Drittes Kapitel

Orientierung

 

   

Als Kiko die Augen aufschlug, war alles um sie herum leuchtend grün. Ihr Kopf tat höllisch weh und in ihren Ohren summte es wie in einem Transformatorenhäuschen. Ihr war speiübel und sie hatte das Gefühl, als würde sie sich ganz langsam im Kreise drehen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie sich nicht bewegte, sondern auf dem Rücken lag. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte, daß das unheimliche grüne Leuchten von einer grünen Zeltplane über ihrem Kopf herrührte. Sie lag in einem nicht sehr geräumigen Zelt. Sie tastete mit der Hand nach ihrer Stirn, wo ein feuchter, zusammengefalteter Lappen lag. Benommen richtete sie sich auf. Sogleich wurden ihre Kopfschmerzen schlimmer. Kiko biß die Zähne zusammen und streifte die rauhe Wolldecke ab, mit der sie zugedeckt war.

Langsam kehrte die Erinnerung wieder und sie fuhr erschrocken zusammen. Wo mochte sie sich befinden? Offensichtlich lag sie weder in einem Krankenhaus noch in einer Arrestzelle. Noch bevor sie sich ganz aus der decke geschält hatte, wurde die Zeltplane zurückgeschlagen und in der Öffnung erschien Kosuke, der sie besorgt musterte. Er wandte sich um und sprach: „He! Ryō! Die Kleine ist aufgewacht.“

Sogleich erschien ein zweites Gesicht. Ryō schlug die Zeltplane weit auseinander und befestigte die Enden auf der Außenseite.

„Wie du siehst, haben wir dich nicht an die Behörden ausgeliefert. Noch nicht“, fügte er hinzu. „Aber dafür erwarten wir ein paar Informationen von dir.“

„Und welche wären das?“ fragte Kiko mit rauher Stimme. In ihrem Hals steckte ein dicker Kloß. Was sollte sie den beiden erzählen? Die Wahrheit konnte sie ihnen unmöglich anvertrauen. Aber auf die Schnelle sich eine glaubwürdige Geschichte auszudenken, war auch nicht so einfach; vor allem, wenn man die Ereignisse der vergangenen Nacht in Betracht zog. Wenn es ihr aber nicht gelänge, die beiden zu überzeugen, würde sie an die Behörden ausgeliefert werde. Das würde zweifellos das Ende ihrer Mission bedeuten. Und das mußte sie mit allen Mitteln verhindern.

Ryō setzte sich vor der Öffnung des Zeltes auf den Boden. Er zog einen schweren hell schimmernden Gegenstand aus seiner Jacke; es war Kikos Waffe.

„Zuerst wüßte ich gerne, wer du bist und wo du herkommst“, begann er das Verhör.

„Wieso habt ihr mich nicht gestern Nacht schon ausgeliefert?“

„Das hast du in erster Linie der Gutmütigkeit von Kosuke zu verdanken — und meiner Neugier. Also wie heißt du?“

„Ich bin Kiko Tamarin. Ich bin Spezial-Agentin der Innenbehörde. Ich habe einen Geheimauftrag zu erfüllen, über den ich nicht sprechen darf.“

„Willst du mich verarschen? Für wie bescheuert hältst du uns eigentlich?“ rief Ryō erbost und fuchtelte mit Kikos Waffe in der Luft herum.

„Von welchem Planeten kommst du?“ fragte Kosuke freundlich. „Ich meine, das Ding, was gestern im See abgestürzt ist, war doch ein Raumschiff, nicht wahr?“

„Ich komme von keinem fremden Planeten. Ich bin wie ihr auf der Erde geboren.“

„So so, Spezial-Agentin der Innenbehörde. Von welchem Land? Und wenn du eine Agentin bist, dann hast du bestimmt einen Ausweis, oder so etwas“, sagte Ryō und spielte an der Pistole herum. Kiko schüttelte den Kopf.

„Ich hab’ keinen Ausweis. Es handelt sich schließlich um einen Geheimauftrag. Außerdem solltest du ein bißchen vorsichtiger mit der Waffe umgehen. Das ist kein Spielzeug.“

„Eine Spionin also. Oder gehörst du vielleicht zu einer Terror-Organisation?“ fragte Ryō verächtlich. „Wir sollten doch die Polizei verständigen. Die haben ihre Methoden, um Leute wie dich zum Reden zu bringen.“

„Nein, bitte! Du verstehst nicht, was...“ Sie stand auf und mußte sich an der Zeltstange festhalten, weil ihr so schwindelig war.

„Keinen Schritt weiter, oder ich knall’ dich ab!“ sagte Ryō scharf und zielte mit der Waffe auf Kikos Kopf. Sein Blick war streng und kalt.

„Mit so einem Verbrechergesindel sollte man kurzen Prozeß machen“, sagte er voller Verachtung.

„Mensch, Ryō! Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich gar nicht“ sagte Kosuke erschrocken. Kiko kniff die Augen zusammen. Aus schmalen Schlitzen blitzte sie Ryō an.

„Du willst mich also erschießen? Na los, versuch’ es doch!“ Sie richtete sich auf und stelle sich herausfordern vor Ryō auf. Dieser wurde rot und ergriff die Pistole mit beiden Händen. Kiko musterte ihn von oben bis unten.

Mit einem verächtlichen „Hm!“ griff sie nach der Waffe und entwand sie Ryōs zitternden Händen.

„Drohe nie damit, jemanden umzubringen, wenn du nicht den Mumm dazu hast, es auch wirklich zu tun“, sagte sie und ging an ihm vorüber. „Außerdem solltest du die Waffe vorher entsichern“, fügte sie hinzu, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie hob den Frachtbehälter auf, der neben dem Zelt stand. An dem unversehrten Siegel konnte sie erkennen, daß die beiden nicht versucht hatten, ihn aufzumachen. Sie ging einige Schritte, dann blieb sie noch einmal stehen und wandte sich zu den beiden Jungen um.

„Ihr habt mir das Leben gerettet. Dafür schulde ich euch Dank. Aber kommt mir nicht mehr in die Quere, denn ich werde im Ernstfall nicht zögern, abzudrücken.“ Sie schulterte den Behälter und marschierte davon. Zurück blieben Kosuke, der ihr verdutzt hinterher schaute und Ryō, der noch immer am Boden saß und finster vor sich hin starrte.

 

Kiko schlug ihr Lager im Wald auf. Trotz ihrer guten Konstitution war es ein hartes Stück Arbeit, den Frachtbehälter mehrere Kilometer weit durch den Wald zu schleppen. Hinzu kam, daß das Gelände ziemlich steil war. Auf einer winzigen Lichtung unterhalb eines Felsens, fand Kiko einen geeigneten Platz zum Lagern.

