Les Princes des Sept Cieux

 

Erstes Kapitel

Ein Traum

 Alles begann mit einem Traum. Julien lag zu Hause in seinem Bett und wälzte sich unruhig hin und her. Wieder einmal plagte ihn ein Alptraum. Es war derselbe Traum, der ihn schon seit einem Monat immer wieder heimsuchte. Obwohl es nicht besonders warm war, war sein Schlafanzug schweißnaß. Mit einem lauten Stöhnen wachte er endlich auf. Zitternd und schwer atmend saß er kerzengerade im Bett. Es dauerte einige Sekunden, bis er merkte, daß er wach und daß alles in Ordnung war. Er rieb sich die Augen und sah nach den Leuchtziffern des elektrischen Weckers auf dem Nachttisch. Es war kurz nach halb drei. Da alle Müdigkeit mit einem Schlage von ihm gewichen war, stand er auf und zog das feuchte Oberteil seines Schlafanzugs aus. Er ging zum Fenster und legte es zum Trocknen auf den lauwarmen Heizkörper.

Durch die weißen Gardinen schien das kalte Licht des Vollmondes herein. Julien sah nach unten auf den Garten und die kleine Straße, in der das Haus seiner Eltern stand. Es war eine ruhige Nacht. Julien öffnete das Fenster einen Spalt weit. Mit tiefen Atemzügen sog er die kühle Nachtluft ein. Einen Augenblick lang glaubte er beinahe auch das Mondlicht mit einzuatmen. Er schüttelte den Kopf. Wie kam er nur auf solche Gedanken? Er legte sich wieder aufs Bett und starrte mit verschränkten Armen an die Zimmerdecke. Vor Jahren hatte er, einer plötzlichen Laune folgend, die Decke seines Zimmers blau angestrichen und mit unzähligen Sternen aus goldfarbener Folie beklebt. Das sah zwar ziemlich merkwürdig aus, wirkte aber ungemein beruhigend.

Julien versuchte sich an den Traum zu erinnern. Es fiel ihm schwer, sich die Bilder und Gesichte zurück zu rufen. Eigentlich hatte er nichts fürchterliches erlebt; die Handlung seines Traumes war zwar ziemlich verworren, aber nichts gab Anlaß sich derart zu ängstigen.

Morgen früh würde er bestimmt wieder einmal so müde sein, daß er zu spät in die Schule käme. Was dann geschähe, das kannte er aus der Vergangenheit nur zu gut. Nach drei Verspätungen mußte man zwei Stunden nachsitzen. Er zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn und schloß die Augen.

 

Ein unerträgliches, nervtötendes Brummen zwang ihn die Augen zu öffnen. Das Brummen kam von dem elektrischen Wecker. Mit einer unwirschen Handbewegung brachte Julien den Störenfried zum Schweigen und drehte sich um. Nur noch fünf Minuten dösen, das wäre so schön…

Plötzlich stand Juliens Mutter im Zimmer. „Steh endlich auf, du Schlafmütze!“ rief sie und schlug die Bettdecke zurück. „Es ist schon ein Viertel nach sieben.“ Julien sprang aus den Federn und rieb sich heftig den Schlaf aus den Augen. Beinahe wäre er in die Tür gerannt. Zum Frühstücken würde er wieder einmal keine Zeit haben.

Nach einer kurzen Katzenwäsche schlüpfte er in die Kleider und suchte seine Schulsachen zusammen, die überall auf dem Tisch und auf dem Fußboden verstreut lagen. Noch zwei Minuten, dann würde er den Bus verpassen. Julien lief nach unten, schnappte sich sein Lunch-Paket und steckte sich eine Scheibe Toast zwischen die Zähne.

„Junge, du mußt doch etwas essen“, rief ihm die Mutter hinterher, als er aus dem Haus rannte. Keine Zeit — esse später!“ rief er zurück, dann schlug die Tür hinter ihm zu.

