Sieg
Es
gab ein ekliges Geräusch, Blut spritzte über Peters Gesicht. Borkas röchelte
und sank nach hinten ins Gras. In seiner Brust steckte ein langer gefiederter
Pfeil. Langsam schlug Peter die Augen auf. Wie von ferne drang Geschrei an seine
Ohren. Er richtete sich auf und sah sich um. Borkas lag regungslos da, das Wams
von rotem Blute feucht. Er war offensichtlich tot. Peter erschauerte heftig.
Hier war zum ersten Male ein Mensch vor seinen Augen gestorben, dazu noch auf
eine so gewaltsame Weise. Und dabei war er es doch, der eigentlich tot im Gras
liegen sollte.
Er
spürte wie sich eine heftige Übelkeit bemerkbar machte, die er nur schwer
unterdrücken konnte. Nur fort von hier! dachte er als er sich auf die Beine
machte. Vom Dorf her kamen Leute. Einer trug einen langen Bogen. Es war Wilo. »Ist
alles in Ordnung, Peter?« Peter konnte noch nicht sprechen. Er nickte nur und
hielt sich zitternd an Wilo fest.
»Da
kommen Reiter!« rief einer. »Wir müssen zurück ins Dorf, ehe die Schatten
kommen«, rief Wilo. Peter hielt ihn zurück. »Nein, keine Schatten«, keuchte
er. »Gut, dann gehen wir hier in Stellung, Männer!«
Die
Bürgerwehr von Goldbrunn bildete einen weiten Halbkreis. Durch die Reihen der
bewaffneten Männer kämpften sich zwei kleinere Gestalten vorwärts. Es waren
die beiden Mädchen. Alissandra stürzte sich als erste auf Peter. Ihr dicht auf
den Fersen folgt Tamina.
»Peter!
Mein Peterchen! Geht es dir gut. Bist du verwundet?« Alissandra hatte ihre übliche
vornehme Zurückhaltung im Umgange mit ihm völlig vergessen. Sie umarmte und drückte
ihn. »Ja, ja, es geht mir gut. Mir ist nichts passiert. Aber was macht ihr
beiden hier draußen? Habe ich euch nicht ausdrücklich… —«
»Ich
habe alles vom Turmfenster aus beobachtet. Als ich sah, wie du vom Pferd stürztest,
da konnte ich dich doch nicht einfach im Stich lassen.« Gute
tapfere Alissandra. Peter konnte ihr einfach nicht böse sein. Ihr echt
besorgter Blick aus den weiten braunen Augen ging ihm durch und durch. Nur mit Mühe
konnte er den Blick von ihr abwenden. Am liebsten hätte er sie jetzt geküßt,
allein ihm fehlte der Mut dazu.
»Tamina,
was ist mit dir?«
»Aber
du hast mir doch gesagt, daß ich auf Alissandra aufpassen soll. Da mußte ich
mitgehen.«
»Was
hast du ihr gesagt?«
»Also
— ich — wir sollten uns zunächst um die Kerle dort drüben kümmern.«
Peter deutete auf die Abteilung berittener Soldaten, die sich nach dem Fall
ihres Hauptmanns ein Stück zurückgezogen hatten. Sie bildeten einen Kreis und
schienen sich zu beraten, denn mehrmals trug der Wind laute Stimmen herüber.
Augenscheinlich wählten sie gerade einen neuen Anführer. Sie schienen sich
aber nicht leicht einig zu werden.
»Wir
müssen uns eine Strategie überlegen, so lange die da noch streiten. Die
Schatten sind wir vorerst los, aber… —«
»Was
meinst du damit, die Schatten seien wir los?« unterbrach ihn Wilo voller
Staunen. Hastig und mit knappen Sätzen berichtete Peter sein Abenteuer;
allerdings nicht ohne die Tatsachen ein klein wenig auszuschmücken, so daß das
ungläubige Staunen auf den Gesichtern der Umstehenden nicht ganz von ungefähr
kam.
»Als
erstes muß ich mein Schwert und den Zauberstab wiederfinden. Vor allem
letzteren, bevor die drüben merken, was Sache ist.«
In
der Tat lagen die genannten Gegenstände bei den Überresten des geborstenen
Schattenrosses, ziemlich genau in der Mitte zwischen den feindlichen Heeren.
»Zu
Pferde sind sie schneller als wir«, gab Alissandra zu bedenken.
»Vor
allem sind sie uns an Waffen weit überlegen, trotz ihrer Minderzahl«, sagte
Wilo. Das Kräfteverhältnis zwischen den Soldaten des Regenten, alles erfahrene
und gut ausgerüstete Ritter hoch zu Roß, und Peters ,Truppen’, behelfsmäßig
bewaffneten Bauern und Dorfleuten zu Fuß, war in der Tat sehr zu Ungunsten der
,königlichen arkanischen Armee’.
»Ich
schlage vor, wir versuchen sie mit Waffenstillstandsunterhandlungen eine Weile
hinzuhalten«, schlug Peter vor. »wir schicken zwei harmlos wirkende Unterhändler
vor, bis zu den Überresten…«
»Armer
Anatol!« sagte Tamina traurig.
»Herjeh!
Den habe ich ganz vergessen; der steht noch immer im Wald«, fiel es Peter ein.
»Keine Sorge, Tamina! Deinem Anatol geht es gut. Das war nur ein mechanisches
Pferd von den Schatten.«
»Dann
will ich versuchen, die Dinge zurückzuholen«, sagte Tamina entschlossen. »Mich
halten die bestimmt für harmlos genug.« Peter nickte nur und lief davon. Hatte
er ihr überhaupt zugehört? Anscheinend nicht, sonst hätte er vehement dagegen
protestiert, daß sich die Kleine in Gefahr begab.
Peter
war unterwegs, um in den eigenen Reihen den Bürgermeister ausfindig zu machen.
Bald darauf kam er mit dem Gesuchten zurück. Ein Junge brachte Mondenglanz
herbei und mehrere heftig rußende Pechfackeln. In dem flackernden Schein der
Fackeln wurde ein improvisierter Kriegsrat abgehalten. Peter ergriff das Wort:
»Wilo!
du ziehst dich mit deinen Männern etwas weiter zurück, so daß ihr euch
notfalls in den Schutz des Dorfes zurückziehen könnt, falls mein Plan schief läuft.«
»Und
was hast du vor?«
»Ich,
der Bürgermeister und…« — »Ich!« rief Tamina dazwischen. — »Meinetwegen
du auch. Und du darfst auch mit«, sagte Peter zu dem Jungen, der sein Pferd
hielt. Der Knabe war überglücklich und stolz.
»Deine
Aufgabe ist es, mit den Fackeln vorauszugehen, damit wir etwas Licht haben. Ich
werde auf Mondenglanz reiten, Tamina mit der Flagge und der Bürgermeister als
Vertreter des Dorfes gehen auf beiden Seiten zu Fuß. Wir bieten den Kerlen
unsere Verhandlungsbereitschaft an. Es wird so lange verhandelt, bis wir etwas
gefunden haben. Gelingt es uns, den schwarzen Zauberstab wieder in unseren
Besitz zu bringen, dann haben wir die Schatten auf unserer Seite, und das Spiel
ist gewonnen. Wenn es uns vor dem Morgengrauen nicht gelingt, dann steht uns ein
ungleicher Kampf bevor. Ihr könnt euch denken, daß wir gegen diese Ritter dort
alt aussehen werden. Und sollten sie etwa den Zauberstab finden, dann sind wir
verloren. Haltet also die Augen auf. In der Zwischenzeit wird uns dieser Ersatz
hoffentlich gute Dienste leisten.« Peter zog einen Stab hervor. Es handelte
sich um ein Stück schwarz angesengtes Holz und hatte die Größe und Form des
Zauberstabes.
»Im
Dunkeln könnte die Täuschung gelingen — hoffentlich«, fügte er etwas
leiser hinzu.
Der
kleine Zug setzte sich wie besprochen in Bewegung. Als sie die halbe Streckte
bis zur Mitte zwischen den beiden Streitmächten zurückgelegt hatten, rief
Peter die Soldaten an. Er verlangte ihren Anführer zu sprechen. Daraufhin löste
sich ein Reiter aus dem Verband und kam einige Schritte näher.
»Wir
sind unbewaffnet und kommen, um mit Euch zu verhandeln«, rief Peter laut.
»Ihr
wollt euch also ergeben? Das ist auch besser so. Vielleicht verschonen wir euer
Dorf«, rief der Ritter hochmütig.
»Nicht
so lange wir dies hier haben«, erwiderte Peter und zückte die
Zauberstab-Attrappe. Unter den Rittern entstand Unruhe. Der Anführer zog sich
zurück. Daraufhin kehrte er an der Spitze von zwei weiteren Rittern zurück. »In
Ordnung! Wir werden mit euch sprechen. Ihr habt freies Geleit.« Die beiden
Gruppen kamen langsam auf einander zu. Peters Trupp hatte inzwischen die Stelle
seines Sturzes erreicht. »Haltet euch mehr nach links«, raunte er den andern
zu.
»Ich
glaube dort ist etwas«, sagte der Junge und blieb stehen. Es ist ein schwarzes
glänzendes Stück Stein oder Eisen.«
»Nicht
anfassen! Er darf dem Licht der Fackeln nicht zu nahe kommen geh weiter! —
Herr Bürgermeister! Gehen Sie dorthin, wo eben der Junge stand und heben Sie
unauffällig den Zauberstab auf.« Peter lenkte sein Pferd ein wenig zur Seite,
so daß der Bürgermeister seinen Platz im Troß einnahm. An der betreffenden
Stelle angelangt, ließ sich der Bürgermeister zu Boden fallen, als sei er
gestrauchelt. Peter sprang herab und half ihm auf die Beine. Dabei nahm er den
Zauberstab an sich. Er fühlte einen Augenblick lang die kalte Glätte des
unbekannten Materials in der Hand, bevor er ihn in seinen Ärmel gleiten ließ.
Er gebot dem Jungen, die Fackeln in die erde zu stecken. Jetzt mußte er sich
nur noch eine Strategie für einen geschickten Rückzug einfallen lassen.
»He!
Was ist bei euch los?« rief der Anführer der Ritter herüber.
»Alles
in Ordnung, der Herr Bürgermeister ist gestrauchelt und kann nicht weiter gehen«,
rief Peter.
»Augenblick!
Was ist mit eurem Fahnenträger? Da stimmt doch was nicht.« Peter sah sich um.
Wo war Tamina?
»Peter!
Schau! ich hab dein Schwert gefunden«, rief Tamina aus der Finsternis, einige
Meter entfernt. »Mach daß du herkommst!« befahl Peter. Aber es war bereits zu
spät. Die drei Ritter gaben ihren Pferden die Sporen und preschten im schnellen
Galopp herbei. Peter zögerte einen Augenblick lang unentschlossen; vielleicht
zu lange, denn die Ritter trennten sich. Zwei stürmten auf Peters Gruppe zu,
einer schnitt ihnen den Weg zu Tamina ab.
»Halt!
Kommt nicht näher!« rief Peter und zog den Zauberstab hervor — diesmal war
es der echte. Er schwang ihn drohend in der Luft. »Herbei, ihr Schatten!«
schrie er Die beiden Ritter zögerten, hielten schließlich an und sahen sich
nach allen Seiten um. Der dritte, ihr Anführer, hatte Tamina erreicht.
»Tamina!
Benutze das Zauberschwert!« rief Alissandra, die so schnell sie konnte herbei
lief.