Sie durfte nicht viel Zeit verlieren. Als erstes mußte sie sich Klarheit darüber verschaffen, wo sie sich befand und was bei ihrer Landung schief gelaufen war. Vom Wandern noch ganz außer Atem ließ sich Kiko in das weiche Laub fallen. Alles erstes mußte sie den Anzug ausziehen. Er war unbequem und im Inneren noch ganz naß. Sie entledigte sich auch gleich des dünnen Overalls, den sie darunter trug. Ein bißchen ungeschickt hing sie die nassen Sachen zum Trocknen über Äste und Büsche. Nur in Unterwäsche herum zu sitzen machte ihr nichts aus, denn es war Sommer und an diesem einsamen Ort würde niemand sie sehen.

Bevor sie sich daran machte, den Inhalt des Frachtbehälters zu überprüfen, sah sie sich gründlich um. Es war das erste Mal, daß sie ganz allein in einem richtigen Wald war. Alle die viele Sinneseindrücke verwirrten sie. Die Farben des laubbedeckten Bodens, das mannigfaltige Grün der Baumkronen, das Glitzern der Sonnenstrahlen zwischen dem Blattwerk und das helle reine Blau des noch ein wenig dunstigen Morgenhimmels hatte Kiko noch nie so nah und intensiv wahrgenommen. Die Luft war so frisch und rein und von würzigen Düften erfüllt, daß ihr davon fast schwindelig wurde. Andächtig lauschte sie dem Gesang der Vögel, die unsichtbar die Bäume bevölkerten. Sie fragte sich, ob es hier wohl noch andere Tiere gäbe: Füchse, Bären, Wölfe und Affen.

Fast ein wenig unwillig schüttelte sie den Kopf. Wie kam sie nur auf solche absurde Gedanken? Ein lautes Knurren ihres Bauches erinnerte sie mit einem Male daran, daß sie seit einem Tag nichts mehr gegessen hatte. Am Tag zuvor war sie so sehr mit den Vorbereitungen des Zeitsprunges beschäftigt gewesen, daß sie seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte; und kurz vor dem Abschuß der Kapsel wollte sich auch nichts mehr essen.

Kiko stellte den Frachtbehälter aufrecht hin. Mit Hilfe eines kleinen Taschenmessers entfernte sie die Versiegelung. Dach konnte sie die beiden Verschlüsse mittels eines kleinen, flachen Schlüssel-Chips, den sie an einer Kette um den Hals trug, öffnen. Der Frachtbehälter besaß in seinem Inneren mehrere herausnehmbare Einsätze, die auf mehreren Ebenen angeordnet waren. Er enthielt alles, was sie zur Erfüllung ihrer Mission benötigen würde. Der Inhalt war extrem dicht gepackt. Dadurch paßte unheimlich viel hinein. Auf der anderen Seite hatte es den Nachteil, daß es sehr schwierig war, entnommene Gegenstände wieder hineinzupacken, da alles beinahe nahtlos wie ein Puzzle ineinander gesteckt wurde. Daß der Behälter trotz seines Gewichtes schwimmfähig war, lag nicht zuletzt daran, daß seine Außenhülle aus einem sehr leichten, aber hochfesten Material bestand, welches unzählige bienenwabenartige Kammern besaß und dadurch ein großes Luftvolumen einschloß. Durch die besonderer Art der Konstruktion wurde der Inhalt hervorragend gegen Erschütterungen und Temperaturunterschiede geschützt.

„Zuerst das Wichtigste!“ sagte Kiko leise während sie den Behälter auseinander nahm und die einzelnen Fächer in einem Halbkreis auf dem Boden ausbreitete. Das oberste Fach enthielt einen kleinen Mikrocomputer im Notizbuch-Format. Er enthielt alle Daten und Informationen, Landkarten, sowie spezielle Software zur Steuerung und Bedienung weiterer Geräte, welche zur Ausrüstung gehörten. Ein weiteres größeres Kästchen enthielt ein mobiles Laboratorium, welches an den Computer angeschlossen werden konnte und zur chemischen und mikrobiellen Analyse von Substanzen aller Art diente. An ihrem Handgelenk trug Kiko eine Uhr, welche mit dem Computer kommunizieren konnte. Des weiteren waren in dem Behälter eine Notfall-Apotheke enthalten, der Kiko ein größeres Glas mit winzigen weißen Kügelchen entnahm. Sie pickte vorsichtig zwei der Kügelchen heraus und schluckte sie herunter. Dann verschloß sie das Glas wieder sorgfältig und verstaute es an seinem Platz. Den restlichen Inhalt des Frachtbehälters unterzog sie lediglich einer kurzen Musterung, um sich zu vergewissern, daß auch alles vorhanden war. Befriedigt stellte sie fest, daß der Inhalt und vollständig und, wie es schien, auch unversehrt war. Als sie beim untersten Fach anlangte, flog ein breites Grinsen über ihr Gesicht. Dieses Fach trug nämlich am meisten zum Gewicht des Behälters bei. Es war randvoll mit dicken Bündeln großer Banknoten. Den genauen Wert kannte Kiko auswendig: es waren zweihundert Millionen. Da wo sie herkam, wäre das infolge der Inflation nicht viel wert gewesen — abgesehen davon, daß diese antiken Banknoten ohnehin nicht mehr gültig waren. Hier und jetzt aber konnte man ordentlich etwas damit anfangen. Die übrigen Fächer enthielten Ersatzkleidung, Werkzeug und andere Utensilien, derer sie möglicherweise benötigen könnte.

Kiko nahm ein kleines Päckchen Geld heraus und steckte es in einen kleinen Rucksack, der zu einem winzigen Würfel zusammengefaltet in einer Schachtel gelegen hatte. Einmal geöffnet sprang der Rucksack wie von einer Feder getrieben heraus und entfaltete sich zu seiner vollen Größe. Kiko staunte ein mal mehr über die technische Raffinesse der RZA-Ausrüstung. Selbst auf dem Schwarzmarkt hätte man derlei Dinge nicht kaufen können. Der einzige Nachteil dieses Wunderwerks bestand aber darin, daß man ihn, einmal ausgepackt, nicht wieder zu einem Würfel zusammenfalten konnte. Doch eigentlich suchte Kiko etwas anderes, nämlich etwas zu essen.

Sie fand schließlich eine Flasche mit Wasser und ein Nahrungspäckchen und eine kleine Tafel Schokolade. Das Nahrungspäckchen war so konstruiert, daß, wenn man an einer Lasche zog, sich der Inhalt durch eine chemische Reaktion von selbst erhitzte. Kiko zog an der roten Lasche und knetete das in silbrige Plastikfolie eingeschweißte Päckchen gut durch. Innerhalb weniger Augenblicke wurde das Päckchen so heiß, daß Kiko es nicht mehr mit bloßen Händen anfassen konnte. Es war gar nicht so einfach, die Folie aufzureißen, aber mit Hilfe ihres Schweizer Taschenmessers gelang ihr auch das.