Julien rannte so schnell er konnte, was nicht gerade einfach war, denn um diese Zeit waren viele Menschen auf der Straße unterwegs. Es war fast ein Wunder, daß er niemand über den Haufen rannte. Als er um die Ecke bog, sah er gerade noch die Rücklichter des Omnibusses, der soeben die Haltestelle verließ.

„Verflixt und zugenäht!“ fluchte er. Jetzt würde er unweigerlich zu spät kommen. Das war schon das fünfte Mal in diesem Monat. Wenn das so weiterging, würden seine Eltern bald einen Brief vom Klassenlehrer bekommen. Julien blieb stehen, um zu verschnaufen. Jetzt konnte er sich ruhig Zeit lassen. Er setzte sich auf die Bank bei der Haltestelle. Die Frühlingssonne schien grell und unangenehm in sein Gesicht. Er schloß die Augen und streckte sich behaglich auf der Bank, als er plötzlich einen heftigen Stoß gegen seine weit ausgestreckten Beine verspürte.

Erschrocken riß er die Augen auf und sah, ein Mädchen auf der Erde liegen. Vor ihm lagen ein Haufen Bücher und Hefte über den Bürgersteig verstreut. Das Mädchen rappelte sich gerade auf, und noch bevor Julien ein Wort des Bedauerns hervorbrachte, fuhr es ihn giftig an.

„Kannst du nicht aufpassen, wohin du deine großen Füße streckst, du Dödel!“ Normalerweise hätte Julien sich diese Worte nicht einfach gefallen lassen. Weil das Mädchen aber geradezu verwirrend hübsch war und unglaublich langes, glänzend schwarzes Haar besaß, blieb Julien jede Erwiderung im Halse stecken. „Es — es tut mir leid …“ stammelte er verlegen. „Hast du dir weh getan?“ fragte er.

„Das geht dich gar nichts an!“ fauchte das Mädchen und stieß ihn brüsk zurück, als Julien sich bücken wollte, um ihre Sachen aufzulesen. „Wegen dir komme ich jetzt zu spät.“ Sie raffte die Bücher und Hefte zu einem Haufen zusammen und machte sich davon. „Warte doch! Vielleicht sehen wir uns mal wieder!“ rief Julien ihr nach.

„Das fehlte mir gerade noch …“ erscholl es von Ferne, dann war das Mädchen in der Menge der morgendlichen Passanten verschwunden.

Schade! dachte Julien und stand auf, als er den Bus herannahen sah. Er wollte sich eben neben dem Haltestellenschild aufstellen, als er neben dem Papierkorb ein kleines rotes Buch entdeckte. Es mußte dem Mädchen gehören, welches es in der Eile übersehen zu haben schien. Rasch hob Julien es auf und steckte es in seine Schultasche. Vielleicht würde sich ein Name und eine Adresse darin finden, dann könnte er es ihr zurückgeben und sie bei dieser Gelegenheit wiedersehen.

Der Rest des Vormittages verging unendlich langsam. Der Klassenlehrer von Julien war ein echter Fiesling, der sich gerne einen Spaß daraus machte, seine Schüler zu piesacken — die einen mehr, die anderen weniger. Julien gehörte aus unerfindlichen Gründen leider zu der ersten Gruppe. Zwei Stunden nachsitzen, für zehn Minuten Zuspätkommen. Das war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Aber Julien hatte es sich abgewöhnt Protest zu erheben, weil er aus Erfahrung wußte, daß dies nichts brachte — im Gegenteil. Die Mathe-Arbeit, die er zurückbekam, war ein Reinfall und in Latein gab es eine Vokabelprobe. Vielleicht hätte er seine Hausaufgabe doch etwas sorgfältiger machen sollen; jetzt war dafür es allerdings zu spät. Er erhielt eine Fünf. Wie sollte er das bloß seinen Eltern erklären?

