Drittes
Kapitel
Der
Überfall
Asuka
Hitano stand in der Mitte ihres geräumigen Zimmers und schaute sich verzweifelt
in dem Chaos aus herumliegenden Büchern, Heften, Zeitschriften, Kleidungsstücken,
Kissen, und allerlei anderem Krempel, der auf dem Schreibtisch, dem Bett und dem
Fußboden verstreut lag, um. Jetzt suchte sie schon seit über einer Stunde nach
ihrem Tagebuch, aber es blieb verschwunden. Erschöpft ließ sie sich auf das
Bett fallen, ungeachtet der Gegenstände, die darauf lagen, und seufzte
vernehmlich. Wann hatte sie das Buch zuletzt in der Hand gehabt? Das mußte
vorgestern gewesen sein. Ja, jetzt erinnerte sie sich; sie hatte etwas über
ihren letzten Alptraum aufgeschrieben.
Auf
einmal durchzuckte sie ein entsetzlicher Gedanke. Sie richtete sich abrupt auf.
Was wäre, wenn sie es unterwegs verloren hätte, oder, noch schlimmer, in der
Schule, dort, wo alle sie kannten und wußten, wem das Buch gehörte? Sie spürte,
wie eine Hitze in ihr aufstieg; ihr Herz begann heftig zu schlagen und das Blut
schoß ihr ins Gesicht. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, das Buch überhaupt
aus dem Haus zu nehmen? Sie mußte daran denken, was alles sie ihrem Tagebuch in
den vergangenen Monaten anvertraut hatte, und wer es wohl in diesem Augenblick läse?
Aber dann fiel ihr ein, daß die Kameraden in der Schule nichts dergleichen
gesagt hatten oder sich anders als sonst benommen hatten.
„Wenn
die in der Schule das Buch gefunden hätten, dann hätten sie sich bestimmt
einen Spaß daraus gemacht“, sagte sie leise zu sich. Vielleicht wäre es
jetzt das beste, wenn sie einen kleinen Spaziergang unternähme. Das würde sie
vielleicht auf andere Gedanken bringen. Doch zuvor mußte sie ihr Zimmer aufräumen.
Nach
einer guten halben Stunde anstrengenden Aufräumens, sah das Zimmer endlich
wieder einigermaßen zivilisiert aus. Sie zog ihre Jacke über und verließ das
Haus. Anfangs lenkte sie ihre Schritte unbewußt einfach geradeaus die Straße
entlang, bis sie nach einer Weile endlich an einer Bushaltestelle vorbeikam. Während
sie achtlos an dem Wartehäuschen mit der rot lackierten Bank vorüberging,
durchzuckte sie die Erkenntnis wie ein Blitz. Auf einmal fiel ihr wieder ein,
wie sie vor zwei Tagen an der anderen Haltestelle über die Füße jenes
Burschen gestolpert war, der auf der Bank geschlafen hatte. Dabei waren alle
ihre Sachen auf die Erde gefallen, darunter wohl auch ihr Tagebuch. In der Eile
hatte sie es wahrscheinlich übersehen.
Voller
Ungeduld fuhr sie nach der Haltestelle, die auf ihrem Schulweg lag. Natürlich
wußte sie wohl, daß es höchst unwahrscheinlich war, daß das kleine Buch nach
über zwei Tagen noch immer dort lag, aber was sollte sie sonst tun?
Natürlich
konnte sie das Buch nirgends finden. Immerhin war es niemandem in die Hände
gefallen, der sie kannte. So brauchte sie sich wenigstens nicht zu schämen.
Trotzdem schmerzte, und mehr noch, ärgerte sie der Verlust ihres wertvollen
Tagebuches sehr. So bliebe ihr eben nichts anderes übrig, als sich demnächst
ein neues zu kaufen. Sie wußte auch schon, wo sie nachschauen wollte: in einer
Gasse in der Altstadt hatte sie ein altes, sehr nostalgisches Schreibwarengeschäft
entdeckt; dort wollte sie schon lange einmal einkaufen gehen, war aber bislang
noch nicht dazu gekommen.