So ein Messer hatte sie sich schon immer gewünscht. Sie hatte gar nicht gewußt, daß sie überhaupt noch hergestellt wurden. Die einzigen, die sie je gesehen hatte, waren antik und kosteten ein Vermögen. Aber dieses hier war ganz neu. Die Griffschalen waren auf Hochglanz poliert und leuchtend blau. Auf der Vorderseite war das Wappen der Schweiz eingelassen, auf der Rückseite das Emblem der RZA.

Mit Heißhunger machte Kiko sich über den Inhalt des Päckchens her. Sie hatte diese Art der Fertignahrung schon einige Male während des Trainings gekostet und es hatte ihr jedesmal ziemlich fade geschmeckt. Doch jetzt inmitten der Natur und mit dem aufgestauten Hunger von einem ganzen Tag schmeckte es ihr gar nicht schlecht. Irgend wie war es schon seltsam, etwas zu essen, was noch gar nicht hergestellt worden war, fand sie, während sie das auf der Rückseite des Päckchens aufgedruckte Herstellungsdatum las.

Nachdem sie alles aufgegessen hatte, schaltete sie den Computer ein. Als erstes mußte sie ihre Position und die Zeit bestimmen. Zum Glück gab es in dieser Zeit bereits ein globales Positionierungssystem. So dauerte es nicht lange, bis auf dem Bildschirm eine digitale Landkarte mit ihren exakten Koordinaten erschien. Kiko erkannte ihren gegenwärtigen Standort an einem blinkenden roten Dreieck. Nicht weit davon entfernt befand sich der See, wo sie letzte Nacht gelandet war. Ungefähr zehn Kilometer entfernt zeigte ein roter Kreis den Ort ihrer vorgesehenen Landekoordinaten an.

„Von wegen punktgenaue Landung“, murmelte sie spöttisch. „Die Landekoordinaten stimmen auf zehn Zentimeter genau“, hatten ihr die Ingenieure versichert.

„Na, hoffentlich stimm wenigstens die Ankunftszeit“, sagte sie zu sich selbst, und auf einmal überfiel sie ein dumpfes Gefühl. Was wenn die Ankunftszeit ebenfalls falsch wäre? Kikos Finger zitterten ein bißchen, als sie den Zeitempfänger einschaltete. Es dauerte ungefähr fünfzehn Sekunden, bis das Gerät das Zeitsignal empfangen und die Uhr synchronisiert hatte.

8:39:05,02 war auf dem Display ihrer Armbanduhr zu lesen. Kein Datum. Lag das am Gerät oder an dem Zeitsignal?

„Nur keine Panik. Wir sind doch für alles ausgerüstet“, sagte sie sich. Sie kramte in dem Frachtbehälter bis das entsprechende Gerät gefunden hatte. Es war ein kleines tragbares Radioteleskop. Das Gerät verfügte über eine kleine auffächerbare Parabolantenne etwa von der Größe eine Salatschüssel und war dafür konstruiert, Radiosignale aus dem Weltall zu empfangen. Es empfing die Signale bestimmter Sterne und berechnete daraus deren Position und die der Erde . Aus diesen Daten ließ sich das exakte Datum, und sogar – allerdings mit einer gewissen Ungenauigkeit, welche von der Größe und Qualität des verwendeten Empfängers abhängig war – die Uhrzeit.

Kiko stellte das Gerät ein und wartete voller Ungeduld darauf, daß die Anzeige des Apparates endlich eine Zahl anzeigte. Eine präzise Messung konnte mehrere Minuten dauern. Je genauer das Ergebnis sein sollte, desto länger würde die Messung dauern. Kiko stellte das Gerät so ein, daß es die Zeit auf eine Stunde anzeigen sollte.

Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Aber nach einer guten halben Stunde endlich lag das Ergebnis der Messung vor. Mit gemischten Gefühlen näherte Kiko sich dem Gerät, nachdem ein akustisches Signal das Ende der Messung angezeigt hatte. wenn sie in einer falschen Zeit gelandet war, wäre ihre Mission gescheitert. Und damit wäre wohl auch das Schicksal der Menschheit in der Zukunft besiegelt. Kiko wußte genau, daß die RZA nicht über die Ressourcen verfügte, eine zweite Mission durchzuführen; zumindest nicht innerhalb der nächsten drei bis vier Jahren.

Das Ergebnis der Messung lautete: T2004-184,330124... Kiko fiel ein schwerer Stein vom Herzen. Die vorausberechnete und einprogrammierte Ankunftszeit war nämlich T2004-184,000000 gewesen. Tatsächlich war sie sogar etwas früher gelandet. Wie es zu dieser Abweichung kommen konnte, vermochte sie nicht zu erklären, aber die ganze Zeitsprungtechnologie war so neu, daß selbst die Wissenschaftler der RZA nicht ganz genau wußte, was dabei wirklich geschah.

Noch genau eine Woche bis zum Tag X. Kiko hatte also noch genug Zeit und konnte nun in aller Ruhe ihr weiteres Vorgehen planen. Als erstes würde sie sich in die nächst gelegene Ortschaft begeben, um ihre Ausrüstung zu ergänzen. In dem Frachtbehälter war nur das Notwendigste für die ersten Stunden enthalten. Dank des reichlich vorhandenen Geldes konnte sie sich alles kaufen, was sie brauchen würde. Den Rest dürfte sie behalten und nach Belieben ausgeben. Nach Abschluß ihrer Mission konnte sie sich eine schöne Zeit in der Vergangenheit machen.

Da Kiko den schweren Frachtbehälter nicht mit nehmen wollte, beschloß sie, ihn bei dem Felsen zu verstecken und ihn später, wenn sie sich ein geeignetes Transportmittel beschafft hätte, abholen kommen. In dieser einsamen Gegend, ein gutes stück vom nächsten Weg entfernt würde ihn so schnell niemand finden. Sie packte alles zusammen, verschloß den Behälter sorgfältig und vergrub ihn unter einer dicken Schicht von Laub und trockener Walderde am Fuße des Felsens. Sie prägte sich die Stelle ein und speicherte die zur Sicherheit die genauen Koordinaten in ihrer PC-Uhr. Auch den Schutzanzug, den sie nicht mehr brauchen würde, vergrub sie in der Nähe. Verbrennen  könnte sie ihn ohnehin nicht, da es aus feuerfestem Material bestand. Nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hatte, daß von ihrem Lager keine Spuren zurückblieben, machte sie sich auf den Weg ins nächste Dorf. Das bedeutete einen Fußmarsch von fast zehn Kilometern, aber da Kiko in guter Form war und es fast die ganze Strecke leicht bergab ging, hoffte sie bis Mittag im Dorfe zu sein.

