
dem Schild und dem winzigen Wartehäuschen. Zu ihrer Ausbildung gehörte auch
das Erkennen historischer Verkehrszeichen und Schilder. Viele Nächte Lang hatte
sie sich Videos und alte Magazine anschauen müssen, um sich mit dem Leben zu
zeit der Jahrhundertwende vertraut zu machen. Dennoch kam ihr manches fremd und
unverständlich vor.
Ein
ziemlich ausgeblichener Fahrplan unter einer schon etwas milchig gewordenen
Plexiglasscheibe war an einer Seite des Wartehäuschen angebracht. Wenn sie den
Fahrplan richtig entziffert hatte, so fuhr der Bus werktags von 6 bis 19 Uhr stündlich;
sonntags von 10 bis 18 Uhr. Abends gab es nur noch einen Bus um 21 Uhr.
Anscheinend verfügte dieser kleine Ort über eine gute öffentliche
Verkehrsverbindung, dachte Kiko und sah nach der Uhr.
Dort,
wo sie herkam, gab es kaum öffentliche Verkehrsmittel. Einige private
Unternehmungen bedienten mit klapprigen antiken Vorkriegsfahrzeigen einige
Fernverbindungen. Der Fahrpreis war hoch, und die Wahrscheinlichkeit, nicht an
seinem Bestimmungsort anzulangen, ebenfalls. Ein eigenes Automobil konnten sich
nur sehr wenige Leute leisten. Aber hier in diesem Land und zu dieser Zeit war
der Besitz eines eigenen Kraftwagens ein verbreiteter Zustand. In Kikos Augen
blitzte ein Funke auf. Sie verließ das Wartehäuschen und überquerte die die
Straße. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner Einkaufsmarkt. Sie betrat
den laden durch die gläserne Schiebetür. Angenehme Kühle umfing sie. Die Luft
war erfüllt vom Geruch frischer Lebensmittel. Aus unsichtbaren Lautsprechern
drang leise Musik und übertönte das Summen der Kühlaggregate. Kiko traute
ihren Augen kaum. Sie fühlte sich geradezu erschlagen von der Vielfalt des
Angebotes an Waren. Und dies war nur ein kleiner Dorfladen. Wie mochte es dann
erst in einem der großen Kaufhäuser in der Stadt aussehen? Kikos Hände
begannen zu kribbeln.
In
der Nähe der Tür befand sich die Kasse. Dort saß ein beinahe kahlköpfiger
Mann mittleren Alters. Er trug eine rote Schürze und ein gestreiftes Hemd. Bei
Kikos Eintreten hob er den Blick von seiner Zeitung und sagte freundlich:
„Guten Tag! Womit kann ich dienen?“
Kiko
war für einen Augenblick noch ganz überwältigt und wußte nicht, was sie
antworten sollte. „Ich — äh — weiß nicht...“
„Schauen
Sie sich ruhig um“, erwiderte der Mann freundlich. „Das hier ist zwar nur
ein bescheidener Dorfladen, aber wir führen ein reichhaltiges Sortiment Sind
Sie zu Besuch hier?.“
„Ich
bin Tourist“, sagte Kiko und betrachtete einen imposanten Turm von
Konservendosen, die zu einer mannshohen Pyramide aufeinandergestapelt waren. Sie
nahm eine der Dosen vom Stapel und betrachtete das Etikett.
„Hier,
bitte, nehmen Sie doch einen Korb“, sagte der Verkäufer während er einen grünen
Einkaufskorb nahm und ihn Kiko reichte.
„Katzenfleisch
in Dosen...“ murmelte sie leise und legte die Dose in den Korb. Langsam
schritt sie durch die Gänge und allmählich füllte sich der Einkaufskorb mit
allerlei Sachen. Derweil beobachtete sie der Verkäufer mit gerunzelter Stirn.
Diese jungen Leute aus der Stadt haben doch alle einen Knall, dachte er bei
sich.
Als
Kiko mit prall gefülltem Einkaufskorb zur Kasse kam, fragte sie plötzlich:
„Verkaufen Sie hier auch Automobile?“ Der Verkäufer starrte sie an, als wäre
sie nicht recht bei Trost — und wahrscheinlich dachte er das auch. Doch als höflicher
Geschäftsmann antwortete er indessen: „Nein, ich bedauere. Wir haben führen
die Waren, die hier im Laden stehen. Automobile gibt es in der Stadt zu kaufen.
