Les Princes des Sept Cieux

 

Drittes Kapitel

Der Überfall

 Asuka Hitano stand in der Mitte ihres geräumigen Zimmers und schaute sich verzweifelt in dem Chaos aus herumliegenden Büchern, Heften, Zeitschriften, Kleidungsstücken, Kissen, und allerlei anderem Krempel, der auf dem Schreibtisch, dem Bett und dem Fußboden verstreut lag, um. Jetzt suchte sie schon seit über einer Stunde nach ihrem Tagebuch, aber es blieb verschwunden. Erschöpft ließ sie sich auf das Bett fallen, ungeachtet der Gegenstände, die darauf lagen, und seufzte vernehmlich. Wann hatte sie das Buch zuletzt in der Hand gehabt? Das mußte vorgestern gewesen sein. Ja, jetzt erinnerte sie sich; sie hatte etwas über ihren letzten Alptraum aufgeschrieben.

Auf einmal durchzuckte sie ein entsetzlicher Gedanke. Sie richtete sich abrupt auf. Was wäre, wenn sie es unterwegs verloren hätte, oder, noch schlimmer, in der Schule, dort, wo alle sie kannten und wußten, wem das Buch gehörte? Sie spürte, wie eine Hitze in ihr aufstieg; ihr Herz begann heftig zu schlagen und das Blut schoß ihr ins Gesicht. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, das Buch überhaupt aus dem Haus zu nehmen? Sie mußte daran denken, was alles sie ihrem Tagebuch in den vergangenen Monaten anvertraut hatte, und wer es wohl in diesem Augenblick läse? Aber dann fiel ihr ein, daß die Kameraden in der Schule nichts dergleichen gesagt hatten oder sich anders als sonst benommen hatten.

„Wenn die in der Schule das Buch gefunden hätten, dann hätten sie sich bestimmt einen Spaß daraus gemacht“, sagte sie leise zu sich. Vielleicht wäre es jetzt das beste, wenn sie einen kleinen Spaziergang unternähme. Das würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen. Doch zuvor mußte sie ihr Zimmer aufräumen.

Nach einer guten halben Stunde anstrengenden Aufräumens, sah das Zimmer endlich wieder einigermaßen zivilisiert aus. Sie zog ihre Jacke über und verließ das Haus. Anfangs lenkte sie ihre Schritte unbewußt einfach geradeaus die Straße entlang, bis sie nach einer Weile endlich an einer Bushaltestelle vorbeikam. Während sie achtlos an dem Wartehäuschen mit der rot lackierten Bank vorüberging, durchzuckte sie die Erkenntnis wie ein Blitz. Auf einmal fiel ihr wieder ein, wie sie vor zwei Tagen an der anderen Haltestelle über die Füße jenes Burschen gestolpert war, der auf der Bank geschlafen hatte. Dabei waren alle ihre Sachen auf die Erde gefallen, darunter wohl auch ihr Tagebuch. In der Eile hatte sie es wahrscheinlich übersehen.

Voller Ungeduld fuhr sie nach der Haltestelle, die auf ihrem Schulweg lag. Natürlich wußte sie wohl, daß es höchst unwahrscheinlich war, daß das kleine Buch nach über zwei Tagen noch immer dort lag, aber was sollte sie sonst tun?

Natürlich konnte sie das Buch nirgends finden. Immerhin war es niemandem in die Hände gefallen, der sie kannte. So brauchte sie sich wenigstens nicht zu schämen. Trotzdem schmerzte, und mehr noch, ärgerte sie der Verlust ihres wertvollen Tagebuches sehr. So bliebe ihr eben nichts anderes übrig, als sich demnächst ein neues zu kaufen. Sie wußte auch schon, wo sie nachschauen wollte: in einer Gasse in der Altstadt hatte sie ein altes, sehr nostalgisches Schreibwarengeschäft entdeckt; dort wollte sie schon lange einmal einkaufen gehen, war aber bislang noch nicht dazu gekommen.