 

Ryō und Kosuke waren mit dem Abbrechen ihres Zeltes noch nicht fertig, als der Wagen von Ryōs Großvater die schmale Straße heranpreschte. Mit quietschenden Reifen kam der altersschwache Toyota zum Stehen. Ryōs Großvater stieg aus und lief den steilen Pfad, der von der Straße zum Seeufer führte, herab.

„Gott sei Dank! Ihr seid beide unverletzt“, rief er aufgeregt. Vom Laufen war er ganz außer Atem und sein Kopf war ziemlich rot angelaufen. „Opa, was machst du denn hier?“ fragt Ryō erstaunt. „Wir haben dich erst am Nachmittag erwartet.“

„Ich habe mir große Sorgen um euch gemacht. Als ich gestern das Feuer auf dem See gesehen habe und die schreckliche Explosion.“

„Jetzt beruhige dich doch wieder. Wie du siehst, sind wir beide wohlauf.“

„Die Leute im Dorf sagen, es sei ein Meteorit abgestürzt. Doch ich sage, das war die Strafe des Himmels!“

„Die Strafe des Himmels? Ich bitte Sie, Herr Fujita. Wir leben im 21. Jahrhundert“, sagte Kosuke beschwichtigend.

„Unsinn!“ brummte der Alte griesgrämig. „Was wißt ihr jungen Leute schon? Ihr sitzt den ganzen Tag vor euren Computern und Maschinen und glaubt, die Welt zu verstehen... Auf jeden Fall sollt ihr euch vom See fernhalten. Das Fischen und Baden ist bis auf weiteres verboten. Sie wollen Experten aus der Stadt schicken. Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, ist der Zutritt zum See verboten. Das wird mächtigen Ärger geben im Dorf. Wovon sollen die Fischer leben, wenn sie nicht auf den See rausfahren dürfen?“

„Bestimmt werden viele Schaulustige kommen. Das ist gut für den Tourismus. Vielleicht berichtet sogar das Fernsehen darüber...“ meinte Kosuke. Der Alte schüttelte aber bloß mißmutig den Kopf.

Mit Großvaters Hilfe brachen die beiden Jungen ihr Lager ab und verstauten alles im Wagen.

„Was sollen wie die nächsten vierzehn Tage machen, wenn wir nicht mehr zum See dürfen?“ fragte Kosuke.

„Ihr könnt doch immer noch wandern gehen oder einen Ausflug mit dem Fahrrad machen“, schlug der Großvater vor. „Außerdem findet nächste Woche das Sommerfest in unserem Dorf statt.“

„Uns wird schon nicht langweilig werden“, sagt Ryō und auf seinem Gesicht erschien ein finsteres Lächeln. Kosuke bemerkte es, sagte aber nichts. Er ahnte, was sein Freund vorhatte und fragte sich, wie er ihn davon abbringen könnte. Dieses geheimnisvolle Mädchen durfte man nicht unterschätzen. Wenn man ihr in die Quere kam, könnte das sehr unangenehm werden. Aber insgeheim war auch er neugierig und wünschte sich, jene geheimnisvolle Kiko noch einmal wiederzusehen.

 

Kiko war noch nie in einem kleinen Dorf gewesen. Sie hatte nur das Leben in der Großstadt. Die kleinen Häuser waren alle sauber und gepflegt. Die Gärten, die Straßen die ganze Landschaft, alles wirkte aufgeräumt und ordentlich. Nirgends war eine Spur von Unrat oder verfall zu sehen, obgleich die Häuser nicht neu waren.

Es gab nur eine Handvoll Geschäfte, die alle an der Hauptstraße lagen. Hier würde Kiko nicht alles bekommen, was sie brauchte. Aber in der nächsten größeren Stadt, könnte sie sich bestimmt mit allem eindecken. Außerdem brauchte sie noch eine Unterkunft. Zwar gab es im Dorf zwei Pensionen, aber die waren beide ausgebucht. Es waren Sommerferien und der nahe gelegene See zog viele Angler und Ausflügler an.

Auf der Dorfstraße waren kaum Leute unterwegs. Dennoch hatte Kiko, während sie die Straße entlang ging, das Gefühl, angestarrt zu werden. An ihrer Kleidung konnte es nicht liegen. Sie bestand aus antiken Originalstücken. Vielleicht fiel sie als Fremde einfach auf oder die Leute auf dem Lande waren eben ein bißchen seltsam.

Auf der Hauptstraße befand sich eine Bushaltestelle. Kiko erkannte sie sogleich an dem Schild und dem winzigen Wartehäuschen. Zu ihrer Ausbildung gehörte auch das Erkennen historischer Verkehrszeichen und Schilder. Viele Nächte Lang hatte sie sich Videos und alte Magazine anschauen müssen, um sich mit dem Leben zu zeit der Jahrhundertwende vertraut zu machen. Dennoch kam ihr manches fremd und unverständlich vor.

Ein ziemlich ausgeblichener Fahrplan unter einer schon etwas milchig gewordenen Plexiglasscheibe war an einer Seite des Wartehäuschen angebracht. Wenn sie den Fahrplan richtig entziffert hatte, so fuhr der Bus werktags von 6 bis 19 Uhr stündlich; sonntags von 10 bis 18 Uhr. Abends gab es nur noch einen Bus um 21 Uhr. Anscheinend verfügte dieser kleine Ort über eine gute öffentliche Verkehrsverbindung, dachte Kiko und sah nach der Uhr.

Dort, wo sie herkam, gab es kaum öffentliche Verkehrsmittel. Einige private Unternehmungen bedienten mit klapprigen antiken Vorkriegsfahrzeigen einige Fernverbindungen. Der Fahrpreis war hoch, und die Wahrscheinlichkeit, nicht an seinem Bestimmungsort anzulangen, ebenfalls. Ein eigenes Automobil konnten sich nur sehr wenige Leute leisten. Aber hier in diesem Land und zu dieser Zeit war der Besitz eines eigenen Kraftwagens ein verbreiteter Zustand. In Kikos Augen blitzte ein Funke auf. Sie verließ das Wartehäuschen und überquerte die die Straße. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner Einkaufsmarkt. Sie betrat den laden durch die gläserne Schiebetür. Angenehme Kühle umfing sie. Die Luft war erfüllt vom Geruch frischer Lebensmittel. Aus unsichtbaren Lautsprechern drang leise Musik und übertönte das Summen der Kühlaggregate. Kiko traute ihren Augen kaum. Sie fühlte sich geradezu erschlagen von der Vielfalt des Angebotes an Waren. Und dies war nur ein kleiner Dorfladen. Wie mochte es dann erst in einem der großen Kaufhäuser in der Stadt aussehen? Kikos Hände begannen zu kribbeln.

