Schatten
So
sehr sie alle die Gastfreundschaft des Grafen hatten schätzen lernen, drängte
es sie doch die Zeit, und so entschied man sich, nach dem Frühstück
aufzubrechen.
Alissandra,
welcher Peters und Taminens verschwinden am Vorabend nicht entgangen war, war am
Morgen daher um so garstiger. Sie warf den beiden noch giftigere Blicke
hinterher, als Tags zuvor. Dennoch fanden sie sich nach dem Frühstück zu einer
gemeinsamen Lagebesprechung zusammen. Graf Arlin hatte in der Tat nach wie vor
einen guten Kontakt zu Callidon, so daß er ihnen ohne Nachforschungen dessen
augenblicklichen Aufenthaltsort mitteilen konnte.
Unsere
vier Freunde setzten sich im Hof auf eine kleine Mauer, die von der Sonne erwärmt,
einen angenehmen Aufenthalt bot. Alissandra zog einen großen mehrfach
zusammengefalteten Bogen festen Papiers hervor, welchen sie sorgfältig
auseinander bog und auf ihren Knien ausbreitete. Es war eine handgezeichnete
Karte von der Gegen um Carlan.
»Onkel
Arlin hat gesagt, daß Callidon hier irgendwo in diesem Wald lebt. Er besitzt
dort ein kleines Haus auf einer Lichtung. Es sieht wie ein Hügel aus — man
kann es nicht genau erkennen.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle
der Karte. »Wenn wir diesen Weg verfolgen, dann kommen wir spätestens übermorgen
in jenes Dorf dort. Da hört die Landstraße auf. Es gibt aber einen weg, der
hinter einer verlassenen Mühle am Waldrand beginnt. Wenn wir ihm folgen, führt
er uns geradewegs zu Callidons Haus.«
Peter
besah sich die Karte genau, um sich den Weg möglichst gut einzuprägen. Seit
dem Beginn seiner Reise hatte er recht gut gelernt, Landkarten zu lesen und sich
im Gelände zu orientieren. Er hob den Blick von der Karte und sah Alissandra
gerade in die Augen. Sie wandte den Blick ab.
Da
es nichts mehr zu fragen oder besprechen gab, machte sich ein jeder daran, sein
Gepäck für den Aufbruch vorzubereiten. Der Graf und die Gräfin waren natürlich
untröstlich, die liebgewonnenen Gäste und ihre Nichte so rasch wieder zu
verlieren. Innert kurzer Zeit war alles zur Abreise gerüstet. Onkel Arlin gab
Alissandra einen Brief für Callidon mit. Er und seine Gemahlin begleiteten die
jungen Leute noch bis in den Hof. Dort standen die Pferde bereits reisefertig
bepackt bereit. Aber nicht nur das. Zu ihrem aller Staunen waren vier
Pferde gesattelt und aufgezäumt: Alissandras Wirbelwind, Peters Mondenglanz,
Wilos Grauschimmel namens Picco und ein mächtiger, schwerer, kohlrabenschwarzer
Rappe. Schweif und Mähne waren ungewöhnlich lang und leicht gewellt. Sein glänzendes
Fell sah aus wie schwarze Seite und umspannte kräftige Muskeln und eine runde,
leicht gespaltene Kruppe.
Der
Graf nahm Tamina bei der Hand und führte sie zu dem Pferde, das neugierig die
Ohren spitzte. Tamina war sprachlos. »Der gute Anatol wird dich auf deiner
Reise begleiten. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Trotz seiner Größe
ist er ganz fromm und läuft leicht und willig«, sagte der Graf.
Die
kleine Tamina traute ihren Augen kaum, als sie neben dem mächtigen schwarzen
Tier stand und zögernd die Hand ausstreckte, um es am Halse zu streicheln. Ungläubig
schaute sie den Grafen an. Dieser lächelte väterlich zurück und sagte: »Jawohl!
er gehört dir. Es kann nicht angehen, daß deine Gefährten wohl beritten sind
und du zu Fuß hinterher laufen mußt.«
»Ja,
aber — Ich weiß nicht — « stotterte Tamina verlegen.
»Aber,
aber. Ein so mutiges Mädchen, das sich tapfer allen Gefahren gestellt hat, wird
doch nicht vor einem Pferd Furcht haben.« Mehr Worte bedurfte es nicht. Tamina
ergriff artig des Grafen Hand und dankte ihm herzlich. Dann wandte sie sich
ihrem neuen vierbeinigen Freunde zu, der vollständig gesattelt und aufgezäumt
und mit einigen Satteltaschen, Decken und anderem notwendigen Zugehör wohl
ausgestattet war. Sein Fell war frisch gebürstet worden und glänzte im
Sonnenlicht, daß es eine Freude war, ihn anzuschauen.