Alles in allem war der Tag bislang der reinste Horror. Sein Freund Benny fehlte, so daß er in der großen Pause keine Gelegenheit hatte, sich über die Begegnung auf dem Schulweg zu unterhalten. „Hoffentlich ist er nicht krank“, dachte Julien, als er sah, daß sein Freund auch zur zweiten und dritten Stunde nicht erschien. Er beschloß, ihn gleich nach Schulschluß anzurufen.

Irgendwie brachte er die restlichen Stunden des Unterrichtes hinter sich. Als endlich die Glocke läutete, war Julien der erste, der aus dem Klassenzimmer stürzte. Wenn er sich ein wenig beeilte, könnte er noch vor dem Mittagessen rasch bei Benny vorbeischauen.

Wie ein Blitz sauste er die Straße hinab, sprang über den niedrigen Gartenzaun an dem Eckgrundstück, rannte über den kurzgetrimmten Rasen, dessen Besitzer um diese Zeit glücklicherweise nicht zu Hause war, und sprang auf der anderen Seite über den Zaun, direkt vor die Bushaltestelle und hinein in den wartenden Bus.

Keuchend und schnaufend ließ Julien sich auf den Sitz fallen. Na, bitte! Das hatte doch wieder einmal geklappt! dachte er zufrieden und schaute zum Fenster hinaus, während der Bus sich gemächlich durch den dichten Mittagsverkehr schob.

Benny wohnte nicht weit von der Haltestelle entfernt in einer ziemlich vornehmen Gegend — oder genauer gesagt, am Rande einer ziemlich vornehmen Gegend — in einem fünfstöckigen Wohnblock. Bennys Eltern hatten ihre Wohnung im vierten Stock. Julien drückte auf die Klingel.

„Ja?“ ertönte eine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher neben der Tür.

„Hier ist Julien Luminet. Ist Benny da?“

„Ja, komm rauf!“

Ein leises Summen ertönte und Julien stieß die Glastür auf. Auf den uralten langsamen Fahrstuhl, der bestimmt gerade irgendwo im obersten Stock hielt, wollte er nicht warten. Also stieg er behende die vier Treppen hoch.

Als er oben ankam, stand Benny Schröder bereits in der Tür.

„Hallo, Benny! Du bist doch nicht etwa krank?“

„Nee! Isch war beim Tschanarzt!“ erwiderte er und deutete auf seine geschwollene Wange.

„Au Backe! Das sieht nicht gut aus. Tut bestimmt schön weh?“

„Ist alles noch ganz taub von der Spritze. Da schau her!“ Benny zog sein zusammengeknotetes Taschentuch aus der Hosentasche und wickelte es vorsichtig auf. Er hielt es samt Inhalt — einem riesigen Backenzahn — Julien unter die Nase.

„Puh! Der hat ja gemein lange Wurzeln! Kommst du morgen wieder in die Schule?“ Benny nickte.

„Na, dann mach’s gut! Ich komme sonst zu spät zum Essen. Ich nehme an, du wirst in deinem Zustand nichts essen können.“

„Doch, Schuppe!“ sagte Benny niedergeschlagen und machte ein bekümmertes Gesicht. Julien wußte nicht, ob sein Freund dem guten Mittagessen nachtrauerte, dessen verlockender Duft das Treppenhaus erfüllte, oder ob es daher rührte, daß die Betäubungsspritze langsam nachließ.

„Ach, ja. Das hätte ich beinahe vergessen. Damit es dir nicht langweilig wird, habe ich dir die Hausaufgaben aufgeschrieben“, sagte Julien grinsend und zog ein ziemlich zerknittertes Blatt Papier aus der Tasche, das aussah, als wäre es aus einem Schulheft herausgerissen worden — was auch der Fall war. (Julien ging leider nicht sehr sorgsam mit seinen Schulsachen um.)

Mit Benny war für den Rest des Tages nicht mehr viel anzufangen. Wer von Zahnschmerzen geplagt wird, meidet für gewöhnlich die Gesellschaft anderer Leute. So beeilte sich Julien also, rechtzeitig zum Essen nach Hause zu kommen. Zu spät zum Unterricht erscheinen war eine Sache — was konnte man da schon verpassen? — aber zu spät zum Essen zu kommen, das ist etwas ganz anderes, dachte er.