»Bist
du verrückt?« schrie Peter sie an. »Das Ding funktioniert doch nur bei mir.
Hast du das vergessen. Der Kerl wird ihr etwas antun.«
Tamina
hatte Todesangst. Sie riß das große Schwert aus der Scheide. Sie fand daß es
sich irgendwie sonderbar anfühlte, aber es zeigte keine besondere Zauberkraft
oder ungewöhnliche Wirkung — im Gegenteil. Für das Mädchen war es viel zu
lang und schwer. Sie mußte das Schwert mit beiden Händen festhalten.
Der
Ritter trieb sein Pferd um sie herum in immer enger werdenden Kreisen. Sie mußte
sich im Kreise mitdrehen, bis ihr schwindelig wurde. Verzweifelt holte sie mit
dem Schwert aus zum Schlag aus. Die Wucht ihres Hiebes und das Gewicht des
Schwertes ließen sie ihr Ziel weit verfehlen. Statt dessen traf sie — was natürlich
nicht in ihrer Absicht lag — das schwarze Roß des Ritters.
Da
geschah etwas völlig unerwartetes: Es gab einen lauten Knall und der Gaul flog
in Stücke, wie von einer Granate getroffen. Mehr noch, die
auseinanderfliegenden Fetzen lösten sich noch im Fluge auf und zurück blieb
allein eine dichte schwarze Qualmwolke. Der Ritter aber, der eben noch fest im
Sattel saß, schien einen Augenblick lang in der Luft zu schweben, dann stürzte
er schwer zu Boden. Es war schwer zu sagen, welcher von beiden mehr erschrocken
war, denn beide blieben besinnungslos auf der Erde liegen.
Peter,
der Alissandras Degen an sich genommen hatte, um Taminen zur Hülfe zu eilen,
traf als erster am Schauplatz ein. Behutsam hob er das bewußtlose Mädchen auf
und trug es zum Licht. Noch in Peters Armen schlug Tamina die Augen auf und stieß
einen Schrei aus. Peter setzte sie vorsichtig ab und sprach, ihr sanft über das
Haar streichelnd, einige beruhigende Worte zu.
Auf
der Wiese herrschte mittlerweile ein ziemliches Durcheinander. Von der einen
Seite strömte Wilo mit den Dorfleuten herbei. In der anderen Richtung flohen
die beiden Ritter Hals über Kopf zu ihren Kameraden. Von den Hügeln ergossen
sich die Heerscharen der Schatten, die Peter herbeigerufen hatte ins Tal. Sie
setzten das ganze Tal in Schrecken. Die Soldaten befanden sich plötzlich
zwischen den herannahenden Schatten und Wilos Truppen in der Zwickmühle. In
ihrer Not flohen sie, jegliche Ordnung auflösend, ein jeder sein eigenes Heil
suchend, in Richtung des Dorfes, welchem sie auf beiden Seiten auswichen, davon.
Peter
hatte alle Hände voll damit zu tun, einerseits die Schatten aufzuhalten und
andererseits seine eigenen Leute von einer panischen Flucht in den Wald
abzuhalten. Die wenigen verbleibenden Stunden bis zum Morgen vergingen wie im
Fluge. Den flüchtenden Soldaten wurden Späher hinterher geschickt, die schauen
sollten, ob sie sich auch wirklich davon machten. Die Schatten hieß Peter im
Tale lagern, wo sie sich bei Sonnenaufgang, wie er hoffte von selbst auflösen würden.
Der Junge Wolfram wurde auf die Suche nach dem vergessenen Anatol geschickt. Das
gute Tier fand sich glücklich und wohlbehalten in dem Waldstück wieder, wo
Peter es Stunden zuvor abgestellt hatte. Wilo und eine Handvoll Reiter sollten
den Wagen mit den geraubten Schätzen, den die Soldaten hinter dem Hügel
abgestellt hatten, sicherstellen. Peter und Alissandra brachten die noch sehr
verstörte aber über den glücklichen Ausgang ihres Abenteuers heilfrohe Tamina
in das Dorf zurück. Dort gab es so viel zu richten und zu erzählen.
Im
ganzen Dorfe herrschte eine unbeschreibliche Hochstimmung. Peter und seine
Freunde wurden auf Händen getragen. Die Nachricht von dem großartigen Sieg über
die Schatten und die Soldaten des Regenten ging von Mund zu Mund. Bereits in
aller Frühe zogen Boten los, um die Nachricht in den umliegenden Ortschaften zu
verbreiten. Das Zentrum inmitten dieses gewaltigen, fröhlichen Chaos bildete
der Dorfplatz mit dem Rathaus. Während alles auf den Beinen war und trotz der
durchwachten Nacht voller Energie und frischem Mute war, fand Alissandra Peter
im Morgengrauen, nach einigem Suchen, friedlich auf einer Bank im Rathaus
ausgestreckt schlafend.
»Mein
Peterchen«, flüsterte sie leise. »Wie kannst du in einem solchen Augenblick
schlafen?« Sie ließ ihren Blick über den Schlummernden gleiten. Peter lag mit
angewinkelten Beinen seitlich auf der harten, schmalen Holzbank. Seinen Mantel
hatte er zusammengerollt und als Kopfstütze verwandt. Alissandra nahm ihren
Umhang ab und breitete ihn vorsichtig über dem Schlafenden aus. Sie kniete
neben Peter und fuhr sanft durch sein zerzaustes Lockenhaar, welches er — wie
sie bedauernd fand — viel zu kurz geschnitten trug.
Obgleich
Peter sich äußerlich nur wenig verändert hatte — gewiß war er schlanker
und kräftiger geworden — schien er nicht mehr der selbe ängstliche, weiche
Knabe zu sein, der er bei ihrem ersten Zusammentreffen gewesen war. Sie beugte
ihr Haupt über ihn, zauderte einige Sekunden lang, dann drückte sie ihm einen
süßen Kuß auf die Wange. Ein leises Seufzen von Peters Lippen ließ sie
aufschrecken. Ein roter Schiller flog über ihre Wangen. Auf Zehenspitzen
schlich sie zur Tür, warf einen letzten Blick auf ihn und zog sachte die Tür
ins Schloß.
Peter
merkte von alledem nichts und schlief tief und fest bis weit in den Morgen
hinein. So verpaßte er — zu seiner späteren nicht geringen Enttäuschung —
ein sehenswertes Ereignis: das Verschwinden der Schatten.
Als
im Osten der erste fahle Schimmer eines neuen Tages über den Wipfeln
hervortrat, kam eine leichte Unruhe unter die im Tale versammelten
Schattenkrieger. Mit jedem Grad Helligkeit die der Morgenhimmel annahm, schienen
die Schattenwesen eine Spur fahler zu werden. Das tiefe glänzende Schwarz ihrer
Leiber und Rüstungen wurde stumpfer, bekam allmählich die Farbe einer
Bleistiftmine, ging langsam ins Grau über; ihre Umrisse schienen unschärfer zu
werden, und endlich, als der erste rötliche Sonnenstrahl über die Wipfel
hervorbrach, flirrten und waberten die Gestalten im Tale, wie heiße Luft über
Sanddünen. Dann verschwammen sie zu durchsichtigen Schwaden und kurz darauf war
der Talgrund in einen sich in der von Norden her wehenden sanften Morgenbriese
verflüchtigenden Rauch erfüllt. Die Sonnenscheibe war noch nicht vollständig
sichtbar, als von dem nächtlichen Spuk nichts mehr zu sehen war.
Die
Tür zu Peters improvisierten Schlafzimmer flog auf und hereingestürmt kam
Wilo, der Peter unsanft aus dem Schlaf riß. Wie üblich brauchte dieser eine
ganze Weile, bis er die Augen offenhalten konnte und sich zurecht fand. Am frühen
Morgen, besonders wenn er zu wenig geschlafen hatte war Peter ganz besonders
verdrießlich, und jeder der ihn kannte, vermied es ihn in dieser Stimmung unnötig
zu behelligen.
»Peter!
Du wirst es nicht glauben, was für eine phantastische Beute wir gemacht haben.
Das mußt du dir sofort anschauen kommen. Mann, steh auf und komm mit ‘naus!«
Peter gab ein unartikuliertes Grunzen von sich und wälzte sich auf die andere
Seite. Er haßte Leute, die bereits am frühen Morgen derart aufgestellt waren
und von Energie nur so sprühten. Bei ihm bedurfte es einer größeren Menge
kalten Wassers oder mehrerer Tassen eines starken Tees, damit sein Kreislauf den
nötigen Schwung bekam; wobei er selber das letztgenannte Mittel dem ersteren
vorzog.
Diesmal
kam er aber rascher auf Touren als sonst; vielleicht wirkte die Aufregung der
vergangenen Nacht noch nach.
»Wilo,
alter Freund! Du bist es.« Er streckte Arme und Beine weit von sich, bis sich
das vertraute wohlige Gefühl einstellte, dann sprang er auf die Füße und drückte
den verdutzten Wilo an sich. »Alter Freund! du hast gestern mein Leben
gerettet. Eine Sekunde später und mich hätte es zweimal gegeben.«
»Ist
schon recht«, wehrte Wilo ab. »Aber komm jetzt mit«, sagte er und zog Peter
mit sich hinaus.
Vor
dem Rathaus stand, von einem Dutzend bewaffneter Männer bewacht, der schwere
Wagen mit den Steuereinnahmen für den Regenten. Peter stieg auf die Nabe eines
der dicken Scheibenräder und spähte in das Innere des Wagens. Dort waren Säcke
und eisenbeschlagenen Kisten aufgestapelt. Peter beugte sich hinein und griff
nach einem der kleinen Säcke, konnte ihn aber nicht herausziehen, so schwer war
der Leinensack. Er mußte ganz hineinklettern. Der Sack, obgleich nicht größer
als eine Melone, wog so schwer, daß er ihn nur mit beiden Händen greifen und
heben konnte. Er reichte ihn an Wilo hinaus. Einen anderen, leichteren Beutel
nahm Peter selbst mit sich. Sie trugen die Beutel, die sich anfühlten, wie mit
Münzen gefüllt, ins Rathaus hinein. Auf dem großen Tisch im Ratssaal schnitt
Peter vorsichtig die beiden Säcke, die aus schwerem, dreifachem Tuch genäht
waren, auf. Blitzende Markstückgroße Goldmünzen ergossen sich über den
Tisch, ein liebliches Geräusch erzeugend und einen Lichtschein verbreitend, der
alle zutiefst bewegte. Aus dem anderen Beutel purzelten große mattglänzende
Silbermünzen. Peter hielt den Atem an. Noch nie hatte er eine so große Menge
des edlen Metalls auf einem Haufen gesehen, geschweige denn in Händen gehalten.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, die glatten schweren Münzen mit den Händen
zu greifen, sie durch die Finger gleiten zu lassen und das Prasseln und Klingen
zu hören, wenn sie aufeinanderstießen.
»Das
müssen Millionen sein.« Peters Augen leuchteten in einem goldenen Glanze, wie
man ihn von fündig gewordenen Goldsuchern kennt. »Und der Wagen ist randvoll
davon. Wir sind reich!«
»Da
schau her, Peter. Dies ist das Stadtwappen von Carlan«, sagte Wilo und breitete
den leeren Goldsack auf der Tischplatte aus. »Wo das alles herkommen mag?«
fragte Tamina.
»Bestimmt
haben sie von Carlan her in Richtung der Hauptstadt jede Stadt und jedes Dorf
leergeräumt«, meinte Alissandra.