In der Nähe der Tür befand sich die Kasse. Dort saß ein beinahe kahlköpfiger Mann mittleren Alters. Er trug eine rote Schürze und ein gestreiftes Hemd. Bei Kikos Eintreten hob er den Blick von seiner Zeitung und sagte freundlich: „Guten Tag! Womit kann ich dienen?“

Kiko war für einen Augenblick noch ganz überwältigt und wußte nicht, was sie antworten sollte. „Ich — äh — weiß nicht...“

„Schauen Sie sich ruhig um“, erwiderte der Mann freundlich. „Das hier ist zwar nur ein bescheidener Dorfladen, aber wir führen ein reichhaltiges Sortiment Sind Sie zu Besuch hier?.“

„Ich bin Tourist“, sagte Kiko und betrachtete einen imposanten Turm von Konservendosen, die zu einer mannshohen Pyramide aufeinandergestapelt waren. Sie nahm eine der Dosen vom Stapel und betrachtete das Etikett.

„Hier, bitte, nehmen Sie doch einen Korb“, sagte der Verkäufer während er einen grünen Einkaufskorb nahm und ihn Kiko reichte.

„Katzenfleisch in Dosen...“ murmelte sie leise und legte die Dose in den Korb. Langsam schritt sie durch die Gänge und allmählich füllte sich der Einkaufskorb mit allerlei Sachen. Derweil beobachtete sie der Verkäufer mit gerunzelter Stirn. Diese jungen Leute aus der Stadt haben doch alle einen Knall, dachte er bei sich.

Als Kiko mit prall gefülltem Einkaufskorb zur Kasse kam, fragte sie plötzlich: „Verkaufen Sie hier auch Automobile?“ Der Verkäufer starrte sie an, als wäre sie nicht recht bei Trost — und wahrscheinlich dachte er das auch. Doch als höflicher Geschäftsmann antwortete er indessen: „Nein, ich bedauere. Wir haben führen die Waren, die hier im Laden stehen. Automobile gibt es in der Stadt zu kaufen. — Wo sagten Sie kommen Sie her?“

„Na, dann kauf’ ich mir eben dort eines“, meinte Kiko unbekümmert und zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche. Zum Glück läutete in diesem Augenblick das Telefon und der Verkäufer war für einen Augenblick abgelenkt. Hätte er gesehen, wieviel Geld Kiko bei sich trug, hätte er wahrscheinlich die Polizei verständigt. Kiko legte einen Geldschein auf den Ladentisch; den Rest rollte sie zusammen und verstaute ihn wieder in der Jackentasche. Der Verkäufer legte den Hörer neben den Apparat, gab Kiko das Wechselgeld heraus und verstaute ihre Einkäufe in zwei Plastiktaschen.

Kiko ging zurück zur Bushaltestelle. Sie setzte sich auf die Bank im Warthäuschen und kramte in ihren Einkaufstaschen. Unter den zahlreichen Dingen, die sie erstanden hatte, befand sich auch ein Mangaheft. Sie schlug es auf und begann zu lesen. Bis der nächste Bus kam, hatte sie noch über eine halbe Stunde Zeit. Anfangs fiel ihr das Lesen ein wenig schwer, was nicht zuletzt daran lag, daß sie viele der alten Schriftzeichen nicht kannte. Aber sie gewöhnte sich rasch daran und war bald so sehr in die Lektüre der faszinierenden Bildergeschichten vertieft, daß sie gar nicht merkte, wie der Bus endlich angefahren kam. Erst als er mit zischenden Bremsen vor dem Wartehäuschen zum stehen kam, schaute sie auf und griff hastig nach ihren Sachen.

Während der Fahrt hatte sie jedoch keine Lust mehr zum Lesen. Vielmehr interessierte sie die vorüberziehende Landschaft. Der Anblick der grünen Hügel und dichten Wälder erinnerte sie an ihre Fahrt aus der Stadt ins Ausbildungszentrum der RZA. Sie war mit dem elektrischen Zug gefahren, der einmal in der Woche die Stadt verließ...

 

Es war gar nicht so einfach gewesen, überhaupt zum Bahnhof zu gelangen. Der Bahnhof der „Goldenen Linie“, wie man den elektrischen Zug nannte, befand sich, von Kikos Wohnung betrachtet, am anderen Ende der Stadt, dort, wo der Sperrbezirk begann und die Wohnungen der Funktionäre und Reichen lagen. Kiko trug ihre wenigen Habseligkeiten in einer großen Umhängetasche. Ihre beiden wertvollsten Besitztümer aber trug sie in der Innentasche ihrer Jacke: die Einladung zum Auswahltraining auf der RZA-Akademie und die Fahrkarte für die „Goldene Linie“. Die Fahrkarte bestand aus dickem glänzendem Papier. Sie schimmerte hellblau und der Name und das Wappen der staatlichen Eisenbahnen war in Gold aufgedruckt. Die Buchstaben waren nicht nur aufgedruckt, sondern richtig in das Papier eingeprägt, so daß man sie deutlich fühlen konnte, wen  man mit den Fingern darüber strich. Unter dem Reiseziel stand in etwas blasseren Lettern ein vom Computer aufgedruckter Zahlencode und ihr Name. Das war Kikos Fahrschein und nur sie allein durfte damit in dem goldenen Zug bis zur Endstation nach Star City fahren. So hieß der Ort, wo sich die RZA-Akademie, das Trainingszentrum und die Forschungslaboratorien befanden. Dort lebten und arbeiteten über fünftausend Menschen in einem hermetisch von der Außenwelt abgeschirmten Gebiet. Die Stadt und sämtliche weitläufigen Testgelände in deren Umfeld waren Sperrgebiet. Nur Funktionäre und Angestellte mit Sonderausweis durften hinein. Für Reisende nach Star City waren die beiden ersten Wagen des Zuges reserviert. Für die anderen Passagiere endete die Fahrt spätestens eine Station vorher in Star Village. Hier befanden sich Zulieferbetriebe für die RZA, so wie einige Farmen und landwirtschaftliche Betriebe. Star Village war von der Einwohnerzahl vielleicht sogar noch größer als Star City.

Da Kiko kein Geld für eine Fahrt in einem der unerschwinglich teuren Taxis hatte, mußte sie sich auf einen langen Fußmarsch quer durch die Stadt zum Nordbahnhof einstellen. Daher war sie schon vor Sonnenaufgang aufgestanden, hatte ihre beste Uniform angezogen; genauer gesagt, die weniger abgenutzte von den beiden, die sie besaß. Bevor sie sich zum Frühstück hinsetzte, hatte sie sich wohl zum zehnten Male vergewissert, daß sie die Einladung, die Fahrkarte und ihren Ausweis eingesteckt hatte.