Da sie an diesem Nachmittag frei hatte, beschloß sie, sich gleich auf einen kleinen Einkaufsbummel in die Stadt zu begeben. Asuka liebte die engen, verwinkelten Gassen und Sträßlein mit den Durchgängen und Hinterhöfen, Stiegen und Treppchen. Vor allem die alten Geschäfte in den mittelalterlichen Fachwerkhäusern hatten es ihr angetan. Wenn man dort eintrat, hatte man das Gefühl, die Zeit schien im Innern dieser Häuser stillzustehen. Das war etwas ganz anderes, als die breiten Boulevards mit den hohen Glasfassaden und den glitzernden, prächtig illuminierten Schaufenstern der Luxusboutiquen.

Asuka beschleunigte ihre Schritte, als eine kühle Brise sie frösteln ließ. Bis eben hatte noch die Sonne geschienen und einen Schimmer frühlingshaften Glanzes über die grauen Straßenzüge geworfen, aber jetzt schoben sie mehrere Wolkenstreifen vor die Sonne, und auf einmal fühlte sie, daß der Winter noch keineswegs vertrieben war.

Als sie just in eine schmale Seitenstraße einbog, kam ihr auf dem Bürgersteig, der so schmal war, daß kaum zwei Personen nebeneinander gehen konnten ein Junge entgegen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, als sie erkannte, daß es der Junge aus der Nachbarschaft war, den sie schon öfter aus der Ferne gesehen, aber noch nie persönlich gesprochen hatte. Jetzt wäre die Gelegenheit, ihn anzusprechen, sich vielleicht auf eine Tasse Tee in einem gemütlichen Café zu verabreden. Jedoch schien er sie gar nicht wahrzunehmen. Den Blick nachdenklich auf den Boden gerichtet schlenderte er ihr entgegen.

„Wenn er mich nicht anschaut, dann muß ich es halt auf eine weniger elegante Art versuchen“, dachte Asuka und marschierte geradewegs auf ihn zu, und in ihn hinein. Sie rempelten mit den Schultern aneinander.

„Oh, ich bitte um Entschuldigung!“ stammelte Benny und sah Asuka erschrocken an, denn niemand andrer als er war es, der sich hier erging.

„Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?“ fragte er ein wenig verlegen. „Kann es sein, daß du in meiner Nachbarschaft wohnst?“ fragte er, obgleich er das ganz genau wußte, allein es fiel ihm gerade nichts anderes ein.

„Ja. Meine Eltern sind erst vor kurzem hierher gezogen. Ich kenne noch nicht viel Leute in dieser Stadt. Ich besuche das Mädchengymnasium.“

„Ich gehe auf das Erasmus-Lyceum. Das liegt ganz in der Nähe. Vielleicht sehen wir uns ja einmal im Bus oder in der Straßenbahn.“ Was redete er denn da für ein Zeug zusammen? Benny begann sich langsam ziemlich unbehaglich zu fühlen, angesichts der Blicke, mit denen ihn das Mädchen fixierte.

„Ich gehe gerade ein wenig spazieren“, sagte sie. „Hast du etwas bestimmtes vor?“

„Ja! Ich habe hier in der Gegend etwas zu erledigen. Ähm! Vielleicht sehen wir uns ja bei Gelegenheit mal wieder. Ich habe einen Freund, der dich gerne einmal sprechen würde.“

„Ja? Was will er denn von mir?“

„Nun, das wird er dir selber sagen. Ich — äh — ich muß jetzt weiter. Also dann, mach’s gut!“ Er deutete eine leichte Verbeugung mit dem Kopf an und ging langsam weiter, beschleunigte seine Schritte aber bald und fühlte sich, als er außer ihrer Sichtweite war, noch verwirrter als vorher.

In Wirklichkeit hatte er nichts in dieser Gegend zu „erledigen“, doch zog es ihn aus einem anderen Grunde hierher. Er befand sich jetzt nur eine Straße von der Gasse entfernt, wo er in der vergangenen Nacht auf das geheimnisvolle starke Mädchen gestoßen war. Irgend etwas zog ihn an diesen Ort zurück. War es die Neugier, was in der Nacht tatsächlich geschehen war, oder wollte er sich einfach nur vergewissern, daß das heftige Gefühl, welches ihn in dem Augenblick, als er das Glas splittern hörte und die schwarze Gestalt in der Dunkelheit verschwunden war, überkommen hatte. Es war ein unbeschreibliches, äußerst intensives Gefühl gewesen, welches er unmöglich beschreiben konnte. Es war ihm gewesen, als fühlte er eine eiskalte Hand in seine Brust greifen und ihm das Herz zusammendrücken. Aber gleichzeitig hatte er auch eine andere Empfindung gehabt: das Gefühl einer unbekannten, mächtigen Kraft, die in ihm geweckt wurde. Und dann war da noch das Mädchen.