»Wir
brauchen Stunden um das alles zu zählen.«
»Vielleicht
haben wir Glück und finden eine Liste oder Verzeichnis«, sagte Peter. »Ich
geh mal nachschauen.«
Sie
hatten Glück, denn in dem Wagen fand sich tatsächlich eine detaillierte
Aufstellung aller Steuereinnahmen. Sie befand sich in einem Kasten, der mit
einer Menge anderer Papiere angefüllt war. Unter anderem fand sich darin eine
Art Hauptbuch, wo die Steuereinnahmen der gesamten Provinz Carlan nach Orten und
Stadtteilen getrennt säuberlich festgehalten waren. Daneben fanden sie
Aufzeichnungen über die Einnahmen aus Waren- und Wegezöllen, den allgemeinen
Kopfsteuern und Sonderabgaben.
Im
Allgemeinen werden die Steuern in Arkanien zwei Mal jährlich eingetrieben. In
diesem Teil des Landes aber schien man eine Art von Doppel-Veranlagung zu
pflegen. Die erklärte auch die ungewöhnlich fette Beute. Peter kam aus dem
Staunen nicht heraus, als er die Zahlen las. »Das sind ja — ich wünschte,
ich hätte einen Taschenrechner dabei.« Peter litt leider unter einer großen
Schwäche im Kopfrechnen, was vielleicht mit der Grund war, warum er in der
Schule von Anfang an mit der Mathematik auf Kriegsfuß gestanden war, und
mehrere Male nur um Haaresbreite einer Rückversetzung entgangen war.
»Laßt
mich das machen«, sagte Tamina und zog das Buch mit den Abrechnungen zu sich
herüber. Peter betrachtete fasziniert, wie das Mädchen, seinen flachsblonden
Schopf tief in das dicke Buch steckte, und mit dem Finger die Zahlenkolonnen
entlang fuhr, mit den Lippen lautlose Worte formend. Während Tamina rechnete,
drehte Peter die verschiedenen Münzen auf dem Tisch um. Auf den meisten der
goldenen und silbernen Münzen war das Konterfei des Regenten Tiras aufgeprägt.
»Heil unserem Regenten Tiras II.« las Peter und »Tiras II — oberster Regent
— Beschützer und Mehrer des Reiches.« Auf der Rückseite war das Wappen des
Regenten sowie die Jahreszahl der Prägung und der Wert der Münze zu sehen. Es
gab Goldmünzen von ½ und einem Gulden, Doppelgulden und — sehr selten — Fünfergulden.
Letztere waren alle viel älter und trugen das Bildnis von Tiras I., dem Vater
des Regenten. Die Silbermünzen sahen im Wesentlichen gleich aus wie die
goldenen. Sie verkörperten die Werte von ½, 1, 2, 5 und 25 Talern. Je hundert
Taler galten einen Gulden. Daneben gab es noch eine Reihe kleinerer
Kupferheller.
»Schau
mal, ich habe einen alten Taler mit dem Bild des Regenten Patinor gefunden«,
rief Alissandra erfreut. »Der ist über hundert Jahre alt und sehr selten.
Patinor war ein guter Regent. Er war eigentlich der letzte der guten Regenten.
Sein Sohn war ein Taugenichts. Nach ihm kam die Familie des Tiras an die Macht.
Dessen Großvater ließ alle Gegner mundtot machen und hat die Armee
verdreifacht. Der Vater hat seine Gegner getötet oder verbannt und mit fast
allen Nachbarländern Kriege geführt, bis er das Reich an die äußersten
Grenzen ausgedehnt hatte. Und Tiras selber ist darauf bedacht, das Reich zu
erhalten und die Macht seines Hauses auch im Innern zu festigen. Er hat seine
Gegner gnadenlos ausgerottet. Sein Sohn Tibor ist wahnsinnig. Man sagt, er habe
hunderte Gefangene hinmetzeln lassen, bei der Eroberung der letzten freien Insel
im Westmeer. Das war vor fast zehn Jahren.«
»Das
scheint mir ja eine zehn Familie zu sein«, meinte Peter sarkastisch.
»Ich
hab’s!« rief Tamina aufgeregt. Ihre Wangen und Ohren waren dunkelrot
angelaufen und bildeten einen hübschen Kontrast zu ihren tiefblauen Augen und
dem falben Haar. »Es sind«, sagte sie und legte dabei eine Spannungspause
ein, »einhundertneunundsechzigtausensiebenhundertunddrei Gulden,
vierundachtzig Taler und dreieinhalb Groschen.« Alissandra griff nach Feder und
Papier, um die Summe aufzuschreiben. Wilo pfiff leise durch die Zähne. Peters
Staunen wurde noch größer.
»Tamina,
in dir schlummern ungeahnte Fähigkeiten.«
»Im
Rechnen war ich schon immer gut. Wenn man in einer Schankstube steht und sich
die Zeche aller Saufstiebel merken muß, bekommt man Übung darin.«
»Ich
schlage vor, wir lassen den Wagen entladen und das Zeug hier ins Ratszimmer
schaffen. — Wilo, sorge du bitte für eine angemessene Wache. Und dann wäre
es endlich an der zeit etwas zu essen.«
Dieser
letzte Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und so fanden sie sich wenig später
im Wirtshaus nebenan wieder, wo die Honoratioren der Gemeinde ein Morgenmahl
vorbereitet haben, wie es in Arkanien schon seit langem von niemand mehr
verspeist worden war. Im Allgemeinen wurde natürlich viel mehr gesprochen als
gegessen. Ein jeder berichtete seine Erlebnisse des großen Sieges und seinen Beitrag zu der Heldentat. Die einzigen, die schwiegen, waren
unsere vier Freunde. Nicht weil sie nichts zu erzählen hatten, — Peters
Schilderung seiner Abenteuer mit den Schatten wurde von jedermann mit großer
Spannung erwartet — sondern weil sie mit essen und Trinken so sehr beschäftigt
waren, daß sie kaum ein Wort herausbrachten.
Endlich
aber kam der von allen herbeigesehnte Augenblick, da Peter seinen Teller zurückschob,
den Gürtel um ein Loch weiter machte und mit leiser Stimme zu sprechen anhub.
Er war stets sehr befangen gewesen, wenn er vor fremden Menschen sprechen mußte;
dabei spielte es keine Rolle, ob hundert oder nur zehn Zuhörer zugegen waren.
Die ersten Sätze waren wie immer die schwierigsten, doch die Nähe seiner
Freunde, deren aufmunternde Blicke und die Tatsache, daß alle interessiert, ja
geradezu gebannt lauschten und ganz gewiß niemand auf den Gedanken käme, ihn
auszulachen, stärkten sein Selbstvertrauen, und so gewann seine Stimme langsam
an Fülle und seine Worte an Ausdrucksstärke.
Der
Raum war bis auf den letzten Winkel hinter dem Ofen voller Menschen. Wer drinnen
keinen Platz mehr gefunden hatte, drängte sich vor der Tür oder unter einem
der weit offen stehenden Fenster. Wer nicht gehen konnte, der durfte sich darauf
verlassen, daß jemand für ihn dort war, der sich alles genau merken und
Zuhause ausführlich berichten würde.
Peters
Schilderung seiner Taten und Abenteuer war zwar ein klein wenig ausgeschmückt,
dafür aber höchst spannend anzuhören, und er bot dem versammelten Publikum
die gewünschte und erwartete Unterhaltung. Es war vorauszusehen, daß Peter der
große Held des Tages wurde und entsprechend gefeiert wurde. In der Tat hätte
nicht viel gefehlt und die begeisterten Dorfbewohner hätten ihn auf Händen aus
dem Hause getragen. Nur mit knapper Not entkamen Peter und seine Freunde der
jubelnden Menschenmenge. Sie zogen sich ins Rathaus zurück, wo noch einige
Arbeit auf sie wartete. Es galt viel zu besprechen und zu beschließen. Was
sollte aus dem vielen Geld werden?
»Erinnert
mich daran, daß ich vor unserer Abreise noch ein wenig Gold unter das Volk
werfe. Damit macht man sich als Herrscher stets sehr beliebt.« Deutlich weniger
beliebt machte sich Peter mit diesem Vorschlag bei Alissandra und Tamina. Allein
Wilo schien dieser Vorschlag zu amüsieren. Er war es auch, der die folgende
Disputation ins Rollen brachte. »Was fangen wir mit der Beute an? ich meine,
wie wollen wir sie aufteilen?«
»Was
meinst du mit ,aufteilen’?« fragte Alissandra. »Willst du es etwa für dich
behalten?«
»Warum
nicht?«
Alissandra
explodierte: Das ist immerhin nicht dein
Geld. Es gehört dem Volk von Arkanien, den einfachen und hart arbeitenden
Leuten, denen es die Blutsauger des Regenten abgepreßt haben. Wir müssen es
den Menschen zurückgeben; nicht wahr, Peter?«
»Nun
— eigentlich gehört es dem Staat, genauer gesagt, der Regierung. Und das heißt,
dem König, und das bin ich. Also gehört es mir. Und was das Zurückgeben
anbelangt, so dürfte wohl keinen Staat im ganzen Universum geben, der das, was
er einmal eingesackt hat, je freiwillig wieder hergibt.«
»Recht
so!« pflichtete Wilo ihm bei.
»Pfui!
Das hätte ich nicht von dir gedacht, Peter. Das kann doch nicht dein Ernst sein«,
empörte sich Tamina.
»Warum
denn nicht? Als König… —«
»Du
bist aber nicht König! Höchstens ein… ein —« Alissandra suchte nach dem
passenden Wort. »ein Möchtegern-König!«
»Alissandra!«
»Immerhin
repräsentiere ich die oppositionelle Interimsregierung. Und in meiner
Eigenschaft als Regierungschef konfisziere ich die erbeuteten herrenlosen Vermögens-
und Sachwerte.« —
»Herr
Schultheiß! Habt Ihr das gehört?« sprach draußen vor der Tür der
Dorfschreiber zum Bürgermeister. »Was denn?« — »Da drinnen wird’s laut.
Ich möcht wetten, die streiten sich ums Geld!« — »Ach! Schweig er still.
Hat er nichts beß’res zu tun, als an fremden Türen zu horchen? Geh er in
seine Schreibstube zurück, wo er hingehört.« Der Schreiber machte ein saures
Gesicht und mit einer devoten Verbeugung zog er sich grinsend zurück. Einen
Augenblick lang spielte der Schultheiß selber mit dem Gedanken, ein wenig von
dem Disput anzuhören, beherrschte sich aber, und ging nachsehen, was sie
Ursache des eben aufkeimenden Lärms auf dem Dorfplatz sei.
Indessen
wogten die Wellen in der Ratsstube immer höher:
»Du
nennst mich einen Dieb und Räuber?!« Peter sprang von seinem Sitz auf.
»Bitte
beruhige dich, Peter. Alissandra hat das bestimmt nicht so gemeint.« Tamina
versuchte vergeblich den Tobenden zu beschwichtigen.
»Und
ob ich das so gemeint habe! Wie soll man sonst einen nennen, der nur an die
eigene Tasche denkt?«
»Sieh
an! Alissandra, das reiche, verwöhnte Fürstentöchterchen spielt sich auf zum
Schutzpatron der Armen und Entrechteten. Wenn mir eines verhaßt ist, dann sind
es diese verlogenen Salon-Kommunisten.«
»Ich
bitte euch. Können wir denn nicht vernünftig miteinander…« Wilo versuchte
zu schlichten, aber Alissandra ließ ihn gar nicht erst ausreden.