Peter
sah nach der Uhr und drängte zum Aufbruch. Es folgte eine lange, innige
Abschiedsszene, die Alissandra besonders nahe ging. Es war das letzte Mal, seit
dem Abschied von Zuhause, daß sie Kontakt mit ihrer Familie hatte, und wer wußte
wann sie sich das nächste Mal wiedersehen würden.
Aus
Rücksicht auf Tamina, die noch etwas Mühe mit Anatol hatte, kamen sie nur
langsam vorwärts. Bald war die Burg des Grafen ihren Blicken entschwunden. Bis
zur Mittagsrast sprachen die vier nur wenig miteinander. Peter und Tamina
bildeten die Spitze, Alissandra und Wilo machten den Schluß des kleinen Trupps.
Sie kamen durch zwei Dörfer, die, wie die meisten in jener Gegend, einen ärmlichen
und ein wenig verwahrlosten Eindruck machten. Mit jeder Meile, die sie nordwärts
ritten, machte die Landschaft einen öderen, die Menschen einen verzweifelteren,
die Ortschaften einen ungesünderen Eindruck. Man konnte förmlich spüren, daß
man sich immer tiefer in den eigentlichen Machtbereich des Regenten
hineinbewegte.
Am
Rande eines Laubwäldchens beschlossen sie, sich zur Mittagsrast zu lagern. Wilo
suchte nach trockenem Brennholz, Alissandra versorgte die Pferde und Tamina kümmerte
sich um die Zubereitung des Essens. Einzig Peter stand unbeschäftigt da und
schaute den anderen bei der Arbeit zu. Eine entsprechende Bemerkung Alissandras
quittierte er gelassen mit den Worten, er sei schließlich der Chef dieser
Expedition und es komme ihm als künftigen König von Arkanien nicht an, sich um
die niederen Verrichtungen des Alltags zu bekümmern. Die Erwiderung Alissandras
braucht hier nicht überliefert zu werden. Als Wilo mit den Armen voller Äste
und Reisig zurückgekehrt war, und diese kunstvoll zu einem Feuerhaufen
aufgeschichtet hatte, ergriff er Pfeile und Bogen und sagte: »Ich will mal
schauen, ob ich nicht etwas fürs Abendbrot schießen kann. Möchte jemand
mitkommen?«
»Ja,
ich komme gerne mit«, sagte Alissandra sofort. »Den Peter lassen wir besser
zurück; dem wird es sonst noch schlecht, wenn er ein paar Tropfen Blut sieht.«
Noch bevor jener eine passende Antwort parat hatte, war sie bereits flink wie
eine Katze in das Gehölz gehuscht.
»Peter!
Warum müßt ihr beide euch immer streiten? Wie soll das weitergehen?«
»Warum?
Das weißt du doch ganz genau«, entgegnete Peter heftig. »Tu bloß nicht so,
als merktest du nicht, was Sache ist.« Tamina
lief rot an. Sie sprang von der Feuerstelle auf und wandte sich abrupt
um. Mit gepreßter Stimme stieß sie hervor: »Du hast recht, Peter. Es ist
alles meine Schuld. Wäre ich doch daheim geblieben. Ohne mich wäret ihr glücklicher.«
Sie lief davon; Peter hinterher. Bei den Pferden hatte er sie eingeholt. Sie
hatte ihr Gesicht in das dichte, wollige Fell Anatols vergraben und ihr Arme um
den Hals des dunklen Gefährten geschlungen. »Du bist der einzige, der mich
versteht, der letzte Freund«, heulte sie mit erstickter Stimme. Peter verlor
die Geduld: »Jetzt hör aber auf! das ist ja nicht mit anzuhören.« Er packte
sie grob bei der Schulter und drehte sie zu sich herum, so daß er ihr ins
Gesicht sehen konnte. Ihre Augen waren feucht und gerötet. Um den Mund lag ein
trotziger Zug. Sie holte tief Luft und versuchte, ein weiteres Schluchzen zu
unterdrücken.