Benny schüttelte den Kopf. So ein Unsinn! Wie kam er nur dazu, solche Dinge zu fühlen und zu denken? Normalerweise ließ er sich nicht zu heftigen Emotionen und Gefühlsbewegungen hinreißen. Vermutlich wollte er einfach noch einmal bei Tageslicht an den Ort seines nächtlichen Erlebnisses zurückkehren, um sich zu vergewissern, daß alles nur Einbildung gewesen war.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrat er die Straße, wo sich der kleine Laden befand. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was für eine Art von Geschäft es war. In dem Durcheinander der vergangenen Nacht hatte er sich wohl gar nicht darum gekümmert.

Jetzt aber stand er vor den Schaufenstern eines kleinen, ziemlich altmodischen Uhren- und Schmuckladens, welcher vor allem mehr oder weniger antike Stücke feil bot. Die beiden verhältnismäßig kleinen, noch in verwittertem Holz gerahmten Fenster waren mit einigen interessanten Schmuckstücken, vor allem Ringen und Halsketten, die nicht besonders teuer waren, bestückt. Im Inneren des Ladens brannte kein Licht. Das Schutzgitter vor der Eingangstür war zugezogen. Auf einem fliederfarbenen, handgeschriebenen Zettel, der von innen an die Glastür geheftet worden war, stand geschrieben: Vorübergehend geschlossen. In dringenden Fällen bitte anrufen unter Telephon…

Benny beschirmte seine Augen mit den Händen und starrte zwischen den Gitterstäben durch die Tür hinein. Das Geschäft war nicht besonders groß. Eine gläserne Theke mit einer altmodischen Registrierkasse und ein kleiner mit dunklem Samt bezogener Tisch und zwei Stühlen bildete neben einigen Vitrinen an den Wänden die gesamte Einrichtung. Ein blauer Vorhang schirmte ein Hinterzimmer ab.

Benny zog sich enttäuscht zurück. Er war unschlüssig, was er tun sollte, als ihm einfiel, daß er in der Nacht gar nicht hier in dieser Straße, wo sich der Haupteingang und die Schaufenster befanden, gewesen war, sondern in der schmalen Gasse auf der Rückseite des Gebäudes.

Es war nicht schwer die schmale Gasse zu finden. Sie mündete nach zwei hohen, ziemlich schäbigen Wohnhäusern, deren vom Schmutz der Jahrzehnte schwarze Fassaden hoch aufragten und nur einen schmalen streifen grauen Himmels übrig ließen, in einen Hinterhof.

Benny schaute sich um. Ein unangenehmer Geruch von gekochtem Kohl und von Fäulnis lag in der Luft und raubte ihm beinahe den Atem. Der Gestank kam von den Mülltonnen, neben denen er gerade stand. Angewidert ging er einige Schritte weiter. Auf einmal hörte er hinter sich ein dumpfes Poltern und das Splittern von Glas. Vor Schreck machte Benny einen Satz zur Seite und fuhr wie der Blitz herum. Aber vor ihm stand kein brutaler Verbrecher, kein Monster und auch kein kräftiges blondes Mädchen, sondern bloß eine magere grau getigerte Katze, die in einer der Mülltonnen gestöbert hatte.

„Ach du warst das“, sagte er erleichtert und beugte sich zu der Katze hinab. Aber das Tier machte einen Buckel und fauchte ihn giftig an, so daß er sich rasch wieder zurückzog. „Das ist ja eine reizende Gegend hier“, meinte er. Er betrachtete das vor ihm liegende Haus. Neben dem Eingang befand sich eine weitere schmalere Tür mit einem vergitterten Fenstereinsatz, daneben ein Fenster, wie zu einem Laden oder einer Waschküche. Das Fenster war notdürftig mit Brettern vernagelt worden. Anscheinend war das Glas zerbrochen: das Geräusch, das er und Julien in der vergangenen Nacht wahrgenommen hatten.