Da
sie an diesem Nachmittag frei hatte, beschloß sie, sich gleich auf einen
kleinen Einkaufsbummel in die Stadt zu begeben. Asuka liebte die engen,
verwinkelten Gassen und Sträßlein mit den Durchgängen und Hinterhöfen,
Stiegen und Treppchen. Vor allem die alten Geschäfte in den mittelalterlichen
Fachwerkhäusern hatten es ihr angetan. Wenn man dort eintrat, hatte man das Gefühl,
die Zeit schien im Innern dieser Häuser stillzustehen. Das war etwas ganz
anderes, als die breiten Boulevards mit den hohen Glasfassaden und den
glitzernden, prächtig illuminierten Schaufenstern der Luxusboutiquen.
Asuka
beschleunigte ihre Schritte, als eine kühle Brise sie frösteln ließ. Bis eben
hatte noch die Sonne geschienen und einen Schimmer frühlingshaften Glanzes über
die grauen Straßenzüge geworfen, aber jetzt schoben sie mehrere Wolkenstreifen
vor die Sonne, und auf einmal fühlte sie, daß der Winter noch keineswegs
vertrieben war.
Als
sie just in eine schmale Seitenstraße einbog, kam ihr auf dem Bürgersteig, der
so schmal war, daß kaum zwei Personen nebeneinander gehen konnten ein Junge
entgegen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, als sie erkannte, daß es
der Junge aus der Nachbarschaft war, den sie schon öfter aus der Ferne gesehen,
aber noch nie persönlich gesprochen hatte. Jetzt wäre die Gelegenheit, ihn
anzusprechen, sich vielleicht auf eine Tasse Tee in einem gemütlichen Café zu
verabreden. Jedoch schien er sie gar nicht wahrzunehmen. Den Blick nachdenklich
auf den Boden gerichtet schlenderte er ihr entgegen.
„Wenn
er mich nicht anschaut, dann muß ich es halt auf eine weniger elegante Art
versuchen“, dachte Asuka und marschierte geradewegs auf ihn zu, und in ihn
hinein. Sie rempelten mit den Schultern aneinander.
„Oh,
ich bitte um Entschuldigung!“ stammelte Benny und sah Asuka erschrocken an,
denn niemand andrer als er war es, der sich hier erging.
„Haben
wir uns nicht schon irgendwo gesehen?“ fragte er ein wenig verlegen. „Kann
es sein, daß du in meiner Nachbarschaft wohnst?“ fragte er, obgleich er das
ganz genau wußte, allein es fiel ihm gerade nichts anderes ein.
„Ja.
Meine Eltern sind erst vor kurzem hierher gezogen. Ich kenne noch nicht viel
Leute in dieser Stadt. Ich besuche das Mädchengymnasium.“
„Ich
gehe auf das Erasmus-Lyceum. Das liegt ganz in der Nähe. Vielleicht sehen wir
uns ja einmal im Bus oder in der Straßenbahn.“ Was redete er denn da für ein
Zeug zusammen? Benny begann sich langsam ziemlich unbehaglich zu fühlen,
angesichts der Blicke, mit denen ihn das Mädchen fixierte.
„Ich
gehe gerade ein wenig spazieren“, sagte sie. „Hast du etwas bestimmtes
vor?“
„Ja!
Ich habe hier in der Gegend etwas zu erledigen. Ähm! Vielleicht sehen wir uns
ja bei Gelegenheit mal wieder. Ich habe einen Freund, der dich gerne einmal
sprechen würde.“
„Ja?
Was will er denn von mir?“
„Nun,
das wird er dir selber sagen. Ich — äh — ich muß jetzt weiter. Also dann,
mach’s gut!“ Er deutete eine leichte Verbeugung mit dem Kopf an und ging
langsam weiter, beschleunigte seine Schritte aber bald und fühlte sich, als er
außer ihrer Sichtweite war, noch verwirrter als vorher.
In
Wirklichkeit hatte er nichts in dieser Gegend zu „erledigen“, doch zog es
ihn aus einem anderen Grunde hierher. Er befand sich jetzt nur eine Straße von
der Gasse entfernt, wo er in der vergangenen Nacht auf das geheimnisvolle starke
Mädchen gestoßen war. Irgend etwas zog ihn an diesen Ort zurück. War es die
Neugier, was in der Nacht tatsächlich geschehen war, oder wollte er sich
einfach nur vergewissern, daß das heftige Gefühl, welches ihn in dem
Augenblick, als er das Glas splittern hörte und die schwarze Gestalt in der
Dunkelheit verschwunden war, überkommen hatte. Es war ein unbeschreibliches, äußerst
intensives Gefühl gewesen, welches er unmöglich beschreiben konnte. Es war ihm
gewesen, als fühlte er eine eiskalte Hand in seine Brust greifen und ihm das
Herz zusammendrücken. Aber gleichzeitig hatte er auch eine andere Empfindung
gehabt: das Gefühl einer unbekannten, mächtigen Kraft, die in ihm geweckt
wurde. Und dann war da noch das Mädchen.