Das Essen schmeckte vorzüglich, wenn es auch nicht ganz nach seinem Geschmack war, aber Julien war ein rechtes Leckermaul, dem man es ohnehin kaum recht machen konnte.

Die Hausaufgaben erledigte er gleich nach dem Essen, dann könnte er den ganzen Nachmittag lang das neue Computerspiel ausprobieren, welches er von Benny geliehen hatte. Bennys Vater arbeitete nämlich in einer Firma, die Computerspiele herstellte, und so bekamen Benny und seine Freunde die meisten Spiele vorher zum ausprobieren. Julien liebte Computerspiele, besonders, jene, welche eine richtige Handlung haben und wo man als Spieler Rätsel und Aufgaben lösen mußte.

Julien war zwar nicht ein Computer-Genie wie Benny, der sogar eigene Programme schreiben, die mindestens so gut waren, wie gekaufte, aber das war normalerweise auch nicht nötig. Heute allerdings hatte er Schwierigkeiten, das neue Spiel zum Laufen zu bringen, und nachdem er alle seine Künste vergeblich aufgeboten hatte, um den Fehler zu finden, war er drauf und dran, Benny anzurufen, als ihm einfiel, daß es nicht sehr rücksichtsvoll wäre, seinen leidenden Freund wegen einer solchen Sache zu sich zu bestellen.

Also schaltete er mißvergnügt den Rechner aus und schaute aus dem Fenster. Draußen war es ziemlich windig und der Himmel war trübe und wolkenverhangen. Zum Ausgehen hatte er auch keine Lust. Außerdem war es ziemlich müde; nicht zuletzt, weil er in der vergangenen Nacht so schlecht geschlafen hatte.

So legte er sich aufs Bett und war im Begriffe, die Augen für einen kleinen Nachmittagsschlaf zu schließen, als ihm das kleine Notizbuch wieder einfiel. Im Nu war er auf den Beinen und wühlte in seiner Schultasche nach dem roten Büchlein. Mit dem Buch legte er sich wieder auf das Bett und betrachtete es neugierig.

Das Notizbuch war in leuchtend roten Samt eingebunden und schimmerte, wenn man es im Licht hin und her drehte. Vorsichtig schlug er die erste Seite auf. Das Papier war sehr fein und leicht gelblich und mit feinen rosa Linien durchzogen. Oben und unter auf den Seiten waren kleine rosa Herzchen als Verzierung aufgedruckt. „Typisch Mädchen!“ dachte Julien lächelnd.

Auf der Titelseite stand in großen handgeschriebenen Zeichen:

Was mochte das wohl heißen? War dies vielleicht der Name des Mädchens? Julien blätterte weiter. Das Buch war ungefähr zur Hälfte vollgeschrieben. Der Inhalt war mit gewöhnlicher Schreibschrift geschrieben; einer runden, sehr schönen Schrift, wie Julien fand, und mit einer blaugrünen Tinte. Es war seine Lieblingsfarbe. Auch er benutzte seit geraumer Zeit diese Tinte, die es nicht in jedem Schreibwarengeschäft zu kaufen gab. „Encre bleu des mers du sud“ war auf dem kleinen achteckigen Tintenfäßchen, welches auf seinem Schreibpult stand, zu lesen.

Auf den ersten Blick war ihm kein richtiger Name und keine Anschrift aufgefallen. Es gehörte sich zwar nicht, fremde Tagebücher zu lesen, aber einerseits war das vielleicht die einzige Möglichkeit herauszufinden, wem es gehörte, und andererseits war Julien einfach viel zu neugierig, was das schöne schwarzhaarige Mädchen in sein Buch geschrieben hatte. Er blätterte also vorwärts, bis zum letzten Eintrag. Er trug das Datum des vergangenen Tages:

 

Ich hatte gestern erneut einen seltsamen Traum. Habe mit M. darüber gesprochen. Sie meinte, das habe nichts zu bedeuten. Aber ich bin davon überzeugt, daß dieser Traum entweder ein vergangenes oder zukünftiges Ereignis zeigte.

Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber ich weiß noch, daß ich mich irgendwo in einer großen Halle (vielleicht ein Palast?) befand. Es waren viele Menschen dort. Einige kannte ich sehr gut, andere nicht, aber es waren keine Menschen, die ich kenne. Auf einmal schrieen die Leute und liefen fort. Ich spürte, daß irgend etwas entsetzliches geschehen würde. Auch ich wollte weglaufen, konnte mich aber nicht rühren. Da begann das Gebäude um mich herum einzustürzen. Ich war plötzlich auf der Terrasse. Der Himmel war schwarz und voller dicker violetter Sturmwolken. Ich fühlte ein schweres Verhängnis herannahen. Dann kamen einige Krieger auf großen schwarzen Pferden. Und auf einmal war da einer auf einem weißen Pferd. Er nahm mich mit sich fort. Ich fragte ihn, wer er sei er drehte sich um, aber ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.

An mehr erinnere ich mich nicht. Normalerweise würde ich mich nicht so sehr mit einem Traum beschäftigen, aber ich habe ihn gleich zweimal geträumt. Beide Male geschah genau das gleiche. Und jedesmal fühlte ich eine tiefe Angst und Beklemmung nach dem Aufwachen. Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich müsse sterben. das war natürlich dumm von mir…

 War das die Möglichkeit? Julien starrte wie elektrisiert auf die Seite. So etwas konnte es doch nicht geben! Das entsprach genau dem Traum, den er selber in der vergangenen Nacht gehabt hatte. Auch er war auf einem Pferd gesessen und vor einem schwarz dräuenden Verhängnis geflohen, bis er in einen riesigen Palast kam, wo er nach jemandem suchte, den er nicht finden konnte. Schließlich traf er ein wunderschönes Mädchen in einem rosa Kleid. Er hatte es auf sein Pferd gehoben und war mit ihm aus dem zerstörten Palast geflohen. Doch an ihr Gesicht konnte er sich nicht erinnern.

„So ein Unsinn!“ sagte er laut. Das mußte ein Zufall sein. Und überhaupt. Wie kam er dazu von einem weißen Pferd zu träumen? Er mochte keine Tiere; schon gar nicht so große. Vermutlich hatte er in der Nacht zu lange ferngesehen und war während der Film lief eingeschlafen. Im Traum hatten sich dann Film und Phantasie vermischt. Ja, das war die Erklärung!

Julien blätterte einige Seiten zurück, bis er eine weitere interessante Stelle fand:

 

…und das war gestern Nacht. [Datum von vor zwei Wochen] Ich träumte von einem Mädchen, das genau so aussah wie ich, oder eigentlich war ich es; das kann ich nicht genau sagen. Jedenfalls stand ich mir selber gegenüber. Ich hatte auf einmal riesige Angst. Das andere Ich packte mich und versuchte, sich mit mir zu vereinigen. Ich wollte fliehen, aber ich konnte sie , das heißt mich, nicht abschütteln. Die andere sprach irgendwelche Worte, und dann begannen wir miteinander zu verschmelzen. Es tat weh und ich bekam keine Luft mehr. Als ich aufwachte hielt ich mein Kissen mit beiden Armen fest umklammert, so daß ich kaum atmen konnte. So etwas war mir noch nie passiert…

 

„Die Kleine sollte dringend einen guten Psychiater aufsuchen“, murmelte Julien und legte die Stirn in Falten.