Aber warum hatten die Einbrecher das Fenster eingeschlagen, wenn sie auch die Tür hätten benutzen können? fragte er sich. Aber eigentlich ging ihn die ganze Sache nichts an, und er fragte sich langsam, was er überhaupt hier zu suchen hatte. Die ganze Gegend war nicht sehr sympathisch und machte einen recht heruntergekommenen Eindruck. Jedoch war nicht es hier nichts ungewöhnliches oder gar unheimliches auszumachen.

Benny ging zu dem Hauseingang und schaute sich die Namen auf den meist handgeschriebenen Zetteln auf dem Klingelbrett an. Er war überrascht, daß in diesem Haus so viele Parteien wohnten. Die Namen klangen durchwegs ausländisch und waren zum Teil kaum auszusprechen. Hier würde er kaum das geheimnisvolle Mädchen finden, dessen Auftritt ihn derart durcheinander gebracht hatte.

Je mehr er darüber nachdachte, um so merkwürdiger kam ihm dies vor. Auf eine unerklärliche Art fand er dieses Mädchen anziehend. Sie kam ihm beinahe bekannt vor, obgleich er sie nur ein einziges Mal und nur für einen kurzen Augenblick gesehen hatte, hatte er das Gefühl, als hätte er eine lange Zeit verschollene teure Person wiedergefunden. Das Mädchen hatte ihm durchaus gefallen, aber nicht so, wie andere hübsche Mädchen. Im Grunde war es weder ihr Aussehen, noch ihr starker Auftritt, welches ihn so irritiert hatte, sondern die Tatsache, daß er sich in einem ungeheuren Maße zu ihr hingezogen fühlte, nicht weil er sie liebte oder begehrte, sondern, weil sie ihm vertraut war.

Benny warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah, daß es höchste Zeit war, nach Hause zu gehen, um nicht zu spät zum Abendessen zu kommen.

In dieser Nacht schlief Benny nicht besonders gut, was für ihn recht ungewöhnlich war, ließ er sich doch sonst durch kaum etwas aus der Ruhe bringen.

 

Sein Freund Julien war an diesem Tag besonders guter Laune. Seine Späße und sein fröhliches Grinsen wirkten so ansteckend, daß auch Benny sich entspannte und viel besser fühlte, als noch am Tage zuvor.

„Sag’ mal, Jules! Was ist heute mit dir los? Du bist ja ganz aufgekratzt“, sagte er nach Schulschluß zu ihm.

„Nichts besonderes. Ich freue mich halt einfach, daß morgen ein Feiertag ist und wir heute Nachmittag nicht zur Schule müssen.“

„Du bist einfach unverbesserlich, Jules!“ lachte Benny und machte eine abwehrende Handbewegung.

„Also, ehrlich! Zwei Stunden Mathe am Nachmittag; das ist einfach nicht auszuhalten. Den, der sich diesen bescheuerten Stundenplan ausgedacht hat, sollte man täglich verprügeln. Hast du für heute Nachmittag schon etwas vor?“

„Ja. Ich wollte in die Bücherei gehen. Das heißt, ich muß in die Bücherei, weil meine Bücher fällig sind, und du weißt ja, die Mahngebühren sind horrend. Übrigens — hast du der kleinen Asuka ihr Notizbuch schon zurückgegeben?“

Julien machte ein verlegenes Gesicht und sagte nach einer kurzen Weile: „Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu. Außerdem ist das…“

„Eine ziemlich peinliche Angelegenheit, nicht wahr?“ vollendete Benny den Satz. „Zur Not kannst du es ja mit der Post schicken. Ich kann dir ihre Adresse aufschreiben.“

„Nein, nein! Ich mache das schon selber. Am besten gehe ich heute Abend mal vorbei.“

„Wenn du dich so genierst, kann ich ja mitkommen“, schlug Benny amüsiert vor.

„Ja? Würdest du das für mich tun?“ fragte Julien. Benny wurde rot und sagte ärgerlich: „Jetzt nimm dich aber mal zusammen! Du bist doch kein Baby mehr.“ Julien brummelte etwas unverständliches. „Vielleicht schaue ich heute Abend mal bei dir vorbei“, meinte er schließlich.