Benny
schüttelte den Kopf. So ein Unsinn! Wie kam er nur dazu, solche Dinge zu fühlen
und zu denken? Normalerweise ließ er sich nicht zu heftigen Emotionen und Gefühlsbewegungen
hinreißen. Vermutlich wollte er einfach noch einmal bei Tageslicht an den Ort
seines nächtlichen Erlebnisses zurückkehren, um sich zu vergewissern, daß
alles nur Einbildung gewesen war.
Mit
einem mulmigen Gefühl im Bauch betrat er die Straße, wo sich der kleine Laden
befand. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was für eine Art von Geschäft es
war. In dem Durcheinander der vergangenen Nacht hatte er sich wohl gar nicht
darum gekümmert.
Jetzt
aber stand er vor den Schaufenstern eines kleinen, ziemlich altmodischen Uhren-
und Schmuckladens, welcher vor allem mehr oder weniger antike Stücke feil bot.
Die beiden verhältnismäßig kleinen, noch in verwittertem Holz gerahmten
Fenster waren mit einigen interessanten Schmuckstücken, vor allem Ringen und
Halsketten, die nicht besonders teuer waren, bestückt. Im Inneren des Ladens
brannte kein Licht. Das Schutzgitter vor der Eingangstür war zugezogen. Auf
einem fliederfarbenen, handgeschriebenen Zettel, der von innen an die Glastür
geheftet worden war, stand geschrieben: Vorübergehend
geschlossen. In dringenden Fällen bitte anrufen unter Telephon…
Benny
beschirmte seine Augen mit den Händen und starrte zwischen den Gitterstäben
durch die Tür hinein. Das Geschäft war nicht besonders groß. Eine gläserne
Theke mit einer altmodischen Registrierkasse und ein kleiner mit dunklem Samt
bezogener Tisch und zwei Stühlen bildete neben einigen Vitrinen an den Wänden
die gesamte Einrichtung. Ein blauer Vorhang schirmte ein Hinterzimmer ab.
Benny
zog sich enttäuscht zurück. Er war unschlüssig, was er tun sollte, als ihm
einfiel, daß er in der Nacht gar nicht hier in dieser Straße, wo sich der
Haupteingang und die Schaufenster befanden, gewesen war, sondern in der schmalen
Gasse auf der Rückseite des Gebäudes.
Es
war nicht schwer die schmale Gasse zu finden. Sie mündete nach zwei hohen,
ziemlich schäbigen Wohnhäusern, deren vom Schmutz der Jahrzehnte schwarze
Fassaden hoch aufragten und nur einen schmalen streifen grauen Himmels übrig
ließen, in einen Hinterhof.
Benny
schaute sich um. Ein unangenehmer Geruch von gekochtem Kohl und von Fäulnis lag
in der Luft und raubte ihm beinahe den Atem. Der Gestank kam von den Mülltonnen,
neben denen er gerade stand. Angewidert ging er einige Schritte weiter. Auf
einmal hörte er hinter sich ein dumpfes Poltern und das Splittern von Glas. Vor
Schreck machte Benny einen Satz zur Seite und fuhr wie der Blitz herum. Aber vor
ihm stand kein brutaler Verbrecher, kein Monster und auch kein kräftiges
blondes Mädchen, sondern bloß eine magere grau getigerte Katze, die in einer
der Mülltonnen gestöbert hatte.
„Ach
du warst das“, sagte er erleichtert und beugte sich zu der Katze hinab. Aber
das Tier machte einen Buckel und fauchte ihn giftig an, so daß er sich rasch
wieder zurückzog. „Das ist ja eine reizende Gegend hier“, meinte er. Er
betrachtete das vor ihm liegende Haus. Neben dem Eingang befand sich eine
weitere schmalere Tür mit einem vergitterten Fenstereinsatz, daneben ein
Fenster, wie zu einem Laden oder einer Waschküche. Das Fenster war notdürftig
mit Brettern vernagelt worden. Anscheinend war das Glas zerbrochen: das Geräusch,
das er und Julien in der vergangenen Nacht wahrgenommen hatten.