»Man
könnte fast glauben, du seiest der einzige Mensch auf der Welt der Probleme
hat. Du armes, verlassenes, unbeliebtes Kind! Stellst dich hin und heulst mir
die Ohren voll.« Peter konnte recht unwirsch werden. Tamina kämpfte gegen die
tränen an, diesmal vor Zorn und Scham. »Ausgerechnet du sagt solche Dinge zu
mir. Wer gibt dir das Recht, so mit mir zu reden? Habe ich dir jemals etwas böses
gesagt oder getan? Du kommst daher, aus deinem Goldenen Wunderland, wo alles
besser ist, kennst alles, weißt alles, bist auserkoren König und Kaiser zu
sein. Du bist der schöne, strahlende Held, furchtlos und mutig, dem alles
gelingt, der nie zaudert, immer das rechte Wort zu Hand hat; dem nur die schönste
Prinzessin gut genug ist. — Oh! wie war ich dumm, zu glauben, daß ich blöde,
häßliche kleine Tamina aus einem Bauernstall kommend, dem vornehmen Prinzen
gefallen könnte. Entschuldige bitte, großer Peter, daß ich so töricht war zu
glauben, du könntest mich lieben wie ich… — ich meine gestern Nacht im
Garten, das war doch… — —« Sie konnte nicht mehr weiter sprechen. Peter
versuchte seine Haltung zu bewahren: »Was? du in mich verliebt? Daß ich nicht
lache! Haha!«
Warum
hatte er das gerade gesagt? Was trieb ihn dazu, dem lieben, kleinen Mädchen,
das bebend vor ihm stand, mit solchen Reden weh zu tun? Ging es wirklich nur
darum, diesen schäbigen kleinen Triumph auszukosten, sie Weinen gemacht zu
haben?
»Lach
doch! So lache doch, wenn dir das Vergnügen bereitet!« Sie hatte sich halb von
ihm abgewandt und gegen die mächtige Schulter des Rosses gelehnt, als suche sie
in ihr eine stütze. Peter blieb stumm. Wie groß aber war Taminens
Verwunderung, als sie den Kopf nach ihm wandte und ihm ins Gesicht sah.
Er
hielt den Kopf gesenkt, in seinen Augen glänzte es feucht. Seine Wangen waren
stark gerötet, doch der Rest seines Gesichtes war weiß. Seine Stimme klang
leise und zaudernd: »Tamina! Ich — wollte — das — nicht. Er sank vor ihr
auf die Knie und ergriff ihre rechte Hand. »Bitte verzeih mir, Tamina. — Es
tut mir leid, was ich…«
Tamina
war außerstande etwas zu sagen oder zu tun. Im ersten Augenblick dachte sie
gar, dies sei eine weitere Geste, sie zu verhöhnen. Aber sie verwarf diesen
Gedanken sogleich. Seine Zerknirschung war echt. »Bitte höre mich an!« flehte
er. »Ich will dir alles erzählen.« Er ließ sich neben ihr ins Gras fallen.
Sie setzte sich neben ihn. Eine Weile schien er nachzudenken, dann hub er, den
Blick auf die Erde gesenkt, langsam an zu sprechen; erst stockend, dann immer flüssiger.
»Ich
bin nicht der tapfere, mutige Held, für den du mich hältst; ich bin es nie
gewesen. Im Gegenteil: ich bin eigentlich ein richtiger Versager. Ich hatte nie
Erfolg. Alles was ich angepackt habe, ging schief. In der Schule war ich immer
nur mittelmäßig. Nicht daß ich überfordert gewesen wäre, doch habe ich mich
nie für den Stoff interessiert, oder richtiger gesagt: ich war viel zu faul um
etwas zu tun. Die meiste Zeit habe ich mit Lesen verbracht. Ja man könnte sogar
sagen, ich hätte nur aus zweiter Hand gelebt. Vielleicht lag es daran, daß ich
immer allein war. Ich habe keine Geschwister, meine Eltern hatten nie Zeit für
mich, als ich klein war; und später war ich ihnen nur lästig. Ich kann dir
sagen, es ist kein schönes Gefühl, zu wissen, daß man überflüssig ist. Sie
wollten eigentlich gar keine Kinder haben, aber dann ist ihnen wohl ein Mißgeschick
passiert, und ich kam an. Ich kann nicht sagen, daß sie mich schlecht behandelt
hätten, aber ich spürte eben deutlich, daß ich unerwünscht war. Wohl hatten
sie auch recht viel Mühe mit mir gehabt. Als Kind war ich schwächlich und oft
krank, und mehr als einmal sah es so aus, als würde ich nicht viel älter
werden. Manchmal glaube ich, sie wären sehr erleichtert gewesen, wenn ich
gestorben wäre. Ich konnte mich nie an den wilden Spielen der anderen Knaben
beteiligen und so kam es, daß ich eben die meiste Zeit zu Hause saß und in
meinen Büchern las. Ich las alles was mir in die Hände fiel, und schon frühe
war ich Mitglied in verschiedenen Büchereien. Man kann sich leicht vorstellen,