„Gerne. Es gibt Würstchen mit Sauerkraut zum Abendbrot“, sagte Benny und schmunzelte.

„So war das nicht gemeint“, erwiderte Julien säuerlich. „Aber trotzdem vielen Dank für die Einladung!“

 

Benny legte den Weg bis zur Stadtbücherei mit dem Fahrrad in wenigen Minuten zurück. Die Bücherei befand sich in einem alten Gebäude unweit des Marktplatzes, wo sie sich über drei Etagen erstreckte. Nachdem sie vor einem halben Jahr renoviert und erweitert worden war, wirkte sie nicht mehr so gemütlich und still wie zuvor, fand Benny. Aber dafür war jetzt das Angebot an Büchern und Zeitschriften größer. Das war wenigstens ein Vorteil, zumal gerade die wissenschaftlichen Zeitschriften, die ihn besonders interessierten, viel zu teuer waren, um sie selbst zu abonnieren.

Benny stellte sein Rad vor dem Haupteingang ab und schnallte die schwere Tüte mit den Büchern vom Gepäckträger ab. Kaum hatte er die Tüte frei bekommen, als er aus einiger Entfernung eine bekannte Stimme seinen Namen rufen hörte. Er drehte sich um, und sah das Mädchen Asuka zu ihm hin eilen.

„Hallo!“ sagte Asuka ein wenig atemlos. „Gehst du auch in die Bücherei oder kommst du von dort?“

„Ich gehe“, sagte Benny.

„Das trifft sich gut. Vielleicht könntest du mir die Bücherei zeigen, wenn du ein wenig Zeit hast. Ich möchte mich nämlich anmelden.“

Gemeinsam betraten sie die Bücherei. Benny fühlte sich hier ganz in seinem Element. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß Asuka gerne las und sich sehr für Bücher interessierte. Die meisten Mädchen, die er kannte — genauer gesagt, die Mädchen in seiner Klasse — andere kannte er kaum — interessierten sich für alles mögliche, nur nicht für Wissenschaft oder Literatur.

Gerne zeigte er Asuka die Bücherei und führte sie durch alle Abteilungen. Als sie ihren Rundgang beendet hatten, beschlossen sie, in einer nahe gelegenen Teestube noch einzukehren.

„Nachdem du dir so viel Zeit genommen hast, mir die Bücherei zu zeigen, ist es nur billig, wenn ich dich zu einer Tasse Tee einlade“, sagte sie zu ihm, während sie über den belebten Platz vor der Bücherei gingen.

„Hast du dich schon gut in unserer Stadt eingelebt?“ fragte Benny, als sie wenig später an einem kleinen Tisch am Fenster im ersten Stock der Teestube gegenüber der Bücherei saßen.

„Ja. Langsam weiß ich, wo man was kaufen kann und welche Straßenbahn wohin fährt“, sagte sie und warf ihm einen langen Blick über den Rand ihrer Tasse zu. Benny mußte unwillkürlich lächeln. Wenn Julien ihn jetzt sähe, der würde sich bestimmt krumm lachen, dachte er.

Sie unterhielten sich gut anderthalb stunden lang angeregt über alle möglichen Dinge, und als sie sich von ihren Stühlen erhoben, hatte Benny das Gefühl, als kenne er Asuka schon eine lange Zeit. Ihre freundliche und offenherzige Art machten es ihm leicht, sich ihr gegenüber unbefangen zu äußern.

Als die beiden die Teestube verließen, hatte es bereits eingedunkelt. Da sie beide den selben Heimweg hatten, ging Benny neben ihr her und schob sein Fahrrad. Sie gingen eine Weile schweigend die Straße entlang, als Asuka auf einmal einfiel, daß sie noch ein neues Tagebuch hatte kaufen wollen. Da der kleine Papierladen, den sie suchte ganz in der Nähe lag, begleitete Benny sie. Er warf einen unauffälligen Blick auf seine Uhr; es war kurz nach sechs Uhr. Wenn sie noch etwas einkaufen wollten, dann würden sie sich ein wenig beeilen müssen.