Aber
warum hatten die Einbrecher das Fenster eingeschlagen, wenn sie auch die Tür hätten
benutzen können? fragte er sich. Aber eigentlich ging ihn die ganze Sache
nichts an, und er fragte sich langsam, was er überhaupt hier zu suchen hatte.
Die ganze Gegend war nicht sehr sympathisch und machte einen recht
heruntergekommenen Eindruck. Jedoch war nicht es hier nichts ungewöhnliches
oder gar unheimliches auszumachen.
Benny
ging zu dem Hauseingang und schaute sich die Namen auf den meist
handgeschriebenen Zetteln auf dem Klingelbrett an. Er war überrascht, daß in
diesem Haus so viele Parteien wohnten. Die Namen klangen durchwegs ausländisch
und waren zum Teil kaum auszusprechen. Hier würde er kaum das geheimnisvolle Mädchen
finden, dessen Auftritt ihn derart durcheinander gebracht hatte.
Je
mehr er darüber nachdachte, um so merkwürdiger kam ihm dies vor. Auf eine
unerklärliche Art fand er dieses Mädchen anziehend. Sie kam ihm beinahe
bekannt vor, obgleich er sie nur ein einziges Mal und nur für einen kurzen
Augenblick gesehen hatte, hatte er das Gefühl, als hätte er eine lange Zeit
verschollene teure Person wiedergefunden. Das Mädchen hatte ihm durchaus
gefallen, aber nicht so, wie andere hübsche Mädchen. Im Grunde war es weder
ihr Aussehen, noch ihr starker Auftritt, welches ihn so irritiert hatte, sondern
die Tatsache, daß er sich in einem ungeheuren Maße zu ihr hingezogen fühlte,
nicht weil er sie liebte oder begehrte, sondern, weil sie ihm vertraut
war.
Benny
warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah, daß es höchste Zeit war, nach
Hause zu gehen, um nicht zu spät zum Abendessen zu kommen.
In
dieser Nacht schlief Benny nicht besonders gut, was für ihn recht ungewöhnlich
war, ließ er sich doch sonst durch kaum etwas aus der Ruhe bringen.
Sein
Freund Julien war an diesem Tag besonders guter Laune. Seine Späße und sein fröhliches
Grinsen wirkten so ansteckend, daß auch Benny sich entspannte und viel besser fühlte,
als noch am Tage zuvor.
„Sag’
mal, Jules! Was ist heute mit dir los? Du bist ja ganz aufgekratzt“, sagte er
nach Schulschluß zu ihm.
„Nichts
besonderes. Ich freue mich halt einfach, daß morgen ein Feiertag ist und wir
heute Nachmittag nicht zur Schule müssen.“
„Du
bist einfach unverbesserlich, Jules!“ lachte Benny und machte eine abwehrende
Handbewegung.
„Also,
ehrlich! Zwei Stunden Mathe am Nachmittag; das ist einfach nicht auszuhalten.
Den, der sich diesen bescheuerten Stundenplan ausgedacht hat, sollte man täglich
verprügeln. Hast du für heute Nachmittag schon etwas vor?“
„Ja.
Ich wollte in die Bücherei gehen. Das heißt, ich muß in die Bücherei, weil
meine Bücher fällig sind, und du weißt ja, die Mahngebühren sind horrend. Übrigens
— hast du der kleinen Asuka ihr Notizbuch schon zurückgegeben?“
Julien
machte ein verlegenes Gesicht und sagte nach einer kurzen Weile: „Ich hatte
noch keine Gelegenheit dazu. Außerdem ist das…“
„Eine
ziemlich peinliche Angelegenheit, nicht wahr?“ vollendete Benny den Satz.
„Zur Not kannst du es ja mit der Post schicken. Ich kann dir ihre Adresse
aufschreiben.“
„Nein,
nein! Ich mache das schon selber. Am besten gehe ich heute Abend mal vorbei.“
„Wenn
du dich so genierst, kann ich ja mitkommen“, schlug Benny amüsiert vor.
„Ja?