»Du
bist am besten ganz still, Wilo. Ich kann mir denken, warum du hinter dem Geld
her bist. Ein Herumtreiber, Trunkenbold, Weiberheld und Zechpreller und
Schuldenmacher. Bist du etwa nicht vor dem Schuldturm geflohen?« Wilo lief
dunkel an.
»Nimm
dich in acht, oder ich vergesse, daß du ein Mädchen bist.«
»Was
ist? Willst du dich prügeln? na los, tue dir keinen Zwang an. Bei mir hat sich
schon manch einer einen Satz heißer Ohren geholt. — Halt den Mund, Tamina!
Das geht dich nichts an!« Arme Tamina! Wollte sie doch nur zu schlichten
versuchen, und geriet jetzt selber in die Schußlinie.
»Jetzt
gehst du wirklich zu weit, Alissandra. Ich meinte lediglich, daß wir für
unsere Ziele ein wenig Geld brauchen…«
»Andere
arbeiten, wenn sie Geld brauchen. Versuch’s doch zur Abwechslung mal damit.!
Ich… —«
Weiter
kam Alissandra nicht, denn eine Handvoll Münzen traf sie mitten ins Gesicht.
Aber auch Peter und Wilo hatten keine Gelegenheit sich zu freuen oder zu
wundern, denn auch sie wurden von dem Goldregen — oder besser gesagt Goldsturm
— nicht verschont. Der Streit verstummte abrupt. Das war auch nicht
verwunderlich, denn wem schon einmal einige Hundert Gulden an den Kopf geflogen
sind, der weiß, daß das recht schmerzhaft ist.
Der
Urheber dieses unwillkommenen Geldsegens war Tamina.
»Gold,
Gold, Gold! Immer nur Gold! Wenn das alles ist, was ihr wollt, dann nehmt
dies — und das!« Mit beiden Händen warf sie Gold- und Silberstücke durch
das Zimmer, daß es nur so krachte und Prasselte. Ihre Munition entnahm sie
einer wohlgefüllten Geldkiste. »Habt ihr endlich genug? Merkt ihr denn nicht,
was das verfluchte Gold aus euch gemacht hat? Wart ihr nicht einmal Freunde? Und
jetzt benehmt ihr euch wie die ärgsten Feinde.« Sie warf die letzte Handvoll Münzen
weg und sank weinend auf eine der Truhen nieder.
Ein
betroffenes Schweigen senkte sich über die Streithähne. Tamina hatte recht. Da
standen sie jetzt, die besten Freunde, Kameraden, die einander ihr Leben
verdankten, Schicksalsgefährten, die gemeinsam schöne und schwere Stunden
verlebt hatten; und jetzt stritten sie bis aufs Blut, warfen sich übelste
Schimpfworte an den Kopf. Keiner sah den anderen an. Den Blick zu Boden gewandt
standen sie wie blöde da. Bis auf Taminens Schluchzen war es ganz stille. Wilo
ging zu ihr hin und wollte sie umarmen, aber sie litt es nicht und schüttelte
ihn heftig ab. »Ihr müßt euch erst wieder vertragen«, sagte sie mit halb
erstickter Stimme und wischte sich die tränen aus dem Gesicht.
»Also
gut, wir werden es zurückgeben«, sagte Peter und sah Alissandra fragend an.
»Wir
teilen es auf. Du hattest recht, Peter. Auch du, Wilo. Es tut mir leid, was ich
zu euch gesagt habe.«
»Also
geben wir es zurück«, sagte auch Wilo.
»Nein,
ihr könnt euren Anteil haben.«
»Jetzt
fangt ihr ja schon wieder an!« rief Tamina. Da lachte Wilo laut auf.
»Ihr
seid gut! Wirklich, nicht zu übertreffen!« dröhnte er. Sein Gelächter wirkte
irgendwie ansteckend. Peter und Alissandra stimmten mit ein; und zuletzt konnte
auch Tamina nicht anders. Die Vier gaben sich die Hände und fielen einander um
den Hals.
»Was
wird jetzt?« fragte Tamina, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten.
»Ich
denke, du hast etwas gut bei mir«, sagte Peter. Er ging zu einer der
Geldtruhen, nahm eine Handvoll Münzen heraus und warf sie einzeln nach Tamina
und verschonte auch Alissandra nicht. Es währte nicht lange, da hielt ein jeder
einen Sack Geldes in der Hand, und wie bei einer Schneeballschlacht lautete das
Motto: Jeder gegen Jeden.
Die
restlichen Bewohner des Rathauses mochten sich nur noch wundern, ob dem
Geschrei, Gelächter und dem ungewöhnlichen Klimpern und Scheppern, das aus der
Ratsstube drang.
Als
endlich jemand sich ein Herz faßte und nachschauen ging, bot sich ihm folgender
Anblick: Peter saß auf einem Stuhl und wurde von Wilo festgehalten, während
Alissandra auf seinen Knien saß und gemeinsam mit Tamina ihm Goldmünzen in den
Kragen stopften. »Jetzt bekommst du doch noch deinen Anteil«, rief Alissandra
lachend. Peter quiekte und bettelte aber es half nichts. Immer mehr der schweren
eiskalten Münzen mußten in sein Hemd hinein.
»Verzeihung,
die Herrschaften! Ich möchte nicht stören, aber…«
»Wir
sind gerade sehr beschäftigt«, sagte Peter, dem das ganze ziemlich peinlich
war. — »Bitte sehr!« entschuldigte sich der Störenfried und zog sich mit
einem Ausdruck größter Verwunderung zurück.
»Wer
weiß, was der jetzt den anderen erzählt«, sagte Tamina.
Endlich
ließen die drei von dem armen Peter ab. Der versuchte erst einmal aufzustehen,
was sich als recht schwierig erwies, fühlte er sich doch gut fünfzehn
Kilogramm Gold beschwert.
»Iih!
jetzt habe ich die Dinger schon in der Hose und in den Stiefeln«, klagte der
Goldbäuchige.
»Du
ärmster!« lachte Alissandra. »Wer kann sich schon beklagen, daß er zuviel
Gold in der Hose hat?«
»Ja,
Peter. Mach uns den Goldesel!« rief Tamina kichernd. Peter bückte sich und zog
sein Hemd aus der Hose, bis die ganze Goldfracht krachend zu Boden polterte.
»Ich
kenne jemanden, der sich etwas zu laut gefreut hat, um ihn jetzt ungeschoren
davon kommen zu lassen«, sagte Peter grimmig. Tamina versuchte vergeblich ihr
Heil in der Flucht zu suchen und bettelte umsonst um Gnade — auch sie bekam
ihren Anteil Gold ab.
Als
sie sich fertig ausgetobt hatten, sah Tamina sich im Zimmer um und sprach: »Ich
kenne da ein paar, die dürfen den Saustall hier aufräumen, und ich fürchte,
das sind wir.« Der Ratsaal sah wirklich nicht so aus, wie man es von der Würde
eines solchen Ortes erwarten dürfte. Stühle lagen umgestürzt auf dem Boden,
der von Gold übersät war. Halbgefüllte Geldkisten und leere Säcke klagten
den Verlust ihres Inhalts an. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die letzte
Münze eingesackt und in den Truhen verstaut worden war; jedenfalls soweit sie
zum Vorschein gekommen waren. (Einige kamen erst bei späteren Gelegenheiten zum
Vorschein, indem sie aus dem einen oder anderen Kleidungsstück hervorpurzelten
— sehr zum Erstaunen der Umstehenden und zur Belustigung der vier Freunde.)
Kaum
hatten sie das Zimmer verlassen, da stürzte ihnen auf der Treppe ein junger
Mann entgegen. Es war einer von Wilos ,Soldaten’. Noch ein wenig außer Atem
sprach er sie an: »Hoheit! Herr General! ich habe Neuigkeiten für Euch. Es
wurden Gefangene gemacht. Sie sind in einer Scheune untergebracht.« Peter
bedeutete dem Mann, sie sogleich dorthin zu führen.
Am
Rande des Dorfes stand eine große windschiefe Holzscheune, die bereits ihre
besten Tage hinter sich hatte. Sie gehörte der Gemeinde und diente als
Lagerraum. Rings um das Gebäude waren Wachposten mit Spießen und Äxten
postiert. Bei Peters Ankunft grüßten sie militärisch — zumindest taten sie,
was sie für dergleichen hielten, da kaum einer von ihnen jemals bei den
Soldaten gedient hatte und die militärischen Gepflogenheiten nur vom Hörensagen
kannte.
Peter
erwiderte den Gruß etwas unbeholfen. Seine Popularität und das große Ansehen,
ja die regelrechte Verehrung, die ihm von diesen einfachen Landleuten entgegen
gebracht wurde, waren für ihn sehr ungewöhnlich und brachten ihn männiglich
in Verlegenheit.
»Es
sind neunundzwanzig Gefangene, Herr! Wir haben sie aufgegriffen, als sie in
Richtung Dorf marschierten. Sie haben keinen Widerstand geleistet und verlangten
Euch zu sprechen«, sagte der junge Mann, der sie abgeholt hatte. Zögernd fügte
er hinzu: »Ich glaube, es sind anständige Kerls. Wir haben nicht viel
gesprochen, aber ich merkte, daß es Leute vom Land sind.«
»Ich
nehme doch an, daß ihr sie entwaffnet habt«, fragte Wilo.
»Selbstverständlich.
Die Waffen, sowie fünfzehn Pferde wurde alle beschlagnahmt.« Er hieß die
Wachen das Tor zu öffnen, das mit einem massiven Balken verrammelt war. Peter
und Wilo traten ein. Im Inneren befanden sich, wie angekündigt, die Soldaten
des Regenten. Sie saßen oder kauerten auf dem Boden. Sie waren an Händen und Füßen
gefesselt. Einer der Gefangenen stand sogleich auf und humpelte auf Wilo zu. Er
verneigte sich tief und sagte: »Verzeiht, Hoheit! Ich bitte Euch um Gnade für
meine Männer.« Wilo grinste und deutete auf Peter: »Ihr irrt Euch. Dies hier
ist die Hoheit. Ich bin nur General.« Der Mann sah ihn erstaunt an und wandte
sich an Peter. Dieser hatte den Gesichtsausdruck richtig gedeutet und war daher
ein wenig verdrießlich gestimmt. Es war ihm eigentlich recht unangenehm, einen
Mann, der gut doppelt so alt war, wie er selber, vor ihm auf der erde knien
sehen. Irgendwie aber gefiel ihm dies wiederum, so daß er den armen Kerl
vielleicht etwas länger als nötig in seiner unbequemen Stellung verharren ließ.
Nach
mannigfaltigen Höflichkeiten und Unterwürfigkeitsbezeugungen, wie dies des
Landes der Brauch war, berichtete der Mann im Wesentlichen folgendes:
Er
und seine Kameraden seien einfache Landleute, die von der Armee des Regenten
zwangsrekrutiert worden waren. Sie seien in die Kompanie von Hauptmann Borkas
eingeteilt worden, wo sie drei Jahre gedient hätten. Als sie von Peter in der
Nacht überrumpelt und festgesetzt worden waren, hätten sie beschlossen, den
Dienst zu quittieren und zu den königlichen Streitkräften überzulaufen. Als
im Morgengrauen die Schatten verschwunden seien, hätten sie nach kurzer
Beratung beschlossen, sich im Dorfe zu ergeben. Die Offiziere und einige
Unentschlossene hätten sich auf den Weg nach Carlan gemacht.