— Wo sagten Sie kommen Sie her?“
„Na,
dann kauf’ ich mir eben dort eines“, meinte Kiko unbekümmert und zog ein Bündel
Banknoten aus der Tasche. Zum Glück läutete in diesem Augenblick das Telefon
und der Verkäufer war für einen Augenblick abgelenkt. Hätte er gesehen,
wieviel Geld Kiko bei sich trug, hätte er wahrscheinlich die Polizei verständigt.
Kiko legte einen Geldschein auf den Ladentisch; den Rest rollte sie zusammen und
verstaute ihn wieder in der Jackentasche. Der Verkäufer legte den Hörer neben
den Apparat, gab Kiko das Wechselgeld heraus und verstaute ihre Einkäufe in
zwei Plastiktaschen.
Kiko
ging zurück zur Bushaltestelle. Sie setzte sich auf die Bank im Warthäuschen
und kramte in ihren Einkaufstaschen. Unter den zahlreichen Dingen, die sie
erstanden hatte, befand sich auch ein Mangaheft. Sie schlug es auf und begann zu
lesen. Bis der nächste Bus kam, hatte sie noch über eine halbe Stunde Zeit.
Anfangs fiel ihr das Lesen ein wenig schwer, was nicht zuletzt daran lag, daß
sie viele der alten Schriftzeichen nicht kannte. Aber sie gewöhnte sich rasch
daran und war bald so sehr in die Lektüre der faszinierenden Bildergeschichten
vertieft, daß sie gar nicht merkte, wie der Bus endlich angefahren kam. Erst
als er mit zischenden Bremsen vor dem Wartehäuschen zum stehen kam, schaute sie
auf und griff hastig nach ihren Sachen.
Während
der Fahrt hatte sie jedoch keine Lust mehr zum Lesen. Vielmehr interessierte sie
die vorüberziehende Landschaft. Der Anblick der grünen Hügel und dichten Wälder
erinnerte sie an ihre Fahrt aus der Stadt ins Ausbildungszentrum der RZA. Sie
war mit dem elektrischen Zug gefahren, der einmal in der Woche die Stadt verließ...
Es
war gar nicht so einfach gewesen, überhaupt zum Bahnhof zu gelangen. Der
Bahnhof der „Goldenen Linie“, wie man den elektrischen Zug nannte, befand
sich, von Kikos Wohnung betrachtet, am anderen Ende der Stadt, dort, wo der
Sperrbezirk begann und die Wohnungen der Funktionäre und Reichen lagen. Kiko
trug ihre wenigen Habseligkeiten in einer großen Umhängetasche. Ihre beiden
wertvollsten Besitztümer aber trug sie in der Innentasche ihrer Jacke: die
Einladung zum Auswahltraining auf der RZA-Akademie und die Fahrkarte für die
„Goldene Linie“. Die Fahrkarte bestand aus dickem glänzendem Papier. Sie
schimmerte hellblau und der Name und das Wappen der staatlichen Eisenbahnen war
in Gold aufgedruckt. Die Buchstaben waren nicht nur aufgedruckt, sondern richtig
in das Papier eingeprägt, so daß man sie deutlich fühlen konnte, wen
man mit den Fingern darüber strich. Unter dem Reiseziel stand in etwas
blasseren Lettern ein vom Computer aufgedruckter Zahlencode und ihr Name. Das
war Kikos Fahrschein und nur sie allein durfte damit in dem goldenen Zug bis zur
Endstation nach Star City fahren. So hieß der Ort, wo sich die RZA-Akademie,
das Trainingszentrum und die Forschungslaboratorien befanden. Dort lebten und
arbeiteten über fünftausend Menschen in einem hermetisch von der Außenwelt
abgeschirmten Gebiet. Die Stadt und sämtliche weitläufigen Testgelände in
deren Umfeld waren Sperrgebiet. Nur Funktionäre und Angestellte mit
Sonderausweis durften hinein. Für Reisende nach Star City waren die beiden
ersten Wagen des Zuges reserviert. Für die anderen Passagiere endete die Fahrt
spätestens eine Station vorher in Star Village. Hier befanden sich
Zulieferbetriebe für die RZA, so wie einige Farmen und landwirtschaftliche
Betriebe. Star Village war von der Einwohnerzahl vielleicht sogar noch größer
als Star City.