Würdest du das für mich tun?“ fragte Julien. Benny wurde rot und sagte ärgerlich:
„Jetzt nimm dich aber mal zusammen! Du bist doch kein Baby mehr.“ Julien
brummelte etwas unverständliches. „Vielleicht schaue ich heute Abend mal bei
dir vorbei“, meinte er schließlich.
„Gerne.
Es gibt Würstchen mit Sauerkraut zum Abendbrot“, sagte Benny und schmunzelte.
„So
war das nicht gemeint“, erwiderte Julien säuerlich. „Aber trotzdem vielen
Dank für die Einladung!“
Benny
legte den Weg bis zur Stadtbücherei mit dem Fahrrad in wenigen Minuten zurück.
Die Bücherei befand sich in einem alten Gebäude unweit des Marktplatzes, wo
sie sich über drei Etagen erstreckte. Nachdem sie vor einem halben Jahr
renoviert und erweitert worden war, wirkte sie nicht mehr so gemütlich und
still wie zuvor, fand Benny. Aber dafür war jetzt das Angebot an Büchern und
Zeitschriften größer. Das war wenigstens ein Vorteil, zumal gerade die
wissenschaftlichen Zeitschriften, die ihn besonders interessierten, viel zu
teuer waren, um sie selbst zu abonnieren.
Benny
stellte sein Rad vor dem Haupteingang ab und schnallte die schwere Tüte mit den
Büchern vom Gepäckträger ab. Kaum hatte er die Tüte frei bekommen, als er
aus einiger Entfernung eine bekannte Stimme seinen Namen rufen hörte. Er drehte
sich um, und sah das Mädchen Asuka zu ihm hin eilen.
„Hallo!“
sagte Asuka ein wenig atemlos. „Gehst du auch in die Bücherei oder kommst du
von dort?“
„Ich
gehe“, sagte Benny.
„Das
trifft sich gut. Vielleicht könntest du mir die Bücherei zeigen, wenn du ein
wenig Zeit hast. Ich möchte mich nämlich anmelden.“
Gemeinsam
betraten sie die Bücherei. Benny fühlte sich hier ganz in seinem Element. Zu
seiner Überraschung stellte er fest, daß Asuka gerne las und sich sehr für Bücher
interessierte. Die meisten Mädchen, die er kannte — genauer gesagt, die Mädchen
in seiner Klasse — andere kannte er kaum — interessierten sich für alles mögliche,
nur nicht für Wissenschaft oder Literatur.
Gerne
zeigte er Asuka die Bücherei und führte sie durch alle Abteilungen. Als sie
ihren Rundgang beendet hatten, beschlossen sie, in einer nahe gelegenen Teestube
noch einzukehren.
„Nachdem
du dir so viel Zeit genommen hast, mir die Bücherei zu zeigen, ist es nur
billig, wenn ich dich zu einer Tasse Tee einlade“, sagte sie zu ihm, während
sie über den belebten Platz vor der Bücherei gingen.
„Hast
du dich schon gut in unserer Stadt eingelebt?“ fragte Benny, als sie wenig später
an einem kleinen Tisch am Fenster im ersten Stock der Teestube gegenüber der Bücherei
saßen.
„Ja.
Langsam weiß ich, wo man was kaufen kann und welche Straßenbahn wohin fährt“,
sagte sie und warf ihm einen langen Blick über den Rand ihrer Tasse zu. Benny
mußte unwillkürlich lächeln. Wenn Julien ihn jetzt sähe, der würde sich
bestimmt krumm lachen, dachte er.
Sie
unterhielten sich gut anderthalb stunden lang angeregt über alle möglichen
Dinge, und als sie sich von ihren Stühlen erhoben, hatte Benny das Gefühl, als
kenne er Asuka schon eine lange Zeit. Ihre freundliche und offenherzige Art
machten es ihm leicht, sich ihr gegenüber unbefangen zu äußern.
Als
die beiden die Teestube verließen, hatte es bereits eingedunkelt. Da sie beide
den selben Heimweg hatten, ging Benny neben ihr her und schob sein Fahrrad. Sie
gingen eine Weile schweigend die Straße entlang, als Asuka auf einmal einfiel,
daß sie noch ein neues Tagebuch hatte kaufen wollen. Da der kleine Papierladen,
den sie suchte ganz in der Nähe lag, begleitete Benny sie. Er warf einen unauffälligen
Blick auf seine Uhr; es war kurz nach sechs Uhr. Wenn sie noch etwas einkaufen
wollten, dann würden sie sich ein wenig beeilen müssen.