Als es endlich an der Zeit war, aufzubrechen, warf sie noch einmal einen Blick auf das Kalenderblatt über ihrem Bett. Sie hatte sich überlegt, es mitzunehmen, denn wenn sie die letzte Aufnahme-Prüfung für das Kibou-Projekt bestehen sollte, würde sie nicht mehr hier her zurückkehren, sondern in Star City einquartiert werden. Doch dann entschloß sie sich doch, es hier zurück zu lassen, als ein Relikt ihres alten Lebens. Und vielleicht würde sich ja der nächste Bewohner des Zimmers daran erfreuen.

Die ganze Nacht hindurch hatte es in Strömen geregnet. Als Kiko auf die Straße hinaus trat, hatte der Regen gerade aufgehört. Von den Dächern troff noch das Wasser plätschernd auf den Asphalt; in den Straßenrändern floß noch ein Rinnsal und verschwand gurgelnd im Gully. Alles glänzte naß und in der Luft hing der erdige Geruch von nassem Beton, vermischt mit dem allgegenwärtigen morbiden Gestank einer sterbenden Stadt. Zu dieser Zeit und in diesem Viertel wagte sich kein vernünftiger Mensch allein auf die Straße, erst recht keine Frau. Kiko jedoch vertraute darauf, daß ihr ihre Uniform einen gewissen Schutz gewähren würde, und außerdem verstand sie sich darauf, sie ihrer Haut zu erwehren. Mit der Eisenstange, die von ihrem Gürtel hing, hatte sie in den vergangenen anderthalb Jahren gut umzugehen gelernt. So lange arbeitete sie schon bei der Sicherheitswache der Hafenbehörde, welcher dieses Stadtviertel unterstellt war. Leider hatte man sie vor drei Monaten gefeuert. Erst dadurch war sie in ihre prekäre Lage geraten. Hätte sie den Job bei der Hafenbehörde nicht verloren, hätte sie vielleicht die Bewerbung bei der RZA nie abgeschickt, obwohl sie schon von klein auf davon geträumt hatte zur RZA zu gehen.

Der Schulterriemen ihrer Umhängetasche drückte unangenehm und so hoffte Kiko, daß sie vielleicht nicht den ganzen Weg bis zum Bahnhof zu Fuß zurücklegen müßte. Sie hatte Glück: für ein geringes Entgelt konnte sie auf einem leeren LkW mitfahren, der seine Ladung am nahe gelegenen Großmarkt abgeladen hatte. Der Fahrer nutzte die Leerfahrt, um sich als illegales Taxi ein kleines Zusatzeinkommen zu verdienen. Als Angehörige der Sicherheitswache hätte Kiko ihn anzeigen müssen. Doch zum einen war sie nicht mehr im Dienst und zum anderen nutzten nicht wenige ihrer Kollegen ebenfalls dieses billige Transportmittel. Immerhin brauchte sie dank ihrer Uniform nur den halben Fahrpreis entrichten.

Kiko kauerte sich auf der zugigen Ladefläche zusammen und schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und sah zum wolkenverhangenen Himmel hoch, der sich im Osten allmählich orange zu verfärben begann. Bald würde die Sonne aufgehen, über einer Stadt, für die auch im Sommer nie die sonne schien.

Der LkW fuhr nicht bis zum Nordbahnhof, aber er brachte sie weit genug in dessen Nähe, daß Kiko den Rest des Weges in einer guten halben Stunde zu Fuß zurücklegen konnte. Das Stadtviertel, in dem sie sich jetzt befand, war früher, vor langer Zeit, einmal die City gewesen. Hohe schwarze Wolkenkratzer mit leeren Fenstern ragten in den grau-blauen Himmel. Auf den Straßen gingen Menschen, Fahrzeuge fuhren nur vereinzelt vorbei. Die meisten davon waren LkW oder Militärtransporter. Wer hier etwas zu erledigen hatte, war kein Geschäftsmann, Spaziergänger, Einkäufer oder Tourist. Die Menschen versuchten diese Gegend so schnell wie möglich zu durchqueren. Keiner hielt sich länger auf als notwendig. Dieser Teil der Stadt war tot, vor langer Zeit schon gestorben; lange vor Kikos Geburt. Die hoch aufragenden Gebäude waren Ruinen, aus einer längst vergangenen, besseren Epoche. Sie sollten den Bewohnern der Stadt ein Ansporn sein, doch in ihren Herzen war längst alle Hoffnung erstorben. Resignation und Verzweiflung beherrschen ihre Sinne.

Kiko betrachtete jene leeren, halb verfallenen Gebäude, welche sie schon so oft aus der Ferne gesehen, aber noch nie so eingehend aus der Nähe studiert hatte, ganz genau. Sie ahnte noch nicht, daß es bald ihn ihrer Macht stehen würde, dafür zu sorgen, daß diese Gebäude eines Tages wieder zu neuem Leben erwachen sollten.

Der Bahnhof der „Goldenen Linie“ lag am anderen Ufer des Flusses, der die Stadt in zwei Hälften teilte, bevor er sich nur ein paar Kilometer weiter in drei Arme verzweigend in den Ozean mündete. Es gab nur noch zwei intakte Brücken, die den Fluß überspannten. Sie verbanden den südlichen, etwas größeren, mit dem nördlichen Teil der Stadt. In Norden befanden sich neben den herrschaftlichen Wohngebieten auch fast sämtliche Regierungs- und Verwaltungsbehörden. Um die Brücke passieren zu können, brauchte man eine Genehmigung. Es gab zwei Posten, an jedem Ende der Brücke einen. Zu dieser frühen Stunde war noch kaum Verkehr, so daß Kiko nicht lange am Checkpoint anstehen mußte. Während sie an dem Kontrollposten wartete, wanderte ihr Blick über die zahlreichen Lastkähne, die auf dem Fluß verkehrten. Der Schiffsverkehr hatte in den letzten Jahren wieder stark zugenommen, was vor  allem auf die Tatsache zurückzuführen war, daß nach der Wiedereröffnung des Seehafens der größte Teil der Handels- und Versorgungsgüter auf dem Wasserwege ins Hinterland befördert wurde. Es gab sogar wieder eine Personenschiffahrt, welche über die „Weiße Linie“ betrieben wurde. Sie bestand zur Zeit aus zwei großen altmodischen Flußdampfern, welche zwei Mal im Monat am Kai unweit der unteren Brücke anlegten. Gerade lag eines der prächtigen schneeweißen Schiffe an der Anlegestelle. Kiko fragte sich, wo es wohl hinfahren würde, und wer zu seinen glücklichen Fahrgästen gehören mochte. Angeblich konnte man damit bis zu den großen Seen im Norden fahren. Aber Kiko mochte das gar nicht glauben.