»Warum
kommt ihr erst jetzt auf die Idee, die Fronten zu wechseln?« fragte Wilo
streng.
»Wir
konnten nicht anders. Unsere Familien blieben schutzlos in unseren Heimatdörfern
zurück. Wer meuterte oder desertierte, wurde mit dem Tode bestraft, und wenn
sie einen nicht erwischten, dann mußte die Familie es büßen. Wir haben zwar
von den Rebellen gehört, die im Norden sehr stark sind und dem Regenten
Widerstand leisten, aber hier im Süden, nahe der Hauptstadt, wo die Truppen und
Spione des Regenten überall lauern, wagt niemand offenen Widerstand. Aber
jetzt, wo Ihr hier seid, und wo wir wissen, daß die schrecklichen Schatten
nicht unbesiegbar sind, da wollen wir auf Eurer Seite kämpfen.«
»Was
hältst du davon?« fragte Peter Wilo leise.
»ich
glaube, wir können ihnen vertrauen. Außerdem können wir ausgebildete Soldaten
für den Aufbau unserer eigenen Streitkräfte gut gebrauchen.« Er wandte sich
an die Gefangenen: »Wollt ihr auf der Seite des Prinzen Peter gegen Tiras den
Regenten kämpfen?« — »Ja!« erscholl es einstimmig. »Seid ihr bereit, ihm
und er Flagge des Königs die Treue zu schwören?« Alle waren dazu sofort
bereit.
»Nehmt
ihnen die Fesseln ab. Ich begnadige sie und lassen sie frei«, befahl Peter den
Milizionären, welche die Gefangenen bewachten. »Gebt ihnen Wasser und etwas zu
essen und was immer sie sonst brauchen. — Wir treffen uns heute Nachmittag um
drei Uhr auf dem Dorfplatz zu einer Versammlung. Sorgt dafür, daß jeder davon
erfährt.« Peter ließ sich entschuldigen und bat Wilo, ihn soweit zu
vertreten. Es gab so viel wichtiges zu regeln, zu beschließen und organisieren,
daß er kaum noch wußte wo ihm der Kopf stand. Er wollte eine Weile mit sich
und seinen Gedanken allein gelassen werden.
So
kam es, daß in dem ganzen Dorfe ein jeder geschäftig seine Aufgaben erledigte,
während Peter allein und abwesend, wie schlafwandelnd, auf dem Dorfanger hin
und wider schlenderte. Es ist unmöglich zu beschreiben, was ihm in diesem
Augenblick im Kopfe herumging. So viel war in so kurzer Zeit geschehen, so viel
hatte sich verändert. Hatte er bislang mit seinen Freunden gemeinsam, von der
Umwelt im Großen und Ganzen unbehelligt, in einem wundervollen, privaten
Abenteuer gelebt, so sah er sich jetzt plötzlich mit der großen Verantwortung
konfrontiert, eine Revolution anzuführen, einen Krieg zu organisieren und einen
Staat zu regieren. Bislang war vor alles, trotz der Gefahren und Widrigkeiten,
ein riesiger Spaß gewesen, aber jetzt galt es ernst. Er bekam eine unsägliche
Angst. Wie sollte er dieser gewaltigen Aufgab, die eines Übermenschen bedurfte,
erfüllen? Was waren das für Menschen, von denen man in den Geschichtsbüchern
lesen kann, die gewaltige Reiche gegründet und erobert hatten? Warum mußte
ausgerechnet er König von Arkanien werden? Er würde Minister und Hofräte
ernennen, einen Staat, eine Verwaltung aufbauen, Gesetze erlassen, recht
sprechen, Steuern erheben, Soldaten ausheben, Verträge schließen, Konferenzen
einberufen. Eine tonnenschwere Last lag auf seinen Schultern, ein Mühlstein lag
auf seiner Brust, der ihn zu ersticken drohte. Selbst hier an diesem
wundervollen, sonnigen Frühlingstag unter freiem Himmel fühlte er sich auf
einmal eingeengt und gefesselt. Am liebsten würde er davon laufen, so schnell
ihn seine Beine trügen. Und für einen kurzen Augenblick war er nahe daran, es
tatsächlich zu tun.
So
kam es, daß er sich inmitten dieser vielen Menschen, darunter sich seine besten
und treuesten Freunde befanden, auf einmal unendlich einsam und hilflos vorkam.
In diesem Augenblick beneidete er seine Gefährten. Sie könnten sich, wenn
alles vorüber wäre, irgendwo gemütlich zur Ruhe setzen, sich um ihre persönlichen
Angelegenheiten, Familien, Geschäfte kümmern; er aber müßte für immer König
sein, wie ein Ackergaul lebenslänglich im Gespann laufen.
Er
ließ sich ins kühle Gras fallen und rollte sich auf den Rücken. Der Himmel über
ihm erstrahlte in einem herrlichen, unendlich tiefen, frischen Blau, nur hie und
da von weißen Wolkenstreifen durchzogen. Der Anblick dieser wundervollen blauen
Unendlichkeit wirkte ungeheuer beruhigend und tröstlich auf sein Gemüt.
Blau
war immer schon seine Lieblingsfarbe gewesen. Je länger er dieses unfaßbare
Leuchten mit den Augen trank, ja geradezu mit jeder Pore seines Leibes gierig
aufsog, desto besser fühlte er sich. Er zog sein goldenes Amulett an der Kette
unter dem Hemd hervor. Er hielt es hoch gegen den Himmel und beobachtete die
Lichtstrahlen, die sich in dem farblosen Kristall in der Mitte des Anhängers
brachen, wenn er es gegen die Sonne hielt.
Zuerst
war der Stein ganz von der lichten Himmelsfarbe erfüllt und leuchtete und
glomm, wie von innen heraus, um dann allmählich in den sieben Farben des
Regenbogens zu erstrahlen. Je nachdem, wie er ihn drehte, wechselte das Spiel
der Farben, nahmen die verschwommenen in einander übergehenden Zonen der
Prismenfarben zu oder ab.
Peter
wurde des Farbenspiels nicht müde, denn immer wieder entdeckte er eine neue
Nuance, die ihm bisher entgangen war. Hinzu trat der milde Glanz des gelben
Goldes. In den Rillen und Vertiefungen der unbekannten Schriftzeichen auf dem
Metallring brach sich golden das goldene Licht der Sonne. Was diese uralten
Zeichen und Buchstaben wohl zu bedeuten hatten, fragte sich Peter. Hoffentlich
konnte der weise Callidon sie entziffern. Die Leute im Dorfe hatten ihm
berichtet, daß ein weiser alter Einsiedler auf einem Berg, etwa einen Tagesritt
westlich hinter den Hügeln verborgen lebte. Schon oft wenn die Not groß war,
wußte dieser Mann guten Rat zu erteilen, oder wenn jemand schwer krank
darniederlag und selbst der Arzt aus der Stadt nicht mehr helfen konnte, brachte
ein Bote, den man nach dem Berge geschickt hatte, die rettende Arznei.
Peter
war sehr erpicht darauf, diesen berühmten Philosophen und Gelehrten, von dem
alle nur mit der größten Ehrfurcht sprachen, kennen zu lernen. Aber trotzdem fürchtete
er die Ankunft bei Callidon und suchte sie möglichst hinauszuzögern. Einmal
dort angelangt, hieße es Abschied zu nehmen von Alissandra. So hatte er es mit
ihr verabredet, und das war der Inhalt des Versprechens, das er ihrem Vater
gegeben hatte: Alissandra sicher und wohlbehalten zu Callidon zu bringen.
Jetzt
war es geschehen — seine Angst war zurückgekehrt. Ein Leben ohne Alissandra
erschien ihm öde und lustlos. Gewiß, er kam die meiste Zeit nicht besonders
gut mit ihr aus, aber er hatte auch viel Spaß mit ihr gehabt, trotz und
vielleicht auch gerade wegen der kleinen Neckereien.
Eine
helle freundliche Stimme riß ihn aus seinen Gedanken: »Hallo, Peter! Hier
steckst du also.« Es war Tamina, die ebenfalls dem geschäftigen Treiben im
Dorf entflohen war. »Was machst du hier? Schaust du dir die Wolken an?«
»Ja,
woher…« Tamina lachte. »Oh, Peter! Du bist nicht der einzige, der so etwas
tut. Am misten Spaß macht es im Sommer, wenn die Wolken die schönsten Formen
haben. — Aber ich sehe, du bist irgendwie so tiefsinnig. Woran denkst du
gerade?«
»Ich
denke an nichts besonderes. Ich betrachtete gerade mein Amulett.« Tamina merkte
wohl, daß er log. Sie widersprach ihm aber nicht, sondern sah ihn nur an und
wartete schweigend. Manchmal war es besser, nichts zu sagen, sondern nur zuzuhören.
Oder einfach abzuwarten, bis der andere so weit war. Und so geschah es auch
jetzt.
Peter
druckste erst ein wenig herum. Dann aber erzählte er ihr von seinem Kummer. Es
tat gut, mit jemandem zu sprechen, der Zeit hatte zuzuhören, der einen nicht drängte,
der kein Ziel, keine Absicht verfolgte, aber immer einen guten Rat wußte, oder
zumindest ein paar tröstende Worte. Tamina lauschte seinen Worten aufmerksam.
»ich kann dich gut verstehen«, sagte sie schließlich. »Auch ich frage mich
manchmal, was in der Zukunft sein wird und ob meine Wünsche in Erfüllung
gehen. Aber ich denke, man soll sich nicht zu sehr Gedanken darüber machen. Ich
bin fest davon überzeugt, daß alles so kommt, wie’s kommen muß.«
»Das
befriedigt mich nicht. Ich bin kein Fatalist. Ich glaube an den freien Willen
des Menschen und an die Möglichkeit, selber seines Glückes Schmied zu sein.
Wir sind doch keine Marionetten, die an unsichtbaren Fäden gezogen und gelenkt
werden.«
»Nein,
natürlich nicht. Ich meine damit auch nicht, daß alle Handlungen und
Ereignisse vorausbestimmt sind, sondern daß es eine feste Ordnung in der Welt
gibt, einen göttlichen Plan, nach dem alles geschehen soll. Und jeder kann
selber entscheiden, ob er diesem Plan folgen will, oder ob er der Ordnung
zuwider handeln will.«
»Nur
daß niemand diesen göttlichen Plan kennt«, warf Peter ein.
»Das
wäre aber auch furchtbar langweilig. Außerdem glaube ich nicht, daß irgend
ein Mensch fähig wäre zu begreifen, nach welchen Regeln und Plänen die ganze
Welt funktioniert. — Nein Peter, du sollst König von Arkanien werden, das ist
der Plan, aber es ist deine freie Entscheidung, ob du darnach strebst, ihn zu
erfüllen und ein guter, gerechter König wirst, oder ob du alles aufgibst und
wieder dahin zurückkehrst, woher du gekommen bist.«
»Wie
könnte ich das? Ich wüßte nicht einmal wie ich es anstellen sollte.«
»Ich
denke, wenn du es wirklich wolltest, daß sich dir dann rasch ein Weg böte. Aber
willst du wirklich zurück?«
»Nein
— ich denke nicht. Aber…«
»Dann
laß dich nicht beirren. Du darfst nicht den ganzen weiten und beschwerlichen
weg anschauen und sagen ›das schaffe ich nie!‹, sondern du mußt immer einen
Fuß vor den andern setzen. So näherst du dich unbeirrt, unweigerlich deinem
Ziel. Außerdem bist du nicht allein. Du hast mich und Wilo — und Alissandra.