Der
Schreibwarenladen lag in der Altstadt in der Färbergasse. Während Asuka
fasziniert die alten Fachwerkhäuser zu beiden Seiten des schmalen Sträßleins
bewunderte, fiel Benny auf, daß er schon seit langer Zeit nicht mehr hier
gewesen war und ihm die Gegend beinahe fremd erschien. Bei einbrechender Nacht
sahen diese engen, verwinkelten Straßen und Gassen sehr malerisch und
vielleicht sogar ein wenig unheimlich aus, fand er.
Zu
ihrer Enttäuschung mußte Asuka feststellen, daß der Laden bereits geschlossen
war. „Schade! Die machen hier schon um fünf zu“, sagte sie.
„Ich
glaube, wenn wir am Ende der Straße nach rechts abbiegen, dann kommen wir zur
Straßenbahn“, sagte Benny.
„Aber
diese Straße führt bergauf“, wandte sie ein.
„Das
stimmt. Aber es gibt eine Treppe, die hinunter führt. Ich glaube, es gibt sogar
eine Rampe für Fahrräder.“ Er war sich dessen zwar nicht so sicher, aber zur
Not müßte er das Rad halt tragen. Sie gingen weiter, als Asuka plötzlich
einige Häuser weiter vor einem Schaufenster stehen blieb. Es handelte sich um
einen kleinen Schmuckladen, wo handgefertigter Schmuck aus Silber und
Halbedelsteinen verkauft wurde.
„Oh!
Das möchte ich mir rasch anschauen gehen“, sagte sie und starrte mit
leuchtenden Augen in das Fenster.
„Ich
warte hier draußen auf dich. Ich kann das Fahrrad hier nicht abstellen. Es fällt
immer um. Die Straße ist zu abschüssig.“
„O.k.
Ich bin gleich wieder da.“ Während sie das Geschäft betrat. Versuchte Benny
seinen linken Schuh, dessen Schnürsenkel aufgegangen war, wieder zuzubinden,
ohne dabei sein Rad loszulassen, was eine ziemlich knifflige Angelegenheit war
und am Ende dazu führte, daß das Rad umkippte und die Tasche mit den Büchern
sich vom Gepäckträger löste. Benny hatte also alle Hände voll zu tun.
Kaum
hatte er seine Sachen wieder in Ordnung gebracht, als er ein helles blaues
Leuchten wahrnahm. Es drang aus dem Inneren des Ladens und schien diesen ganz zu
erfüllen. Das Leuchten war sehr hell und irgendwie undurchsichtig, so daß es
wie ein leuchtender Nebel aussah. Vor Schreck und Überraschung ließ Benny sein
Fahrrad los und stürzte nach der Tür. Ohne nachzudenken stieß er die Tür auf
und betrat den Laden. Unwillkürlich hielt er die Luft an. Im Inneren des Ladens
war es eiskalt. Eine derartige Kälte hatte Benny noch nie gespürt. Sie schien
durch Mark und Bein zu dringen. Im Nu sträubten sich ihm die Haare. Er
schnappte nach Luft, aber es war ihm, als wäre die ganze Luft aus dem Raum
abgesaugt worden. Ein wenig benommen stolperte er mit weit aufgerissenen Augen
einige Schritte vorwärts.
Auf
einmal ließ das Leuchten nach und aus dem Ursprung dieses geheimnisvollen
Lichtes schien ein schwarzer Schatten zu wachsen. Er wurde innerhalb weniger
Sekunden größer und nahm eine menschenähnliche Gestalt an. Aber es war kein
Mensch, der in Lebensgröße vor Benny stand, sondern nur ein schwarzer an den Rändern
verschwimmender Schatten. Er fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog, und eine lähmende
Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte schreien, weglaufen, aber er brachte
keinen Laut hervor und konnte sich nicht um einen Millimeter bewegen.
Die
schwarze Gestalt schien ihn anzuschauen, obgleich Benny keine Augen an ihr
erkennen konnte. Da vernahm er zu seinen Füßen ein leises Stöhnen. Er blickte
nach unten und sah, durch den Lichtnebel die Umrisse einer kleinen Gestalt auf
dem Fußboden liegen. Es war Asuka. Was war hier geschehen? Was hatte man dem Mädchen
angetan?