Da
Kiko kein Geld für eine Fahrt in einem der unerschwinglich teuren Taxis hatte,
mußte sie sich auf einen langen Fußmarsch quer durch die Stadt zum Nordbahnhof
einstellen. Daher war sie schon vor Sonnenaufgang aufgestanden, hatte ihre beste
Uniform angezogen; genauer gesagt, die weniger abgenutzte von den beiden, die
sie besaß. Bevor sie sich zum Frühstück hinsetzte, hatte sie sich wohl zum
zehnten Male vergewissert, daß sie die Einladung, die Fahrkarte und ihren
Ausweis eingesteckt hatte.
Als
es endlich an der Zeit war, aufzubrechen, warf sie noch einmal einen Blick auf
das Kalenderblatt über ihrem Bett. Sie hatte sich überlegt, es mitzunehmen,
denn wenn sie die letzte Aufnahme-Prüfung für das Kibou-Projekt bestehen
sollte, würde sie nicht mehr hier her zurückkehren, sondern in Star City
einquartiert werden. Doch dann entschloß sie sich doch, es hier zurück zu
lassen, als ein Relikt ihres alten Lebens. Und vielleicht würde sich ja der nächste
Bewohner des Zimmers daran erfreuen.
Die
ganze Nacht hindurch hatte es in Strömen geregnet. Als Kiko auf die Straße
hinaus trat, hatte der Regen gerade aufgehört. Von den Dächern troff noch das
Wasser plätschernd auf den Asphalt; in den Straßenrändern floß noch ein
Rinnsal und verschwand gurgelnd im Gully. Alles glänzte naß und in der Luft
hing der erdige Geruch von nassem Beton, vermischt mit dem allgegenwärtigen
morbiden Gestank einer sterbenden Stadt. Zu dieser Zeit und in diesem Viertel
wagte sich kein vernünftiger Mensch allein auf die Straße, erst recht keine
Frau. Kiko jedoch vertraute darauf, daß ihr ihre Uniform einen gewissen Schutz
gewähren würde, und außerdem verstand sie sich darauf, sie ihrer Haut zu
erwehren. Mit der Eisenstange, die von ihrem Gürtel hing, hatte sie in den
vergangenen anderthalb Jahren gut umzugehen gelernt. So lange arbeitete sie
schon bei der Sicherheitswache der Hafenbehörde, welcher dieses Stadtviertel
unterstellt war. Leider hatte man sie vor drei Monaten gefeuert. Erst dadurch
war sie in ihre prekäre Lage geraten. Hätte sie den Job bei der Hafenbehörde
nicht verloren, hätte sie vielleicht die Bewerbung bei der RZA nie abgeschickt,
obwohl sie schon von klein auf davon geträumt hatte zur RZA zu gehen.
Der
Schulterriemen ihrer Umhängetasche drückte unangenehm und so hoffte Kiko, daß
sie vielleicht nicht den ganzen Weg bis zum Bahnhof zu Fuß zurücklegen müßte.
Sie hatte Glück: für ein geringes Entgelt konnte sie auf einem leeren LkW
mitfahren, der seine Ladung am nahe gelegenen Großmarkt abgeladen hatte. Der
Fahrer nutzte die Leerfahrt, um sich als illegales Taxi ein kleines
Zusatzeinkommen zu verdienen. Als Angehörige der Sicherheitswache hätte Kiko
ihn anzeigen müssen. Doch zum einen war sie nicht mehr im Dienst und zum
anderen nutzten nicht wenige ihrer Kollegen ebenfalls dieses billige
Transportmittel. Immerhin brauchte sie dank ihrer Uniform nur den halben
Fahrpreis entrichten.
Kiko
kauerte sich auf der zugigen Ladefläche zusammen und schlug den Kragen ihrer
Jacke hoch. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und sah zum
wolkenverhangenen Himmel hoch, der sich im Osten allmählich orange zu verfärben
begann. Bald würde die Sonne aufgehen, über einer Stadt, für die auch im
Sommer nie die sonne schien.