Auch wir haben unsere Aufgabe zu erfüllen; auch uns ist ein Ziel gegeben, auch
wir müssen unseren Beitrag leisten. Unabhängig davon, was wir suchen, wonach
wir streben. — Schau, ich hätte auch nie gedacht, daß ich mich heute an
diesem Ort befinden würde, daß ich die schicksalhaften Ereignisse, welche die
Zukunft Arkaniens beeinflussen, hautnah miterleben würde. Und was die Zukunft
mir bringen mag, ist ebenso ungewiß. Du hast es sogar besser, du weißt daß du
zum König bestimmt bist. Was aus mir werden wird, da habe ich keine Ahnung.«
»Hast
du kein besonderes Ziel vor Augen, keinen geheimen Wunsch?«
»Doch,
aber die binde ich dir nicht auf die Nase.« Tamina lachte. »Nein, im Ernst.
Ich glaube, ich wünsche mir am meisten ein richtiges Zuhause. Einen Platz wo
ich mich wohl fühle; ein hübsches kleines Haus mit einem großen Garten.«
»Das
klingt nicht sehr aufregend und abenteuerlustig.«
»Mag
sein, aber ich bin eben nicht wie Alissandra. Obwohl ich denke, daß… —«
Sei biß sich auf die Lippen.
»Was?«
»Ach
nichts. Das mußt du schon allein herausfinden.« Offensichtlich wollte sie
nicht über Alissandra sprechen. »Erzähl mir lieber, was du gerne getan hättest,
bevor du nach Arkanien gekommen bist.« Peter runzelte die Stirn. Das war eine
gute Frage. »Ich weiß nicht so genau. Eigentlich hatte ich keine besonderen Pläne.
Wahrscheinlich hätte ich nach der Schule die Universität besucht. Vielleicht hätte
ich die Juristerei studiert, oder so etwas. Auf jeden Fall etwas, wo man nicht
rechnen braucht«, fügte er lächelnd hinzu. »Vielleicht hätte ich es bis zum
Rechtsanwalt oder zum Richter gebracht. Obgleich — für letzteres muß man die
richtigen Leute kennen und Mitglied in der richtigen Partei sein. Wahrscheinlich
wäre aus mir irgend ein kleiner Beamter oder Angestellter geworden, der nur auf
seine Pensionierung wartet. In der Freizeit wäre ich zu Hause vor dem Fernseher
oder in der Bibliothek gesessen und hätte mit niemandem gesprochen.«
»Magst
du keine Menschen?«
»Ich
denke, die einen, die zu langweilig und gewöhnlich sind, mochte ich nicht
leiden und die anderen, die mich interessierten, die wagte ich nicht
anzusprechen. Ach! Ich weiß auch nicht.« Es fiel Peter nicht leicht, darüber
zu sprechen.
»Vielleicht
wäre ich ein Schriftsteller geworden. Wahrscheinlich kein guter und wohl auch
kein reicher, sondern ein hoffnungslos altmodischer Geschichtenerzähler. Mit
diesem konfusen Zeug, was man heutzutage Literatur nennt, habe ich nie etwas
anfangen können.«
»Ein
Schriftsteller? Du meinst ein richtiger Dichter, der Bücher schreibt?« Taminas
Augen leuchteten. »Hast du vielleicht schon etwa geschrieben, ein Buch?«
»Ein
Buch? schön wär’s! Nein, aber ein paar Kurzgeschichten und den Anfang eines
Romans, der aber nie fertig wurde. Ich bin nur zwei Kapitel weit gekommen.
Irgendwie verging mir die Lust. Verstehst du, wenn man so viele gute Bücher
liest und diese Geschichten dann mit den eigenen vergleicht und man merkt, wie
schlecht und unbeholfen alles klingt.«
»Schade,
ich hätte gerne eine von diesen Geschichten gehört. Aber du kannst sie mir ja
einmal erzählen.«
»Gerne,
wenn es dich wirklich interessiert.«
»Schau
mal! Ist das nicht Wilo, der da kommt?« er war es. »Hallo, ihr beiden! Wir
haben euch überall gesucht. Der Bürgermeister und die Dorfleute haben ein
Festmahl für uns vorbereitet. Da darf doch der Ehrengast nicht fehlen.«
»Was
schon wieder essen? Wir haben doch gerade erst gefrühstückt?« Peter sah auf
die Uhr. Es war bereits halb eins. »Beeilt euch, es warten schon alle«, rief
Wilo, der zwar ebenfalls reichlich gefrühstückt hatte, aber einem leckeren
Festschmaus — und gutem Trunk — nie abgeneigt war. Trotz seiner
gelegentlichen Völlerei brachte er es auf beneidenswerte Weise fertig, eine
perfekte Figur zu besitzen.
»Keine
Sorge«, meinte Peter. »Wir sind die Ehrengäste, da können wir ruhig etwas später
kommen. Sie werden kaum ohne uns anfangen.«
Das
Rathaus war festlich geschmückt, so weit dies die bescheidenen Verhältnisse
zuließen. Aus dem benachbarten Wirtschaft hatte man Speisen herbeigeschafft. Im
großen Ratssaale war eine weiß gedeckte Tafel für die Ehrengäste, den
Schultheißen, die Herren des Rates und weitere Honoratioren des Ortes
aufgestellt worden. Alle Plätze bis auf drei in der Mitte waren besetzt. Peters
Eintreffen wurde mit lautem Beifall begrüßt. Ein Diener geleitete sie an ihre
Plätze. Alle erhoben sich und warteten, bis Peter Platz genommen hatte. Es
folgten Hochrufe, die der so geehrte verlegen und errötend entgegen nahm.
Alissandra,
die zu Peters Rechten saß, erhob sich und reichte ihm einen silbernen Kelch mit
Wein. Wilo und Tamina nahmen zu seiner Linken Platz. Sogleich erhob sich der Bürgermeister.
Er brachte einen langen und förmlichen Trinkspruch auf die Gesundheit der Gäste
an. Danach folgten Ehrenbezeugungen anderer wichtiger und würdiger Herren.
»Ich
fürchte, die erwarten, daß ich gleich etwas sagen soll«, flüsterte Peter
Alissandra ins Ohr. Und so war es auch.
Irgendwie
brachte Peter die für ihn so unangenehme Angelegenheit für alle befriedigend
hinter sich; und nach einem kräftigen Schluck aus seinem Kelch, fühlte er sich
sogleich viel wohler und entspannter.
Das
Festmahl bestand aus zahlreichen Gängen. Peter, der nach den ersten zwei Gängen
sich bereits völlig gesättigt fühlte, wagte von den nachfolgenden Speisen
kaum etwas zu nehmen, mußte er doch befürchten, daß noch eine ganze Reihe
weiterer folgen würden, und es in Arkanien als äußerst unhöflich galt,
angebotene Speisen und Getränke zurückzuweisen.
Zum
Glück bestand das Mahl aus guter ländlicher Hausmannskost, so daß Peter
nichts auslassen mußte. In der Hauptstadt, so hatte er sagen hören, äßen die
vornehmen Leute zum Teil die absonderlichsten Spezialitäten, exotische Pflanzen
und Tiere in merkwürdigen Kombinationen. Es war auch schon seltsam, wie gewisse
Menschen Dinge aßen, nur weil sie teuer und selten waren, welche sie in
lebendigem Zustande kaum mit dem Finger berühren würden. Peter konnte einfach
nicht verstehen, wie man so eklige Dinge wie Muscheln, Schnecken oder jene
garstigen vielgliedrigen Krustentiere mit ihren Stielaugen und Tentakeln essen
konnte. »Ich essen nichts, was mehr als vier oder weniger als zwei Beine hat«,
pflegte er zu sagen. Zum Glück für ihn war die gewöhnliche arkanische Küche
eine einfache, aber ausgewogene, wobei in den nördlichen Ländern mehr Fleisch
und Getreide gegessen wurde, während im Süden vor allem Gemüse und Fisch zu
den beliebtesten Speisen zählten. Das einzige was Peter schwer zu schaffen
machte, war die Tatsache, daß man hierzulande keinen Kakao und somit auch keine
Schokolade kannte. Dieses herrlich wohlschmeckende, wie ebenso nahrhafte und kräftigende
Stärkungsmittel, welches er früher in gehörigen Mengen zu verkonsumieren
pflegte, vermißte er schmerzlich, und er hatte insgeheim längst beschlossen,
falls er eines Tages wirklich König sein würde, nichts unversucht zu lassen,
um irgendwo Kakaobohnen aufzutreiben und das ersehnte Produkt herstellen zu
lassen.
Das
Essen zog sich bis spät in den Nachmittag hin. Es ging auf drei Uhr zu, als das
letzte Stück Kuchen und der letzte Kräuterlikör weggetragen wurden. Am
liebsten hätte Peter sich jetzt zu einem ausgiebigen Mittagsschlaf zurückgezogen,
denn was konnte es schöneres auf der Welt geben, als, sich so richtig
vollgefressen zum schlafe zusammenzurollen. Aber leider mußte er diesmal auf
seinen Verdauungsschlaf verzichten, da er selber auf drei Uhr eine Versammlung
einberufen hatte.
Während
die Diener die Tafel abräumten, ging Peter ans Fenster und schaute hinaus.
Unten auf dem Dorfplatz hatte sich eine größere Menschenmenge eingefunden, die
stetig wuchs.
»Was
hast du den Leuten zu verkündigen?« wollte Alissandra wissen.
»Hört
mal alle her!« rief Peter seine Freunde zusammen. »Nachdem wir die Schatten
besiegt haben und wissen, wie man sie wirksam bekämpft, haben wir einen großen
Vorteil errungen. Ich denke daher, daß es jetzt an der Zeit sei, den Widerstand
gegen Tiras neu zu formieren. Wir haben den Menschen neuen Mut gegeben und ihr
Selbstvertrauen gestärkt, gleichzeitig hat der Regent eine seiner
wirkungsvollsten Waffen verloren — die Angst vor den Schatten. Diese Situation
müssen wir ausnützen. Wir haben da draußen eine Handvoll Soldaten. Sie bilden
den Grundstock der Revolutionsarmee. Durch die Erbeutung der Steuereinnahmen können
wir eigene Truppen ausheben und ausrüsten und verpflegen. Einen Teil des Geldes
soll in eine allgemeine Rentenkassen fließen, aus welcher die Armen und Bedürftigen
unterstützt werden sollen. Auf diese Weise kommt das Geld wieder unter das
Volk, und zwar an diejenigen, die seiner am dringendsten bedürfen.