Ein
heftiger unbezähmbarer Zorn stieg in Benny auf. Er konnte es sich nicht erklären,
aber je größer sein Zorn wurde, desto stärker wurden seine Kräfte und die lähmende
Kraft begann von ihm zu weichen. Er machte einen Schritt auf den Schatten zu.
Dieser zögerte einen Augenblick lang, dann packte er Benny, hob ihn mit weichem
aber unbarmherzigen Griff in die Höhe und schleuderte ihn quer durch den Raum
gegen das Fenster. Zum Glück war das Fenster stabiler, als es aussah, so daß
es nicht zerbrach und Benny benommen in der Auslage landete.
Mit
einer Energie, die er sich niemals zugetraut hätte, rappelte er sich wieder auf
und erhob sich zu voller Größe. Er fühlte eine unbezähmbare Kraft in sich
aufsteigen, als habe jemand das Domdampfventil einer Dampfmaschine geöffnet. Er
wollte das Ungeheuer, oder was immer das war, was vor ihm stand angreifen und
vernichten. Aber noch bevor er sich zu einer Aktion entschließen konnte, zog
der Schatten sich zusammen, wurde kleiner und dabei kompakter und schärfer, bis
er wie ein kleiner schwarzer Ball in der Luft schwebte. Daraufhin schien sich
auch der Lichtnebel zu verdichten. Für einen Augenblick konnte Benny den ganzen
Raum überblicken, dann gab es einen gleißenden Lichtblitz und ihm schwanden
die Sinne.
Nach
einer Weile — wie lange er besinnungslos gewesen war, vermochte er nicht zu
sagen — kam er wieder zu sich. Er bemerkte, wie Asuka, die neben ihm auf dem
Boden lag, die Augen aufschlug und sich verwirrt an den Kopf griff. Obwohl er
selbst sich schwach und wie gerädert fühlte, half er Asuka wieder auf die
Beine. Während sie bald wieder bei Besinnung war und aus eigener Kraft stehen
konnte, gelang es Benny kaum, sich auf den Beinen zu halten. Ihm war schwindelig
und vor seinen Augen flimmerte es. In seinem Kopf summte und brauste es wie in
einem Bienenstock.
„Ist
alles in Ordnung, mit dir Benjamin?“ fragte Asuka besorgt und stützte ihn während
er zu einem Stuhl, der in der Ecke stand, taumelte. „Du siehst nicht gut aus.
Was ist geschehen? Wie kommst du überhaupt hier herein?“
„Geht
es Ihnen nicht gut, junger Mann?“ fragte die Ladenbesitzerin, die hinter der
Theke hervorkam.
„Das
blaue Licht und das Monster…“ stammelte Benny atemlos. Asuka und die Frau
starrten ihn an, als sei er ein Monster.
„Soll
ich einen Arzt rufen? Sie sehen ganz blaß aus“, sagte die Frau.
Benny
schüttelte langsam den Kopf, wovon sein Schwindelgefühl nicht besser wurde und
sagte leise: „Nein, nein. Es geht schon wieder. Könnte ich vielleicht ein
Glas Wasser haben?“
Während
die Frau das Wasser holen ging sah er Asuka irritiert an. Sie war besorgt und
ein wenig ängstlich, aber nicht erschrocken oder verwirrt.
„Was
hast du gesehen?“ fragte er sie schließlich.
„Gesehen?
Nichts. Ich habe mir die Armbänder in der Vitrine angeschaut. Da lagst du plötzlich
hinter mir auf dem Boden. Ich bin einen Schritt zurückgetreten und über dich
gestolpert und hingefallen.“
„Hast
du kein Licht gesehen und… und sonst irgend etwas?“ fragte er und sah sie
mit einem durchdringenden Blick an. Sie schüttelte den Kopf und fragte: „Was
ist denn mit dir los?“ Benny wandte den Blick ab und schloß die Augen. War
das die Möglichkeit? Konnte es sein, daß er sich das alles nur eingebildet
hatte? Vielleicht war er aus irgendeinem Grund ohnmächtig geworden und hatte
alles nur geträumt. Aber warum sollte er plötzlich ohnmächtig werden? So
etwas war ihm noch nie passiert. Außerdem war er erst vor drei Wochen beim Arzt
gewesen. Aber irgend etwas stimmte mit ihm nicht. Er fühlte sich furchtbar müde,
ja geradezu erschöpft, als habe ihm ein Vampir alle Lebensenergie abgesaugt.