Der Schreibwarenladen lag in der Altstadt in der Färbergasse. Während Asuka fasziniert die alten Fachwerkhäuser zu beiden Seiten des schmalen Sträßleins bewunderte, fiel Benny auf, daß er schon seit langer Zeit nicht mehr hier gewesen war und ihm die Gegend beinahe fremd erschien. Bei einbrechender Nacht sahen diese engen, verwinkelten Straßen und Gassen sehr malerisch und vielleicht sogar ein wenig unheimlich aus, fand er.

Zu ihrer Enttäuschung mußte Asuka feststellen, daß der Laden bereits geschlossen war. „Schade! Die machen hier schon um fünf zu“, sagte sie.

„Ich glaube, wenn wir am Ende der Straße nach rechts abbiegen, dann kommen wir zur Straßenbahn“, sagte Benny.

„Aber diese Straße führt bergauf“, wandte sie ein.

„Das stimmt. Aber es gibt eine Treppe, die hinunter führt. Ich glaube, es gibt sogar eine Rampe für Fahrräder.“ Er war sich dessen zwar nicht so sicher, aber zur Not müßte er das Rad halt tragen. Sie gingen weiter, als Asuka plötzlich einige Häuser weiter vor einem Schaufenster stehen blieb. Es handelte sich um einen kleinen Schmuckladen, wo handgefertigter Schmuck aus Silber und Halbedelsteinen verkauft wurde.

„Oh! Das möchte ich mir rasch anschauen gehen“, sagte sie und starrte mit leuchtenden Augen in das Fenster.

„Ich warte hier draußen auf dich. Ich kann das Fahrrad hier nicht abstellen. Es fällt immer um. Die Straße ist zu abschüssig.“

„O.k. Ich bin gleich wieder da.“ Während sie das Geschäft betrat. Versuchte Benny seinen linken Schuh, dessen Schnürsenkel aufgegangen war, wieder zuzubinden, ohne dabei sein Rad loszulassen, was eine ziemlich knifflige Angelegenheit war und am Ende dazu führte, daß das Rad umkippte und die Tasche mit den Büchern sich vom Gepäckträger löste. Benny hatte also alle Hände voll zu tun.

Kaum hatte er seine Sachen wieder in Ordnung gebracht, als er ein helles blaues Leuchten wahrnahm. Es drang aus dem Inneren des Ladens und schien diesen ganz zu erfüllen. Das Leuchten war sehr hell und irgendwie undurchsichtig, so daß es wie ein leuchtender Nebel aussah. Vor Schreck und Überraschung ließ Benny sein Fahrrad los und stürzte nach der Tür. Ohne nachzudenken stieß er die Tür auf und betrat den Laden. Unwillkürlich hielt er die Luft an. Im Inneren des Ladens war es eiskalt. Eine derartige Kälte hatte Benny noch nie gespürt. Sie schien durch Mark und Bein zu dringen. Im Nu sträubten sich ihm die Haare. Er schnappte nach Luft, aber es war ihm, als wäre die ganze Luft aus dem Raum abgesaugt worden. Ein wenig benommen stolperte er mit weit aufgerissenen Augen einige Schritte vorwärts.

Auf einmal ließ das Leuchten nach und aus dem Ursprung dieses geheimnisvollen Lichtes schien ein schwarzer Schatten zu wachsen. Er wurde innerhalb weniger Sekunden größer und nahm eine menschenähnliche Gestalt an. Aber es war kein Mensch, der in Lebensgröße vor Benny stand, sondern nur ein schwarzer an den Rändern verschwimmender Schatten. Er fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog, und eine lähmende Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte schreien, weglaufen, aber er brachte keinen Laut hervor und konnte sich nicht um einen Millimeter bewegen.

Die schwarze Gestalt schien ihn anzuschauen, obgleich Benny keine Augen an ihr erkennen konnte. Da vernahm er zu seinen Füßen ein leises Stöhnen. Er blickte nach unten und sah, durch den Lichtnebel die Umrisse einer kleinen Gestalt auf dem Fußboden liegen. Es war Asuka. Was war hier geschehen? Was hatte man dem Mädchen angetan?

Ein heftiger unbezähmbarer Zorn stieg in Benny auf. Er konnte es sich nicht erklären, aber je größer sein Zorn wurde, desto stärker wurden seine Kräfte und die lähmende Kraft begann von ihm zu weichen. Er machte einen Schritt auf den Schatten zu. Dieser zögerte einen Augenblick lang, dann packte er Benny, hob ihn mit weichem aber unbarmherzigen Griff in die Höhe und schleuderte ihn quer durch den Raum gegen das Fenster. Zum Glück war das Fenster stabiler, als es aussah, so daß es nicht zerbrach und Benny benommen in der Auslage landete.