Der
LkW fuhr nicht bis zum Nordbahnhof, aber er brachte sie weit genug in dessen Nähe,
daß Kiko den Rest des Weges in einer guten halben Stunde zu Fuß zurücklegen
konnte. Das Stadtviertel, in dem sie sich jetzt befand, war früher, vor langer
Zeit, einmal die City gewesen. Hohe schwarze Wolkenkratzer mit leeren Fenstern
ragten in den grau-blauen Himmel. Auf den Straßen gingen Menschen, Fahrzeuge
fuhren nur vereinzelt vorbei. Die meisten davon waren LkW oder Militärtransporter.
Wer hier etwas zu erledigen hatte, war kein Geschäftsmann, Spaziergänger, Einkäufer
oder Tourist. Die Menschen versuchten diese Gegend so schnell wie möglich zu
durchqueren. Keiner hielt sich länger auf als notwendig. Dieser Teil der Stadt
war tot, vor langer Zeit schon gestorben; lange vor Kikos Geburt. Die hoch
aufragenden Gebäude waren Ruinen, aus einer längst vergangenen, besseren
Epoche. Sie sollten den Bewohnern der Stadt ein Ansporn sein, doch in ihren
Herzen war längst alle Hoffnung erstorben. Resignation und Verzweiflung
beherrschen ihre Sinne.
Kiko
betrachtete jene leeren, halb verfallenen Gebäude, welche sie schon so oft aus
der Ferne gesehen, aber noch nie so eingehend aus der Nähe studiert hatte, ganz
genau. Sie ahnte noch nicht, daß es bald ihn ihrer Macht stehen würde, dafür
zu sorgen, daß diese Gebäude eines Tages wieder zu neuem Leben erwachen
sollten.
Der
Bahnhof der „Goldenen Linie“ lag am anderen Ufer des Flusses, der die Stadt
in zwei Hälften teilte, bevor er sich nur ein paar Kilometer weiter in drei
Arme verzweigend in den Ozean mündete. Es gab nur noch zwei intakte Brücken,
die den Fluß überspannten. Sie verbanden den südlichen, etwas größeren, mit
dem nördlichen Teil der Stadt. In Norden befanden sich neben den
herrschaftlichen Wohngebieten auch fast sämtliche Regierungs- und
Verwaltungsbehörden. Um die Brücke passieren zu können, brauchte man eine
Genehmigung. Es gab zwei Posten, an jedem Ende der Brücke einen. Zu dieser frühen
Stunde war noch kaum Verkehr, so daß Kiko nicht lange am Checkpoint anstehen mußte.
Während sie an dem Kontrollposten wartete, wanderte ihr Blick über die
zahlreichen Lastkähne, die auf dem Fluß verkehrten. Der Schiffsverkehr hatte
in den letzten Jahren wieder stark zugenommen, was vor
allem auf die Tatsache zurückzuführen war, daß nach der Wiedereröffnung
des Seehafens der größte Teil der Handels- und Versorgungsgüter auf dem
Wasserwege ins Hinterland befördert wurde. Es gab sogar wieder eine
Personenschiffahrt, welche über die „Weiße Linie“ betrieben wurde. Sie
bestand zur Zeit aus zwei großen altmodischen Flußdampfern, welche zwei Mal im
Monat am Kai unweit der unteren Brücke anlegten. Gerade lag eines der prächtigen
schneeweißen Schiffe an der Anlegestelle. Kiko fragte sich, wo es wohl
hinfahren würde, und wer zu seinen glücklichen Fahrgästen gehören mochte.
Angeblich konnte man damit bis zu den großen Seen im Norden fahren. Aber Kiko
mochte das gar nicht glauben.
Nachdem
die Formalitäten erledigt und ihre Papiere kontrolliert worden waren, durfte
sie den Kontrollposten endlich passieren und Kiko betrat zum ersten Male die Brücke.
Die Brücke war riesig. Sie verfügte über zwei breite Fahrspuren in jeder
Richtung. In der Mitte befand sich ein Eisenbahngeleise, dessen Schienen
allerdings teilweise herausgerissen worden waren. Die verbliebenen schienen
waren verrostet und verbogen. Hier war schon lange kein Zug mehr gefahren. Aber
in der alten Zeit vor dem Krieg war hier eine Stadtbahn verkehrt, welche die
beiden Stadtteile verband. Es war sogar eine elektrische Bahn gewesen, denn in
regelmäßigen Abständen standen Leitungsmasten entlang der Geleise.
In
der Mitte der Brücke angelangt, blieb Kiko einen Moment stehen. Das war zwar
verboten, aber solange keine Patrouille in sicht war, konnte sie es riskieren.