Er überflog noch einige weitere Seiten. Das Tagebuch war ungefähr ein halbes Jahr alt. Es enthielt das übliche Mädchen-Blabla, wie Julien fand. Klatsch und Tratsch über Freundinnen und Schule. Außerdem war es erst vor zwei Monaten hierher gezogen. Das schien sie am meisten zu beschäftigen. Sie wohnte in einem alten und ziemlich großen Haus, welches

 …frisch renoviert worden ist. Es stinkt überall nach Farbe. Aber draußen ist es noch viel zu kalt, um die Fenster offen zu lassen. Aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Bloß der Schulweg ist ziemlich weit und mühsam, denn ich muß zweimal den Bus wechseln. Das bedeutet, daß ich morgens noch früher aufstehen muß (*^_^*). Aber die Schule ist ganz in Ordnung. Ich habe auch einen Jungen kennen gelernt, der ziemlich süß aussieht. Er heißt B. (!) Er wohnt nur ein paar Häuser weiter. Ich würde ihn gerne näher kennen lernen, aber ich fürchte, er ist ziemlich schüchtern. Er hat nie Zeit, steckt den ganzen Tag seine Nase in die Bücher. Mal sehen…

 

„Jööh!“ machte Julien. Das war vor gut drei Wochen. Wer mochte dieser B. wohl sein? Auf seine Schule ging sie jedenfalls nicht, da wäre sie ihm bestimmt schon aufgefallen.

Was stand noch darin? Nichts ergiebiges. B. war offenbar groß, schlank, trug eine Brille und hatte ein „ganz süßes Lächeln“. Außerdem waren da noch zwei Mädchen, M. und N. die in ihre Klasse gingen und mit denen sie sich offenbar ganz gut verstand. Des weiteren vermißte sie ihre alten Freundinnen und machte sich Sorgen, daß es ziemlich lange dauern würde, bis sie sich in dieser „schrecklich großen und unübersichtlichen Stadt“ zurechtfinden würde.

„Ja, ja, so hat jeder seine Sorgen heutzutage!“ dachte Julien und klappte das Buch zu. „Warum können die Leute nicht so ordentlich sein und ihren Namen in ihre Bücher stempeln“, fragte er sich und legte das Buch in die Schublade seines Nachttisches, wo er es sorgfältig unter seinen Taschentüchern versorgte.

Jetzt war er zwar um einige Einblicke in das Geistes- und Seelenleben eines Schulmädchens reicher, aber die Identität seiner geheimnisvollen Schönen war noch immer nicht geklärt. Vielleicht könnte ihm ja Benny mit seinen Computern helfen. Andererseits würde ihn der bestimmt dafür schelten, daß er ungeniert in dem fremden Tagebuch gelesen hatte. Bei allen Vorzügen, die sein Freund hatte, war er doch schrecklich korrekt, ja manchmal fast bieder.

Der Rest des Tages verlief ereignislos. Als es Zeit war, zu Bett zu gehen, war Julien ein wenig unruhig. Würde er heute ruhig durchschlafen können, oder würde ihn wieder dieser Alptraum plagen?

Während er im Bett lag und an die Decke starrte, kamen ihm vielerlei Gedanken in den Sinn. Das war immer so. Wenn er unbedingt schlafen wollte, dann war er so aufgekratzt, daß er überhaupt keine Ruhe fand; und wenn er aufbleiben wollte, dann fielen ihm stets vor Müdigkeit die Augen zu. Irgendwann aber sank auch er in einen tiefen Schlummer.

Auch in dieser Nacht träumte Julien lebhaft. Aber für einmal waren es angenehme Träume, die, soweit er sich am andern Morgen noch daran erinnern konnte, von dem geheimnisvollen Mädchen handelten und auch von Bennys Backenzahn und anderen Merkwürdigkeiten; wie das beim Träumen nun einmal so ist.


Uff! Das erste Kapitel wäre damit endlich geschafft. Wenn ich daran denke, daß die ganze Geschichte auf ca. 54 Kapitel angelegt ist....

Vorherige Seite

Seitenanfang

Nächste Seite

Titelseite/Inhaltsverzeichnis

Home

© 2003 FIE. All rights reserved. - Stand: 28. April 2003 02:44