Nachdem die Formalitäten erledigt und ihre Papiere kontrolliert worden waren, durfte sie den Kontrollposten endlich passieren und Kiko betrat zum ersten Male die Brücke. Die Brücke war riesig. Sie verfügte über zwei breite Fahrspuren in jeder Richtung. In der Mitte befand sich ein Eisenbahngeleise, dessen Schienen allerdings teilweise herausgerissen worden waren. Die verbliebenen schienen waren verrostet und verbogen. Hier war schon lange kein Zug mehr gefahren. Aber in der alten Zeit vor dem Krieg war hier eine Stadtbahn verkehrt, welche die beiden Stadtteile verband. Es war sogar eine elektrische Bahn gewesen, denn in regelmäßigen Abständen standen Leitungsmasten entlang der Geleise.

In der Mitte der Brücke angelangt, blieb Kiko einen Moment stehen. Das war zwar verboten, aber solange keine Patrouille in sicht war, konnte sie es riskieren. Im Osten, wo der Himmel von der aufgehenden Sonne blutrot gefärbt war, konnte sie gerade noch in der Biegung des Flusses die zweite Brücke erkennen, die sich als schmutziggraues Band von einem Ufer zum anderen spannte. Sie war kaum auszumachen, denn sie verschmolz mit dem grauen Hintergrund der Stadt. Im Westen sah man die Überreste einer weiteren Brücke. Es waren zwei hoch aufragende Tragepfeiler, an deren Seiten noch Reste der Fahrbahn hingen. Die Trümmer, welche in den Fluß gestürzt waren, hatte man bereits vor einigen Jahren beseitigt als der Seehafen wieder eröffnet und der Fluß wieder schiffbar gemacht worden war. Irgendwo weiter hinten, mündete der Fluß ins Meer. Kiko hatte das Meer erst einmal gesehen, obwohl es nur zwanzig Kilometer von der Stadt entfern lag. Sie hatte es als eine ölige, stinkende Kloake in Erinnerung; und dennoch jenseits des dreckigen Strandes und der ölverkrusteten Felsen besaß jene unendlich große, wogende, lebendige Wasserfläche etwas unbeschreiblich anziehendes. Vielleicht war deshalb das alte Kalenderblatt an der Wand in ihrem Zimmer ihr Lieblingsbild gewesen.

Von hinten näherte sich ein Wagen in rasender Fahrt. Mit quietschenden Bremsen kam er neben Kiko zum Stehen. Das Geräusch riß sie jäh aus ihren Träumen. Eine barsche Stimme bellte sie an: „He! Weitergehen! Es ist verboten, auf der Brücke stehen zu bleiben!“ Warum eigentlich, fragte sich Kiko und ging weiter. Der Wagen fuhr an und brauste mit röhrendem Motor davon. Zurück bleib nur eine graue Wolke übel riechender Abgase, die sich nur langsam verflüchtigte.

Nachdem Kiko zwei weitere Kontrollposten passiert hatte, langte sie schließlich am Nordbahnhof an.

Dieser Bahnhof war etwas besonderes. Obwohl er im Krieg mehrmals bombardiert und beinahe vollständig zerstört worden war, hatte man ihn immer wieder aufgebaut. Er war das Symbol einer beinahe vergessenen Hoffnung auf bessere Zeiten; ein Mahnmal aus der Vergangenheit und eine Verpflichtung an die Zukunft. Hier fuhren seit drei Jahren wieder Züge, nachdem in langer, mühevoller und kostspieliger, Arbeit nicht nur das historische Bahnhofsgebäude, sondern die ganze Schienenstrecke wieder hergestellt worden war. In der Anfangszeit hatte es heftige Proteste gegen den Wiederaufbau gegeben., welche zuweilen sogar in blutige Tumulte ausarteten. Aber nach und nach war der Widerstand gegen das ehrgeizige Vorhaben erlahmt und endlich galt die „Goldene Linie“ als ein Zeichen der Hoffnung und des Neubeginns.

Kiko stellte ihre Reisetasche ab und betrachtete das kolossale Bauwerk von der Mitte des Bahnhofplatzes aus. Wenn sie einen Fotoapparat besessen hätte, hätte sie wahrscheinlich eine Aufnahme gemacht, so wie einige der anderen Reisenden auf dem Platz. Aber auch ohne Erinnerungsfoto war sie sich sicher, diesen Eindruck für immer in ihrem Gedächtnis zu bewahren.

Das Hauptgebäude war ungefähr dreihundert Meter lang. In der Mitte befand sich die hoch aufragende Halle, die von einem spitzen Turm gekrönt wurde. Zuoberst an dem Turm befand sich eine weithin sichtbare Uhr mit einem Zifferblatt aus vergoldeten Ziffern und ebenso vergoldeten Zeigern. Nachts wurde die Uhr beleuchtet, so daß sie fast wie ein Leuchtturm wirkte. Der Turm war nicht sehr hoch, wie das bei alten Gebäuden üblich war und so konnte Kiko ihn von ihrer Wohnung aus nicht sehen, aber dennoch überragte er alle Gebäude in einem weiten Umkreis. Das Bahnhofsgebäude strahlte in einem hellen Weiß, wie Kiko es noch nie an einem Gebäude gesehen hatte. Es war das weißeste Gebäude in der ganzen Stadt. Wie mochte es wohl im Inneren aussehen? Sie konnte es kaum erwarten, die große Halle zu betreten. Bevor es aber so weit war, mußte sie sich erneut einer gründlichen Ausweis- und Taschenkontrolle am Posten vor dem Haupteingang unterziehen.

Als dies endlich geschehen war, befahl der Beamte ihr, die linke Hand vorzustrecken. Kiko gehorchte überrascht. Noch bevor sie realisierte, was der Mann eigentlich von ihr wollte, wurde ihre Hand in einer Art Zange mit breiten Backen eingeklemmt. Eine dünne Nadel bohrte sich in ihre Handfläche.

„Au! Was soll das?“ rief sie empört. Doch der Beamte lachte und meinte bloß: „Du benutzt wohl zum ersten Mal den Bahnhof, was? Das ist nur die übliche Gesundheitskontrolle.“

Die „Zange“ war über ein Spiralkabel mit einem Computer verbunden. Nach einigen Sekunden erschien eine farbige Grafik auf dem Schirm.

„Alles in Ordnung. Du darfst passieren!“ sagte der Mann. Er stempelte Kikos Ausweis ab und händigte ihn ihr zusammen mit einem grünen Passierschein aus.

„Ich wußte gar nicht, daß es solche Geräte überhaupt gibt“, brummte sie und trat durch das hohe Eingangsportal in die große Halle.