Im Osten, wo der Himmel von der aufgehenden Sonne blutrot gefärbt war, konnte
sie gerade noch in der Biegung des Flusses die zweite Brücke erkennen, die sich
als schmutziggraues Band von einem Ufer zum anderen spannte. Sie war kaum
auszumachen, denn sie verschmolz mit dem grauen Hintergrund der Stadt. Im Westen
sah man die Überreste einer weiteren Brücke. Es waren zwei hoch aufragende
Tragepfeiler, an deren Seiten noch Reste der Fahrbahn hingen. Die Trümmer,
welche in den Fluß gestürzt waren, hatte man bereits vor einigen Jahren
beseitigt als der Seehafen wieder eröffnet und der Fluß wieder schiffbar
gemacht worden war. Irgendwo weiter hinten, mündete der Fluß ins Meer. Kiko
hatte das Meer erst einmal gesehen, obwohl es nur zwanzig Kilometer von der
Stadt entfern lag. Sie hatte es als eine ölige, stinkende Kloake in Erinnerung;
und dennoch jenseits des dreckigen Strandes und der ölverkrusteten Felsen besaß
jene unendlich große, wogende, lebendige Wasserfläche etwas unbeschreiblich
anziehendes. Vielleicht war deshalb das alte Kalenderblatt an der Wand in ihrem
Zimmer ihr Lieblingsbild gewesen.
Von
hinten näherte sich ein Wagen in rasender Fahrt. Mit quietschenden Bremsen kam
er neben Kiko zum Stehen. Das Geräusch riß sie jäh aus ihren Träumen. Eine
barsche Stimme bellte sie an: „He! Weitergehen! Es ist verboten, auf der Brücke
stehen zu bleiben!“ Warum eigentlich, fragte sich Kiko und ging weiter. Der
Wagen fuhr an und brauste mit röhrendem Motor davon. Zurück bleib nur eine
graue Wolke übel riechender Abgase, die sich nur langsam verflüchtigte.
Nachdem
Kiko zwei weitere Kontrollposten passiert hatte, langte sie schließlich am
Nordbahnhof an.
Dieser
Bahnhof war etwas besonderes. Obwohl er im Krieg mehrmals bombardiert und
beinahe vollständig zerstört worden war, hatte man ihn immer wieder aufgebaut.
Er war das Symbol einer beinahe vergessenen Hoffnung auf bessere Zeiten; ein
Mahnmal aus der Vergangenheit und eine Verpflichtung an die Zukunft. Hier fuhren
seit drei Jahren wieder Züge, nachdem in langer, mühevoller und kostspieliger,
Arbeit nicht nur das historische Bahnhofsgebäude, sondern die ganze
Schienenstrecke wieder hergestellt worden war. In der Anfangszeit hatte es
heftige Proteste gegen den Wiederaufbau gegeben., welche zuweilen sogar in
blutige Tumulte ausarteten. Aber nach und nach war der Widerstand gegen das
ehrgeizige Vorhaben erlahmt und endlich galt die „Goldene Linie“ als ein
Zeichen der Hoffnung und des Neubeginns.
Kiko
stellte ihre Reisetasche ab und betrachtete das kolossale Bauwerk von der Mitte
des Bahnhofplatzes aus. Wenn sie einen Fotoapparat besessen hätte, hätte sie
wahrscheinlich eine Aufnahme gemacht, so wie einige der anderen Reisenden auf
dem Platz. Aber auch ohne Erinnerungsfoto war sie sich sicher, diesen Eindruck für
immer in ihrem Gedächtnis zu bewahren.
Das
Hauptgebäude war ungefähr dreihundert Meter lang. In der Mitte befand sich die
hoch aufragende Halle, die von einem spitzen Turm gekrönt wurde. Zuoberst an
dem Turm befand sich eine weithin sichtbare Uhr mit einem Zifferblatt aus
vergoldeten Ziffern und ebenso vergoldeten Zeigern. Nachts wurde die Uhr
beleuchtet, so daß sie fast wie ein Leuchtturm wirkte. Der Turm war nicht sehr
hoch, wie das bei alten Gebäuden üblich war und so konnte Kiko ihn von ihrer
Wohnung aus nicht sehen, aber dennoch überragte er alle Gebäude in einem
weiten Umkreis. Das Bahnhofsgebäude strahlte in einem hellen Weiß, wie Kiko es
noch nie an einem Gebäude gesehen hatte. Es war das weißeste Gebäude in der
ganzen Stadt. Wie mochte es wohl im Inneren aussehen? Sie konnte es kaum
erwarten, die große Halle zu betreten. Bevor es aber so weit war, mußte sie
sich erneut einer gründlichen Ausweis- und Taschenkontrolle am Posten vor dem
Haupteingang unterziehen.