Ich
bin nicht der legitime Herrscher Arkaniens und wich weiß auch nicht, ob ich es
jemals sein werde. Andererseits deutet manches darauf hin, daß ich vielleicht
doch eines Tages König sein werde — das wird die Zukunft weisen. Ich denke
aber, daß ich berechtigt bin, gegen Tiras den Regenten zu kämpfen. Also habe
ich mich entschlossen, mich selber zum Gegenregenten zu ernennen und eine
revolutionäre Übergangsregierung zu bilden. — Was sagt ihr dazu?«
»Du
und Regent von Arkanien?« Alissandra lachte. »Entschuldige, aber ich kann mir
dich einfach nicht vorstellen, wie du im königlichen Palast auf dem Marmorthron
Brunnars des Starken sitzest.«
»Das
werde ich auch nicht. Erst wenn ich rechtmäßig nach altem Recht und Brauch zum
König von Arkanien gekrönt worden bin, werde ich den Thron besteigen.«
»Also,
ich finde die Idee gut«, meinte Wilo und zupfte an seinem Bärtchen. »Ein
neuer Regent, der das ganze Land umkrempelt. Das gibt neuen Aufschwung. Wenn es
uns gelingt, hier im Süden genügend Menschen auf unsere Seite zu bringen, dann
könnten wir uns mit den Rebellen im Norden vereinigen und der Regent wäre
erledigt. Das Volk haßt ihn seit langem, die Armee ist unentschlossen und
schwach, neigt aber auf die Seite des Volkes. Ohne die Schatten und ohne die
Unterstützung der Fürsten hat der Regent keine wirkliche Macht mehr; und wenn
ihm die Städte und Provinzen die Steuergelder vorenthalten, kann er auch keine
neuen Truppen aufstellen. Ich denke das wichtigste ist, daß jetzt alles sehr
rasch geht, noch bevor Tiras sich eine neue List ausdenken kann.«
»Du
bist also dafür?«
»Unbedingt.«
»Was
meint ihr beiden, Tamina und Alissandra?« Die letztgenannte sah Peter scharf
an.
»Ich
glaube, daß du ein guter Regent wärst«, sagte Tamina. »Du gehst deinen Weg
und das ist gut so.« Alissandra schwieg einen Augenblick und sagte dann
einfach: »Euer Exzellenz sollten sich jetzt dem Volke zeigen; es ist schon über
drei.«
Die
Versammlung begann etwas später, als angekündigt und wurde ein gewaltiger
Erfolg für Peter. Anfangs hatte er starke Befürchtungen, die Menschen würden
ihn als Regenten nicht akzeptieren. Aber das Gegenteil war der Fall. Lautstarke
Begeisterung machte sich auf dem Platze breit, als Peter der gespannt
lauschenden Volksmenge eine Absicht kund tat.
Die
Soldaten des Regenten wurden gefragt, ob sie bereit wären, ihm als ihrem neuen
Herrn zu dienen und ihm die Treue zu schwören. Ein jeder von ihnen war vollumfänglich
dazu bereit und so nahm Peter ihnen vom Balkon des Rathauses das Treuegelöbnis
ab. Von nun an waren die Männer keine Gefangenen mehr, sondern freie Soldaten
und stolze Offiziere der königlich-arkanischen Armee.
Jetzt
galt es noch eine funktionstüchtige Regierung zu bilden, was sich als
schwieriger erwies, als Peter gedacht hatte. Wilo sollte als Feldmarschall die
Oberaufsicht über die Streitkräfte erhalten. Den Schultheißen des Dorfes
ernannte er zum Vorsitzenden eines neu gebildeten Kreisrates, der aus den
Vorstehern und Bürgermeistern der umliegenden Dörfer bestehen sollte, und
welcher die Aufgabe hatte, neue Truppen auszuheben und eine neue Kreisverwaltung
einzusetzen.
Sobald
sie genügend Männer beisammen hätten, würden sie sich auf den Marsch nach
Carlan machen. Sollte es ihnen gelingen, die Stadt einzunehmen (wobei Peter
hoffte, daß es ein friedlicher Machtwechsel würde) und den Statthalter des
Regenten abzusetzen, dann hätten sie eine starke Position im Süden des Reiches
und einen Ausgangsbasis für weitere Aktionen.
Außer
den Soldaten begehrten noch viele andere junge Männer, in Die Dienste den
frischgebackenen Regenten treten zu dürfen. Wer immer Zuhause entbehrlich war
— Wilo achtete streng darauf, daß genügend Männer im Dorfe und bei ihren
Familien verblieben, um die Arbeit auf den Feldern und im Dorfe zu verrichten
— wurde angeworben. Diese Vorsichtsmaßnahme war unentbehrlich, wenn man
verhindern wollte, daß die Ernte auf den Feldern verdarb, weil alle Männer im
Felde waren. In der Vergangenheit hatte es nicht wenige Hungersnöte gegeben,
weil im Kriege die Feldarbeit vernachlässigt worden war.
Einen
Teil des erbeuteten Geldes hieß Peter den neuen Kreisrat verwalten, der Rest
wurde als Vorschuß an die Dienstleute ausbezahlt und was übrig blieb, wanderte
in die Staatskasse. (Ein Schelm sei, wer Übles denkt, und damit die
Privatschatulle des neuen Regenten meint.)
Die
folgenden Tage waren für Peter und seine Freunde sehr arbeitsreich und
vergingen wie im Fluge.
Wilo
hatte alle Hände voll damit zu tun, sein Armee aufzustellen. Zwar war er nur
Leutnant in der Armee des Regenten gewesen und verstand daher nichts von der
Verwaltung und Organisation eines großen Heeres, wie man es von einem General
oder gar einem Feldmarschall erwarten durfte, aber er gab sein Bestes und dank
seines kühlen Verstandes und den guten Ratschlägen erfahrener Männer an
seiner Seite, übertraf er sich zuweilen selber. In seiner neuen Aufgabe ging er
völlig auf. Er, der junge Schalk und Taugenichts, aus der Heimat schmachvoll
geflohen, aus der Armee unehrenhaft entlassen, hatte es weit gebracht — zum
Offizier und Marschall, zu einem trotz seiner Jugend geachteten und gemeinhin
wohl gelittenen Manne.
Tamina
versuchte sich überall nützlich zu machen. Sie war freilich noch viel zu jung
und unerfahren, um eine Aufgabe in der Regierung oder in dem jungen Staatswesen
zu übernehmen, aber sie ging Peter, wo immer es ging zur Hand und erfüllte die
Pflichten eines Pagen und einer Assistentin auf das zuverlässigste. Es war
unglaublich, wieviel es auf einmal zu schreiben gab.
Peter
hätte nie gedacht, was für einen riesigen Troß von Sekretären, Schreibern
und Boten er plötzlich brauchte. Aber es mußten Anordnungen getroffen werden,
Ämter eingerichtet, Gehälter und Löhne bezahlt, Quittungen und Urkunden
ausgefertigt werden. Jeder, der ein Pferd besaß wurde als Bote in die Dörfer
und Städte geschickt, um die Neuigkeiten zu verbreiten oder um Gesandte zu
bestellen.
Täglich
kamen Gesandte, Würdenträger oder einfach neugierige Bürger und Schaulustige
aus der ganzen Provinz an, die den neuen Regenten sehen und sprechen wollten.
Bereits fünf Tage nach Peters ,Machtübernahme’ konnte der Kreisrat zum
ersten Male tagen. Alle Vertreter erkannten das neue Regiment an und versprachen
ihre Unterstützung.
Täglich
erwartete man Nachrichten aus Carlan. Wie würde der Statthalter reagieren? Die
meisten Vögte des Regenten waren entweder Hals über Kopf vor dem sich
entladenden Volkszorn geflohen oder hatte, sofern sie dem Regenten nicht allzu
nahe gestanden waren und beim Volke durch Milde und Rechtschaffenheit einiges
Ansehen genossen, sich freiwillig auf Peters Seite gestellt.
Peter
selber befand sich wie in einem wunderbar erregenden Rausch. Überall stand
seine Person im Mittelpunkt. Den ganzen Tag über mußte er Versammlungen
leiten, Abgeordnete und Boten empfangen, Beamte und Offiziere ernenne und jede
Menge Briefe und Urkunden diktieren. Abends tat ihn dann schon mal die Hand weh
vom vielen Unterzeichnen. Vor lauter Arbeit fand er kaum Zeit, sich mit seinen
Freunden zu unterhalten. Meistens sahen sich die vier nur zu den Mahlzeiten,
aber dann nicht immer, wurde doch von dem neuen Regierungschef erwartet, mit
diesem oder jenem Gesandten und Würdenträger zu speisen.
Alissandra
aber fühlte sich als einzige recht unnütz. Sie versuchte zwar, sich überall nützlich
zu machen, allein die Arbeit in der Kanzlei mochte ihr nicht recht schmecken,
sie war ihr zu trocken und papieren. In militärischen Angelegenheiten kannte
sie sich nicht aus. Außerdem hätten es sich die Herren Offiziere sehr
verbeten, wenn sich ein junges Mädchen, Prinzessin hin oder her, in ihre
Angelegenheiten eingemischt hätte. In den Küchen des Dorfes, wo für die
vielen zugereisten Gäste die Mahlzeiten zubereitet wurden, stand sie den geübten
Köchinnen und Hausfrauen mehr im Wege herum, als daß sie hilfreich war. In den
Nähstuben, wo an neuen Flaggen und Uniformen gearbeitet wurde, war eine weitere
fleißige Hand hochwillkommen. Natürlich konnte Alissandra nähen und sticken,
da gehörte zu den häuslichen Fertigkeiten in denen sie Zuhause unterrichtet
worden war und die sie nicht schlecht — wenn auch ungern — beherrschte.
Allein, wer sie in der Nähstube mit einer halbfertigen Flagge in der Hand am
Fenster sitzen sah, und sie beobachtete, wie sie öfter zum Fenster hinaus als
auf ihre Handarbeit blickte, wer ihr leises Seufzen und ihre leidenden Blicke
wahrnahm, konnte ermessen, wie verhaßt ihr diese Tätigkeit war. So verwunderte
es nicht, daß sie für ihre Arbeit dreimal so lange brauchte, wie jede andere
der Näherinnen.
So
kam es, daß man sie bald hier, bald da im Ort herumstreifen sah. Es war
keineswegs Bequemlichkeit oder Arbeitsscheu, die sie nirgends verweilen ließ,
denn wo immer sie hinkam und man einer helfenden Hand bedurfte, legte sie mit
Hand an. Am liebsten verbrachte sie ihre Zeit bei den Pferden, deren Zahl sich
mit jener der Fremden im Dorfe vervielfacht hatte.
echte
Begeisterung zeigte sie aber erst, als eine Jagdgesellschaft in die umliegenden
Wälder geschickt wurde, um für die vielen zu verköstigenden Menschen frisches
Fleisch zu besorgen. Im Nu hatte sie ihr Pferd gesattelt und ihren Bogen
gespannt. Und wer hätte es gewagt, sie wieder nach Hause zu schicken?
So
geschah es, daß sie gar nicht im Dorfe war, als atemlose Reiter von ihren
dampfenden Rössern stürzten und den Regenten zu sprechen begehrten. Sie
brachten eine Nachricht, die alle in erstaunen und große Aufregung versetzte,
denn hiermit hatte wirklich niemand gerechnet: Carlan war gefallen.