Die Bahnhofshalle war nichts als ein riesiger leerer Raum. In der Mitte befanden sich zwei Fahrkartenschalter. Auf der rechten Seite stand ein Kiosk, wo man sich für Unsummen mit Proviant und Getränken eindecken konnte. Natürlich gab es auch Zeitungen; sogar fünf verschiedene. Als Kiko einen Blick auf die Preisliste warf, verging ihr schlagartig der Appetit auf einen Imbiß. Die dreieinhalb Stunden Fahrt würde sie auch ohne Verpflegung überstehen. Doch wenn sie die Stelle als Spezial-Agentin bei der RZA bekommen sollte, könnte sie sich alle kostbaren Leckereien leisten, die hier feilgeboten wurden.

Wo befand sich nun der goldene Zug? Kiko sah sich um. Irgendwie hatte sie sich vorgestellt, daß der Zug mitten in der großen Halle stehen würde. Durch ein großes Schild mit der Aufschrift Zu den Zügen in dicken schwarzen Lettern wurde sie dahingehend belehrt, daß der Zug hinter der Halle abfuhr. Bis zur Abfahrt hatte sie noch über eine Stunde Zeit. Außer ihr warteten nur fünf oder sechs andere reisende in der Halle. Doch bestimmt würden es noch mehr werden.

Kiko hatte keine Lust, eine ganze Stunde in der leeren Bahnhofshalle herum zu sitzen. Sie trat durch die Tür nach draußen auf den Bahnsteig hinter der Halle. Hinter der Bahnhofshalle hatte sich früher einmal eine große eiserne Halle befunden, welche die zwanzig Geleise des alten Bahnhofes mit einem gewölbten Dach aus Stahlträgern und Glasplatten überspannte. Jetzt waren davon nur noch einige bis auf halbe Höhe aufragende Stahlträger übrig, welche einst das mächtige Bogendach trugen. Die Konstruktion aus Stahl und Glas war nicht wieder aufgebaut worden. Auch waren von den einst zwanzig Geleisen nur deren drei wieder hergestellt. Auf dem ersten stand der goldene Zug. Er bestand aus fünf Wagen, deren Seitenwände in einem goldgelben Farbton lackiert waren. Daher rührte der Name des Zuges. Die Wagen waren zwar alt, aber frisch restauriert und in neuwertigem Zustand. Ebenso die elektrische Lokomotive, welche mindestens fünfzig Jahre alt war. Ehrfürchtig stand Kiko vor der gewaltigen Maschine, aus deren Inneren ein unheimliches Summen drang. Es war, als könne man die gewaltige Kraft, die in der Maschine steckte, körperlich spüren. Kiko, die noch nie eine Lokomotive aus der Nähe gesehen hatte und noch nie mit der Eisenbahn gefahren war, spürte ein gewisses Unbehangen vor diesem monströsen Fahrzeug. Dennoch freute sie sich auf die Fahrt in dem Zug...

 

Der Manga rutschte von Kikos Schoß und fiel auf den Boden. Sie hob ihn auf und verstaute ihn in einer der beiden Einkaufstaschen. Während sie in Gedanken versunken war, hatte der Bus bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Die hügelige Landschaft wurde ein wenig flacher, nicht sehr, aber doch so, daß sich der Horizont zu weiten begann und den Blick auf entferntere Gegenden freigab.  Fasziniert beobachtete Kiko den Wechsel der Landschaften. Auf einmal wurde es stockfinster. Zuerst erschrak sie, aber rasch wurde ihr bewußt, daß sie durch einen Tunnel fuhren. Bereits nach wenigen Sekunden wurde es wieder hell. Von der kurvenreichen Straße aus konnte sie auf ein breites Tal mit einem grünlich glitzernden Fluß hinab schauen. Nicht weit vom Fluß entfernt erstreckte sich eine weitläufige, eingezäunte Industrieanlage. An den beiden hohen charakteristisch geformten Kühltürmen erkannte sie, daß es sich um ein Kraftwerk handelte. Die dicke Dampffahne, welche von einem der beiden Türme aufstieg und sich mit den tief hängenden Wolken am Himmel vermischte, zeigte daß das Kraftwerk in Betrieb war. Ein Schauder befiel sie bei dem Anblick. Sie hatte erst einmal ein Kernkraftwerk gesehen; genauer gesagt, was davon noch übrig war, nachdem zwei der Reaktoren geschmolzen und explodiert waren. Auch damals hatte sie in einem Bus gesessen. Die Fahrt ging von Star City nach dem ehemaligen Raketenzentrum in der Wüste. Die Gegend war bei dem Unfall stark verseucht worden. Während des Krieges hatte man hier Raketen getestet. Jetzt wurde das Gelände wegen seiner teilweise noch intakten Infrastruktur und wegen seiner Abgeschiedenheit als Startplatz für die Zeitkapseln genutzt. Die beiden noch funktionstüchtigen Reaktorblöcke des Kraftwerkes 29 wurden wieder in Betrieb genommen, um die ungeheure Menge an Energie, welche für die Zeitsprünge benötigt wurde, bereit zu stellen. Wahrscheinlich ging man davon aus, daß, wenn es zu einem Unglück käme und das Kraftwerk durch Überlastung beschädigt würde, kein großer Schaden mehr entstehen könne, da die Gegend bereits vor Jahrzehnten evakuiert worden, und seitdem menschenleer war. Das Sperrgebiet umfaßte einen Radius von einhundert Kilometern um das Kraftwerk. Auch am Rande des Sperrgebietes lebten kaum noch Menschen. Die Gebäude auf dem Testgelände seien ausreichend gegen Strahlung abgeschirmt, hatte man Kiko versichert. Die meisten neuen Anlagen wurden zudem unterirdisch angelegt. Darüber hinaus würde sich die Strahlung erst bei lange dauernder Exposition auswirken. Diesen Beteuerungen mochte sie zwar keinen rechten Glauben schenken; im Grunde aber war es ihr gleich gewesen. Die Aussicht, daß der Zeitsprung gelänge, war nicht besonders groß. Die Wahrscheinlichkeit, zusammen mit der Zeitkapsel in seine Atome zerlegt zu werden, war indes um einiges größer, als an der Strahlung Schaden zu nehmen.

Der Tag, an dem Kiko die Startrampe zum ersten Mal besichtigen durfte, lag erst drei Monate zurück, doch es kam ihr vor, als wäre inzwischen ein halbes Leben verstrichen.

Kiko wandte den Blick von der Kraftwerksanlage ab. Sie sah auf die Uhr. In einer knappen Viertelstunde würde sie in der Stadt ankommen. Zwei Dinge hatte sie sich für diesen Tag noch vorgenommen: eine Unterkunft zu finden, und ein Automobil zu kaufen.

 

*          *          *  

(wird fortgesetzt...)

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