Als
dies endlich geschehen war, befahl der Beamte ihr, die linke Hand vorzustrecken.
Kiko gehorchte überrascht. Noch bevor sie realisierte, was der Mann eigentlich
von ihr wollte, wurde ihre Hand in einer Art Zange mit breiten Backen
eingeklemmt. Eine dünne Nadel bohrte sich in ihre Handfläche.
„Au!
Was soll das?“ rief sie empört. Doch der Beamte lachte und meinte bloß:
„Du benutzt wohl zum ersten Mal den Bahnhof, was? Das ist nur die übliche
Gesundheitskontrolle.“
Die
„Zange“ war über ein Spiralkabel mit einem Computer verbunden. Nach einigen
Sekunden erschien eine farbige Grafik auf dem Schirm.
„Alles
in Ordnung. Du darfst passieren!“ sagte der Mann. Er stempelte Kikos Ausweis
ab und händigte ihn ihr zusammen mit einem grünen Passierschein aus.
„Ich
wußte gar nicht, daß es solche Geräte überhaupt gibt“, brummte sie und
trat durch das hohe Eingangsportal in die große Halle.
Die
Bahnhofshalle war nichts als ein riesiger leerer Raum. In der Mitte befanden
sich zwei Fahrkartenschalter. Auf der rechten Seite stand ein Kiosk, wo man sich
für Unsummen mit Proviant und Getränken eindecken konnte. Natürlich gab es
auch Zeitungen; sogar fünf verschiedene. Als Kiko einen Blick auf die
Preisliste warf, verging ihr schlagartig der Appetit auf einen Imbiß. Die
dreieinhalb Stunden Fahrt würde sie auch ohne Verpflegung überstehen. Doch
wenn sie die Stelle als Spezial-Agentin bei der RZA bekommen sollte, könnte sie
sich alle kostbaren Leckereien leisten, die hier feilgeboten wurden.
Wo
befand sich nun der goldene Zug? Kiko sah sich um. Irgendwie hatte sie sich
vorgestellt, daß der Zug mitten in der großen Halle stehen würde. Durch ein
großes Schild mit der Aufschrift Zu den Zügen
in dicken schwarzen Lettern wurde sie dahingehend belehrt, daß der Zug hinter
der Halle abfuhr. Bis zur Abfahrt hatte sie noch über eine Stunde Zeit. Außer
ihr warteten nur fünf oder sechs andere reisende in der Halle. Doch bestimmt würden
es noch mehr werden.
Kiko
hatte keine Lust, eine ganze Stunde in der leeren Bahnhofshalle herum zu sitzen.
Sie trat durch die Tür nach draußen auf den Bahnsteig hinter der Halle. Hinter
der Bahnhofshalle hatte sich früher einmal eine große eiserne Halle befunden,
welche die zwanzig Geleise des alten Bahnhofes mit einem gewölbten Dach aus
Stahlträgern und Glasplatten überspannte. Jetzt waren davon nur noch einige
bis auf halbe Höhe aufragende Stahlträger übrig, welche einst das mächtige
Bogendach trugen. Die Konstruktion aus Stahl und Glas war nicht wieder aufgebaut
worden. Auch waren von den einst zwanzig Geleisen nur deren drei wieder
hergestellt. Auf dem ersten stand der goldene Zug. Er bestand aus fünf Wagen,
deren Seitenwände in einem goldgelben Farbton lackiert waren. Daher rührte der
Name des Zuges. Die Wagen waren zwar alt, aber frisch restauriert und in
neuwertigem Zustand. Ebenso die elektrische Lokomotive, welche mindestens fünfzig
Jahre alt war. Ehrfürchtig stand Kiko vor der gewaltigen Maschine, aus deren
Inneren ein unheimliches Summen drang. Es war, als könne man die gewaltige
Kraft, die in der Maschine steckte, körperlich spüren. Kiko, die noch nie eine
Lokomotive aus der Nähe gesehen hatte und noch nie mit der Eisenbahn gefahren
war, spürte ein gewisses Unbehangen vor diesem monströsen Fahrzeug. Dennoch
freute sie sich auf die Fahrt in dem Zug...