— Was für ein absurder Gedanke!
In
diesem Augenblick kam die Ladeninhaberin mit einem großen Glas Wasser zurück.
Mit großen langsamen Schlucken trank Benny das ganze Glas leer. Das Wasser tat
ihm gut. Das Brummen in seinem Kopf wurde allmählich schwächer und er konnte
wieder klar sehen.
„Geht
es wieder?“ fragte die Frau.
„Ja,
ja, ich denke schon“, sagte Benny und stand langsam auf. „Ich glaube ich
gehe, jetzt besser nach Hause.
„Ich
werde dich begleiten. Du bist immer noch ganz bleich. Du solltest unbedingt zu
einem Arzt gehen“, meinte Asuka und sah ihn besorgt an. Benny versuchte
aufmunternd zu lächeln. „Ich bin wieder ganz in Ordnung“, sagte er. Er
dankte der Frau für das Wasser und verließ an Asukas Seite den Laden.
Die
frische, kühle Luft auf der Straße tat ihm gut. Langsam kehrte seien Kraft zurück.
Er sah auf die Uhr.
„Es
ist schon viertel vor sieben“, sagte er. Asuka blickte unwillkürlich auch auf
ihre Uhr und sagte dann verwundert: „Nein, es ist erst zwanzig vor.“
„Das
kann nicht sein. Meine Uhr geht ganz genau. Ich habe sie erst gestern nach dem
Fernsehen gestellt.“ Er nahm Asukas Handgelenk und verglich die beiden Uhren.
Sie hatte recht. Seine Uhr ging genau fünf Minuten vor.
„Dann
muß deine Uhr kaputt sein“, meinte Asuka. „Da schau doch! Die Pendeluhr an
der Wand im Laden zeigt die gleiche Zeit, wie meine.“ Benny starrte durch das
Schaufenster. Asuka hatte recht.
Sie
gingen weiter. Asuka schob sein Fahrrad und warf ihm ab und zu einen besorgten
Blick zu. Benny bemerkte es und sagte: „Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin
ganz gesund. Das hat bestimmt nichts zu bedeuten.“ Sie nickte, aber ihren
Augen konnte er ansehen, daß sie keineswegs beruhigt war.
Wenig
später erreichten sie die Straßenbahnhaltestelle. Asuka war gar nicht damit
einverstanden, als Benny sich auf sein Rad schwingen wollte.
„Nein!
Du fährst mit der Straßenbahn. Ich nehme das Fahrrad und fahre hinterher. In
deinem Zustand…“
„Ich
bitte dich! Man könnte ja meinen, ich würde gleich umfallen — äh — dieser
Ausdruck ist vielleicht nicht gerade angebracht, aber du weißt, was ich
meine“, sagte er und mußte lachen. Während Asuka nach dem Fahrplan sah,
betrachtete Benny die große Uhr über dem Eingang des Postamtes.
„Das
ist aber wirklich seltsam. Asuka! Sieh dir das an! Die Uhr beim Postamt zeigt
die gleiche Zeit, wie meine. Ich frage mich, welche jetzt wirklich die richtige
Zeit anzeigt.“ Asuka zuckte mit den Schultern und meinte: „Das ist doch
jetzt egal.“
Sie
wartete bis die Straßenbahn einfuhr und Benny am Fenster Platz genommen hatte,
dann schwang sie sich auf Benny Rad und mußte feststellen, daß sie mit den Füßen
kaum an die Pedale heranreichte. Irgendwie schaffte sie es dann trotzdem, den
Weg durch die Stadt bis zu Bennys Haus unbeschadet zurückzulegen.
„Da
bist du ja endlich!“ sagte er zur Begrüßung. „Ich dachte schon, du wärest
unterwegs verloren gegangen.“
„Dein
Rad ist viel zu groß für mich. Ich wäre zweimal beinahe gestürzt“, sagte
Asuka und stellte das Fahrrad ab.
„Trotzdem;
Danke fürs Herbringen“, sagte Benny und schüttelte ihr die Hand. Asuka
verabschiedete sich von ihm. Sie war erleichtert zu sehen, daß Bennys Gesicht
wieder etwas Farbe angenommen hatte und er einen ganz munteren Eindruck machte.
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