Die
beiden Reiter übergaben Peter ein Schreiben aus Carlan. Es war von dem
Schultheiß der Stadt und dem stellvertretenden Gouverneur der Provinz
unterzeichnet und trug ein Siegel, bei dem das Zeichen des Regenten — der
Lorbeerkranz und die gekreuzten Schwerter — fehlte. Nachdem man den Boten
einen Begrüßungstrunk gereicht hatte, wie es von Alters her Sitte war,
berichteten sie den staunenden und gebannt lauschenden Zuhörern folgendes:
In
der Stadt Carlan hatten die wildesten Gerüchte über das Erscheinen eines
Retters und Nachfolgers König Brunnars des Starken — etwas genaues wußte natürlich
niemand — die Bevölkerung in helle Aufregung und den Statthalter in seinem
gut befestigten Palast in Furcht versetzt. Aus der Hauptstadt war schon lange
keine Nachricht mehr gekommen. Die Truppen, die er zur Verstärkung der Garnison
angefordert hatte, waren, obwohl längst überfällig, noch immer nicht
eingetroffen. In diese angespannte Lage hinein platzte plötzlich die Nachricht
von der Vernichtung der Schatten und der Zuhörern der Steuergelder durch einen
jungen Prinzen und eine Handvoll Männer aus der Provinz. Die Stimmung in der
Stadt kochte über. Die Steuern waren erst kürzlich wieder erhöht und
eingetrieben worden. In der Bevölkerung hatte sich ein ziemlicher Haß auf den
Regenten, mehr aber noch auf seinen Statthalter, dessen Stranges Regiment sie zu
erdulden hatten, aufgestaut. Überall in den Straßen bildeten sich Volksaufläufe,
die Wirtschaften quollen über, alle Bewohner versammelten sich in den Straße
und auf den Plätzen. Die Stadtknechte vermochten keine Ordnung zu schaffen. Die
Besatzung der Garnison war vollauf beschäftigt, die Mauern und Stadttore zu
besetzen und natürlich den Palast zu sichern.
Als
bald darauf weitere Boten eintrafen und die Berichte der ersten bestätigten und
ergänzten, da war es geschehen. Der aufgestaute Volkszorn brach los. Empörte Bürger
rotteten sich zusammen. Die Hauptwache wurde gestürmt. Die Gefangenen wurden
aus ihren Zellen befreit und an ihrer Statt die Wachen festgesetzt. Mit den
erbeuteten Waffen stürmte man gegen die Kaserne. Deren Kommandanten war glücklicherweise
ein vernünftiger Mensch, der einsah, daß es keinen Sinn hatte, mit den wenigen
Offizieren junge Rekruten auf die zivile Bevölkerung zu hetzen. Daher erklärte
er sich neutral und versprach, nichts gegen die Bürger zu unternehmen, bis die
Lage sich geklärt habe und er neue Befehle von seinen Vorgesetzten oder dem
jeweiligen Machthaber erhielt. Die Besatzung der Stadttore war bestens ausgerüstet,
einen Angreifer von außen abzuwehren; die Bedrohung von innen kam aber völlig
unerwartet und traf die Wachen unvorbereitet. Die meisten der Männer hatten
selber Frau und Kinder in der Stadt und waren nicht geneigt, die Waffen gegen
ihre Mitbürger zu erheben. Sie waren zwar keine Revolutionäre und hätten im
Namen des Regenten oder des Statthalters auf jeden Feind der Stadt geschossen.
Aber in diesem Falle sahen sie keine Veranlassung einzugreifen. Die meisten
kommandierenden Offiziere der Wache waren jedenfalls so klug, keine Torheiten zu
begehen und sich zurückzuhalten, andernfalls wurden sie von ihren Untergebenen
überwältigt, entwaffnet und ungeachtet ihres Protestes und ihren Drohungen im
Stadtgefängnis festgesetzt.
Einzig
die Palastwache leistete erbitterten Widerstand. Gegen sie konnten die Bürger
nichts ausrichten. So errichteten sie rings um den Palast Barrikaden und
verhinderten so einen Ausfall. Dem Statthalter blieb nichts anderes übrig, als
abzuwarten und als Gefangener in seinem eigenen Palaste auf Entsatz durch die
Truppen des Regenten zu warten.
Dieser
aber ließ durch Boten bestellen, daß er im Augenblick nicht im Stande wäre,
Entsatz zu senden, und daß der Statthalter noch mindestens sechs Wochen warten
müsse, bis er ihm einige Truppen schicken könne. Diese Nachricht war für den
Statthalter eine Hiobsbotschaft. Einer Belagerung von sechs Wochen standzuhalten
wäre für die Stadt Carlan kein Problem, selbst jetzt im Frühjahr, wo die
Vorratsspeicher nur noch zu einem kleinen Teil gefüllt waren. Der
Gouverneurspalast hingegen war darauf nicht eingerichtet. Neben dem Statthalter
und seiner Familie lebten in dem Palastbezirk eine größere Anzahl Beamter,
Diener und Lakaien, sowie die Palastwache, die eine eigene Kaserne besaß. Alle
diese Menschen müßten versorgt werden. Es bestand zwar die Möglichkeit, den
Palast durch verschiedene unterirdische Geheimgänge zu verlassen, aber das war
riskant und würde dem Flüchtling nichts nützen, da die Stadttore verschlossen
waren und von der Bürgerwehr scharf bewacht wurden. Außerdem wäre es unmöglich,
unbemerkt so große Mengen Proviants auf diesem Wege in den Palast zu
schmuggeln. So wurden diese geheimen Gänge allein von den Boten und Spionen des
Statthalters benutzt, deren Nachrichten alles andere als ermutigend waren.
Endlich
beschloß der Statthalter, der ein kluger, aber feiger Mann war, daß es das
Beste sei, mit den Aufständischen zu verhandeln. Nach drei Tagen zäher
Unterhandlungen hatte man sich darauf geeinigt, dem abzugsbereiten Statthalter
und seinen Angehörigen und Dienern freies Geleit aus der Stadt zu gewähren.
Diese Chance nutzte der gewitzte Mann, dem es ratsamer erschien, das sinkende
Schiff mit den Taschen voller Gold zu verlassen, als darauf zu warten, daß ein
unzuverlässiger Regent Hülfe entsände, oder er von den Rebellen einen Kopf kürzer
gemacht würde.
Auf
solch gute Nachrichten hatte in Goldbrunn niemand zu hoffen gewagt. Peter war
hellauf begeistert. Die Eroberung Arkaniens schien sich viel einfacher zu
gestalten, als er es sich je hatte träumen lassen. Jetzt hatten sie eine große
und mächtige Stadt mit Mauern und einer Garnison auf ihrer Seite. Sie Stadt war
gut befestigt und wohl ausgerüstet, trotz des allgemein schlechten Zustandes
und der drängenden Not im Lande. Um Carlan zu einzunehmen, bedürfte der Regent
mehr als eines Bataillons von Schattenkriegern. Und woher sollte jener auf die
Schnelle eine Armee von einigen Tausend Kriegern aufbieten?
»Wir
müssen so bald wie möglich zurück nach Carlan reiten«, meinte Peter.
»Aber
wir sollten doch Meister Callidon besuchen«, warf Alissandra ein.
»Gewiß,
das werden wir auch zuerst tun. Dann aber muß ich nach Carlan. — Wilo, würdest
du als mein Gesandter und Bevollmächtigter mit einer Delegation nach Carlan
voraus reisen?«
»Ich
hätte den alten Hexenmeister zwar gerne kennen lernen, aber ich denke, daß muß
noch eine Weile warten. Ich kann sofort aufbrachen.«
»Callidon
ist kein ,Hexenmeister’« protestierte Alissandra heftig, die nichts auf ihren
ehemaligen Hofmeister kommen ließ.
»Morgen
ist auch früh genug, um aufzubrechen«, befand Peter. »Ich denke, wir anderen
könnten uns ebenfalls morgen auf den Weg machen«, sprach er zu den Mädchen
gewandt.
»Dann
heißt es wohl Abschied nehmen«, sagte Alissandra zu Wilo. »Jedenfalls für
eine weile.« Ihr war ganz seltsam zumute. Nach vielen Wochen gemeinsamer Reisen
und Abenteuer auseinander zu gehen, war nicht leicht. Tamina und Peter ging es
ebenso. Alle versuchten sie, ihre Geschäfte so rasch es ging zu erledigen, um
noch so viel Zeit wie möglich gemeinsam verbringen zu können. Natürlich sahen
alle es ein, daß man die Lage in Carlan nicht lange im ungewissen belassen
konnte, daß rasch gehandelt und Ordnung geschafft werden mußte.
Die
Nachricht ihrer baldigen Abreise rief in dem Dorfe Goldbrunn eine große Enttäuschung,
ja geradezu Bestürzung hervor; dennoch sahen alle deren Notwendigkeit ein. Es
kostete die vier Freunde viel Mühe und Überredungsgabe, sich von den
gesellschaftlichen Verpflichtungen loszulösen, um den Tag mit einem gemeinsamen
Abendmahl zu beschließen.
Die
vier hatten sich, nachdem ein jeder seine Sachen gepackt und für die
bevorstehende Reise gerichtet hatte, in dem kleinen Ratssaale, das während der
vergangenen Tage als Peters Amtszimmer und Büro gedient hatte,
zusammengefunden. Der Wirt der Dorfschenke hatte ein besonders köstliches Mahl
zubereitet, welches die Freunde allein und ohne die Anwesenheit von Dienern und
Kellnern sich selber vorlegten. Die Stube war von ausgelassener, aber zuweilen
recht melancholischer Fröhlichkeit erfüllt, die in ihrer Intensität beinahe
etwas unheimliches an sich hatte.
»Mußt
du uns wirklich schon verlassen?« brachte Tamina endlich die rede auf den
Punkt.
»Du
weißt, daß es sein muß. Aber Carlan ist nicht weit so entfernt von Callidons
Berg. Sobald es geht, will ich euch besuchen kommen. Das verspreche ich dir.«
Wilo lächelte Tamina aufmunternd an. Doch auch er war ein wenig traurig
gestimmt. Peter und die beiden Mädel waren ihm in den vergangenen Wochen mehr
ans Herz gewachsen, als er sich selber eingestehen wollte.
»Laßt
und doch ein paar alte Lieder singen!« schlug Wilo vor, dem die Stimmung unerträglich
drückend wurde.
»Ja,
das ist eine gute Idee«, sagte Alissandra rasch und ging die alte Laute holen,
die sie vor Tagen auf dem Speicher gefunden hatte. Sie stimmte einige Akkorde
an, dann begann sie mit heller, aber ein wenig belegter Stimme zu singen. Die
andern fielen mit ein. Nur Peter, der das Lied nicht kannte, lauschte aufmerksam
der verschiedenen Klängen und Stimmen. Die Melodie war eingängig und so summte
er bereits die zweite Strophe mit.
Auf
diese Weise klang ihr vorläufig letzter gemeinsamer Abend aus. Sie sangen noch
manche Lieder, tranken süßen Wein und saßen beieinander. Zuletzt wurden sie
immer stiller und auch sehr müde, und am Ende lauschten sie schweigend, wie
Alissandra verträumt seltsame Melodien auf der Laute klimperte. Es war unmöglich
zu sagen, ob es alte, fremd klingende Lieder oder bloße Improvisationen
ihrerseits waren, aber die Klänge hatten etwas verträumt-wehmütiges, das
wunderschön und schmerzvoll zugleich klang.
Als
sie das Instrument schließlich aus der Hand legte, gingen sie müde zu Bett. Am
nächsten Morgen würden sie früh aufstehen müssen.
Es
dauerte eine ganze Weile, bis Peter endlich einschlief, obgleich er vor Erschöpfung
die Augen kaum offenhalten konnte. Morgen gegen Mittag sollten sie Callidons
Haus erreichen. Vielleicht könnte er dort zwei oder drei Tage verbringen, dann
aber würde er endlich nach Carlan aufbrechen müssen — ohne die beiden Mädchen,
ohne Alissandra! Peter stöhnte leise und warf sie auf den Bauch. Er zwang sich,
an etwas anderes zu denken, sonst würde er noch im Morgengrauen wach liegen.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:33 |