Mit einer Energie, die er sich niemals zugetraut hätte, rappelte er sich wieder auf und erhob sich zu voller Größe. Er fühlte eine unbezähmbare Kraft in sich aufsteigen, als habe jemand das Domdampfventil einer Dampfmaschine geöffnet. Er wollte das Ungeheuer, oder was immer das war, was vor ihm stand angreifen und vernichten. Aber noch bevor er sich zu einer Aktion entschließen konnte, zog der Schatten sich zusammen, wurde kleiner und dabei kompakter und schärfer, bis er wie ein kleiner schwarzer Ball in der Luft schwebte. Daraufhin schien sich auch der Lichtnebel zu verdichten. Für einen Augenblick konnte Benny den ganzen Raum überblicken, dann gab es einen gleißenden Lichtblitz und ihm schwanden die Sinne.

Nach einer Weile — wie lange er besinnungslos gewesen war, vermochte er nicht zu sagen — kam er wieder zu sich. Er bemerkte, wie Asuka, die neben ihm auf dem Boden lag, die Augen aufschlug und sich verwirrt an den Kopf griff. Obwohl er selbst sich schwach und wie gerädert fühlte, half er Asuka wieder auf die Beine. Während sie bald wieder bei Besinnung war und aus eigener Kraft stehen konnte, gelang es Benny kaum, sich auf den Beinen zu halten. Ihm war schwindelig und vor seinen Augen flimmerte es. In seinem Kopf summte und brauste es wie in einem Bienenstock.

„Ist alles in Ordnung, mit dir Benjamin?“ fragte Asuka besorgt und stützte ihn während er zu einem Stuhl, der in der Ecke stand, taumelte. „Du siehst nicht gut aus. Was ist geschehen? Wie kommst du überhaupt hier herein?“

„Geht es Ihnen nicht gut, junger Mann?“ fragte die Ladenbesitzerin, die hinter der Theke hervorkam.

„Das blaue Licht und das Monster…“ stammelte Benny atemlos. Asuka und die Frau starrten ihn an, als sei er ein Monster.

„Soll ich einen Arzt rufen? Sie sehen ganz blaß aus“, sagte die Frau.

Benny schüttelte langsam den Kopf, wovon sein Schwindelgefühl nicht besser wurde und sagte leise: „Nein, nein. Es geht schon wieder. Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?“

Während die Frau das Wasser holen ging sah er Asuka irritiert an. Sie war besorgt und ein wenig ängstlich, aber nicht erschrocken oder verwirrt.

„Was hast du gesehen?“ fragte er sie schließlich.

„Gesehen? Nichts. Ich habe mir die Armbänder in der Vitrine angeschaut. Da lagst du plötzlich hinter mir auf dem Boden. Ich bin einen Schritt zurückgetreten und über dich gestolpert und hingefallen.“

„Hast du kein Licht gesehen und… und sonst irgend etwas?“ fragte er und sah sie mit einem durchdringenden Blick an. Sie schüttelte den Kopf und fragte: „Was ist denn mit dir los?“ Benny wandte den Blick ab und schloß die Augen. War das die Möglichkeit? Konnte es sein, daß er sich das alles nur eingebildet hatte? Vielleicht war er aus irgendeinem Grund ohnmächtig geworden und hatte alles nur geträumt. Aber warum sollte er plötzlich ohnmächtig werden? So etwas war ihm noch nie passiert. Außerdem war er erst vor drei Wochen beim Arzt gewesen. Aber irgend etwas stimmte mit ihm nicht. Er fühlte sich furchtbar müde, ja geradezu erschöpft, als habe ihm ein Vampir alle Lebensenergie abgesaugt. — Was für ein absurder Gedanke!

In diesem Augenblick kam die Ladeninhaberin mit einem großen Glas Wasser zurück. Mit großen langsamen Schlucken trank Benny das ganze Glas leer. Das Wasser tat ihm gut. Das Brummen in seinem Kopf wurde allmählich schwächer und er konnte wieder klar sehen.