Der
Manga rutschte von Kikos Schoß und fiel auf den Boden. Sie hob ihn auf und
verstaute ihn in einer der beiden Einkaufstaschen. Während sie in Gedanken
versunken war, hatte der Bus bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Die
hügelige Landschaft wurde ein wenig flacher, nicht sehr, aber doch so, daß
sich der Horizont zu weiten begann und den Blick auf entferntere Gegenden
freigab. Fasziniert beobachtete
Kiko den Wechsel der Landschaften. Auf einmal wurde es stockfinster. Zuerst
erschrak sie, aber rasch wurde ihr bewußt, daß sie durch einen Tunnel fuhren.
Bereits nach wenigen Sekunden wurde es wieder hell. Von der kurvenreichen Straße
aus konnte sie auf ein breites Tal mit einem grünlich glitzernden Fluß hinab
schauen. Nicht weit vom Fluß entfernt erstreckte sich eine weitläufige, eingezäunte
Industrieanlage. An den beiden hohen charakteristisch geformten Kühltürmen
erkannte sie, daß es sich um ein Kraftwerk handelte. Die dicke Dampffahne,
welche von einem der beiden Türme aufstieg und sich mit den tief hängenden
Wolken am Himmel vermischte, zeigte daß das Kraftwerk in Betrieb war. Ein
Schauder befiel sie bei dem Anblick. Sie hatte erst einmal ein Kernkraftwerk
gesehen; genauer gesagt, was davon noch übrig war, nachdem zwei der Reaktoren
geschmolzen und explodiert waren. Auch damals hatte sie in einem Bus gesessen.
Die Fahrt ging von Star City nach dem ehemaligen Raketenzentrum in der Wüste.
Die Gegend war bei dem Unfall stark verseucht worden. Während des Krieges hatte
man hier Raketen getestet. Jetzt wurde das Gelände wegen seiner teilweise noch
intakten Infrastruktur und wegen seiner Abgeschiedenheit als Startplatz für die
Zeitkapseln genutzt. Die beiden noch funktionstüchtigen Reaktorblöcke des
Kraftwerkes 29 wurden wieder in Betrieb genommen, um die ungeheure Menge an
Energie, welche für die Zeitsprünge benötigt wurde, bereit zu stellen.
Wahrscheinlich ging man davon aus, daß, wenn es zu einem Unglück käme und das
Kraftwerk durch Überlastung beschädigt würde, kein großer Schaden mehr
entstehen könne, da die Gegend bereits vor Jahrzehnten evakuiert worden, und
seitdem menschenleer war. Das Sperrgebiet umfaßte einen Radius von einhundert
Kilometern um das Kraftwerk. Auch am Rande des Sperrgebietes lebten kaum noch
Menschen. Die Gebäude auf dem Testgelände seien ausreichend gegen Strahlung
abgeschirmt, hatte man Kiko versichert. Die meisten neuen Anlagen wurden zudem
unterirdisch angelegt. Darüber hinaus würde sich die Strahlung erst bei lange
dauernder Exposition auswirken. Diesen Beteuerungen mochte sie zwar keinen
rechten Glauben schenken; im Grunde aber war es ihr gleich gewesen. Die
Aussicht, daß der Zeitsprung gelänge, war nicht besonders groß. Die
Wahrscheinlichkeit, zusammen mit der Zeitkapsel in seine Atome zerlegt zu
werden, war indes um einiges größer, als an der Strahlung Schaden zu nehmen.
Der
Tag, an dem Kiko die Startrampe zum ersten Mal besichtigen durfte, lag erst drei
Monate zurück, doch es kam ihr vor, als wäre inzwischen ein halbes Leben
verstrichen.
Kiko
wandte den Blick von der Kraftwerksanlage ab. Sie sah auf die Uhr. In einer
knappen Viertelstunde würde sie in der Stadt ankommen. Zwei Dinge hatte sie
sich für diesen Tag noch vorgenommen: eine Unterkunft zu finden, und ein
Automobil zu kaufen.
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*
*
(wird fortgesetzt...)
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