„Geht es wieder?“ fragte die Frau.

„Ja, ja, ich denke schon“, sagte Benny und stand langsam auf. „Ich glaube ich gehe, jetzt besser nach Hause.

„Ich werde dich begleiten. Du bist immer noch ganz bleich. Du solltest unbedingt zu einem Arzt gehen“, meinte Asuka und sah ihn besorgt an. Benny versuchte aufmunternd zu lächeln. „Ich bin wieder ganz in Ordnung“, sagte er. Er dankte der Frau für das Wasser und verließ an Asukas Seite den Laden.

Die frische, kühle Luft auf der Straße tat ihm gut. Langsam kehrte seien Kraft zurück. Er sah auf die Uhr.

„Es ist schon viertel vor sieben“, sagte er. Asuka blickte unwillkürlich auch auf ihre Uhr und sagte dann verwundert: „Nein, es ist erst zwanzig vor.“

„Das kann nicht sein. Meine Uhr geht ganz genau. Ich habe sie erst gestern nach dem Fernsehen gestellt.“ Er nahm Asukas Handgelenk und verglich die beiden Uhren. Sie hatte recht. Seine Uhr ging genau fünf Minuten vor.

„Dann muß deine Uhr kaputt sein“, meinte Asuka. „Da schau doch! Die Pendeluhr an der Wand im Laden zeigt die gleiche Zeit, wie meine.“ Benny starrte durch das Schaufenster. Asuka hatte recht.

Sie gingen weiter. Asuka schob sein Fahrrad und warf ihm ab und zu einen besorgten Blick zu. Benny bemerkte es und sagte: „Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin ganz gesund. Das hat bestimmt nichts zu bedeuten.“ Sie nickte, aber ihren Augen konnte er ansehen, daß sie keineswegs beruhigt war.

Wenig später erreichten sie die Straßenbahnhaltestelle. Asuka war gar nicht damit einverstanden, als Benny sich auf sein Rad schwingen wollte.

„Nein! Du fährst mit der Straßenbahn. Ich nehme das Fahrrad und fahre hinterher. In deinem Zustand…“

„Ich bitte dich! Man könnte ja meinen, ich würde gleich umfallen — äh — dieser Ausdruck ist vielleicht nicht gerade angebracht, aber du weißt, was ich meine“, sagte er und mußte lachen. Während Asuka nach dem Fahrplan sah, betrachtete Benny die große Uhr über dem Eingang des Postamtes.

„Das ist aber wirklich seltsam. Asuka! Sieh dir das an! Die Uhr beim Postamt zeigt die gleiche Zeit, wie meine. Ich frage mich, welche jetzt wirklich die richtige Zeit anzeigt.“ Asuka zuckte mit den Schultern und meinte: „Das ist doch jetzt egal.“

Sie wartete bis die Straßenbahn einfuhr und Benny am Fenster Platz genommen hatte, dann schwang sie sich auf Benny Rad und mußte feststellen, daß sie mit den Füßen kaum an die Pedale heranreichte. Irgendwie schaffte sie es dann trotzdem, den Weg durch die Stadt bis zu Bennys Haus unbeschadet zurückzulegen.

„Da bist du ja endlich!“ sagte er zur Begrüßung. „Ich dachte schon, du wärest unterwegs verloren gegangen.“

„Dein Rad ist viel zu groß für mich. Ich wäre zweimal beinahe gestürzt“, sagte Asuka und stellte das Fahrrad ab.

„Trotzdem; Danke fürs Herbringen“, sagte Benny und schüttelte ihr die Hand. Asuka verabschiedete sich von ihm. Sie war erleichtert zu sehen, daß Bennys Gesicht wieder etwas Farbe angenommen hatte und er einen ganz munteren Eindruck machte.

Zu Hause angelangt, machte sie sich keine weiteren Gedanken mehr über den Vorfall in der Stadt. Benny hingegen sollte noch lange über sein mysteriöses Erlebnis nachgrübeln.

Das ist also vorläufig das letzte Kapitel. Ich hab' mit dem 4. Kapitel noch einige Schwierigkeiten, so daß es wohl noch eine Weile dauern wird, bis es fertig ist.... (^_^)* 

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