welch schädlichen Einfluß diese ungehemmte, wahllose Lektüre auf ein noch
unterentwickeltes, kindliches Gemüt hatte. So entwickelte sich in mir sehr bald
eine starke Neugier allem stofflichen auf den Grund zu gehen, die ganze Natur in
mich aufzunehmen und die wirkenden Kräfte und Erscheinungen zu erkennen. Ich
entwickelte einen schier unstillbaren Wissensdurst, den zu befriedigen ich immer
mehr Bücher heranschleppte. Nie aber war es mir in den Sinn gekommen, aus dem
Hause zu gehen und in Wald und Flur meine eigenen Beobachtungen und
Nachforschungen anzustellen; es genügte mir, schwarz auf weiß nachzulesen, wie
es um alles bestellt sei. Und natürlich las ich nicht nur Bücher
wissenschaftlichen und belehrenden Inhalts, sondern auch jede Art von Romanen, Märchen
und Erzählungen, dabei aber nicht so sehr die Werke der vortrefflichen Dichter
und Philosophen — dazu kam ich erst viel später — sondern vor allem jene
Werke gefährlicher Machart: die Abenteuer- und Schauerromane, mitunter gar
solche der billigsten Kolportage. Daneben waren aber auch Märchen und Sagen aus
alter Zeit. Dies alles vermischte sich in dem unreifen und noch für alles empfänglichen
kindlichen Gemüte zu einem bunten Wirrwarr der absonderlichsten Ideen und
Traumbilder. So lebte ich also seit frühester Jugend dem wirklichen Leben völlig
entrückt, in einer grotesken imaginären Traumwelt, welche so wenig mit dem
Leben des Alltags gemeinsam hatte, die mich nicht mehr ausließ, und in die ich
mich um so tiefer flüchtete, als ich mein gegenwärtiges Leben öde, leer und
unerträglich empfand.
Dabei
hatte ich jedoch nie das Gefühl gehabt, nicht die wirkliche Welt zu erleben.
Ich ging in meinen Phantastereien so auf, daß ich für mich allen eine eigene
Welt erschaffen hatte, die ich für die wirkliche hielt und in welcher ich
einigermaßen glücklich und zufrieden lebte. Allein dieser Zustand währte
nicht lange. Mit zunehmendem Alter wuchsen auch meine Verpflichtungen: ich mußte
auf die Mittelschule gehen. Bislang hatte mich meine Lektüre, die mir ein
allumfassendes Wissen vermittelt hatte, weit über den Durchschnitt meiner
Mitschüler erhoben. Ich hatte nie etwas lernen oder arbeiten müssen. Ja, meine
Kenntnisse und Fähigkeiten verhalfen mir sogar zu einem gewissen Respekt
seitens meiner Altersgenossen. Allerdings hatte ich auch nie Freunde. Mein dem
Alter unangemessenes Wissen, meine überlegene, wenn nicht zuweilen überhebliche
Art trennte mich genau so von meinen Schulkameraden, über die es mich
hinaushob, wie es mir den Zugang zu der Welt der Erwachsenen verwehrte. In deren
Augen war ich wahrscheinlich nur ein kurioses Kind mit wunderlichem altklugem
Auftreten. Ich wurde wie ein kleines, dummes Kind behandelt, das ich nicht war.
Ebenso wie ich bei meinen Gefährten als ,Kleiner Erwachsener’ keinen Anschluß
fand. So lebte ich gleichsam als ein Ausgestoßener in einer seltsamen,
buntschillernden Welt voller interessanter und geheimnisvoller Dinge und Kräfte,
die aber außer mir kein anderes lebendiges Wesen barg.
Hatte
mich die Welt bislang in Ruhe gelassen und sich um andere gekümmert, so sollte
sich dies mit meinem Eintritt ins Lyzeum gründlich ändern. Mit einem Male sah
ich mich von vielen fremden Menschen umgeben, mit denen ich täglich umzugehen
hatte, die alle etwas von mit wollten. War ich bislang ein freier, ungezwungener
Geist gewesen, der gewohnt war, nach freiem Belieben alles in sich aufzunehmen,
so sah ich mich jetzt plötzlich dem strengen Regiment der Schulmeister
ausgeliefert, war ich gezwungen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht in
meine Welt paßten, Stoffe in mich aufzunehmen, die mich weder interessierten
noch berührten. Am schlimmsten aber war es, Gedanken und Meinungen ungefragt übernehmen
zu müssen, ohne die geringste Möglichkeit der Kritik oder Ablehnung. Aber
nicht nur von Seiten des Lehrkörpers sah ich mich pressiert. War ich bislang
einen gewissen Respekt von meinen Mitschülern gewohnt gewesen, hatte ich mich
in eine bestimmte Rolle eingewöhnt, so sah ich mich nun herausgefordert und in
Frage gestellt. Mit einem Male war ich gezwungen zu kämpfen. Jeder gegen jeden,
hieß die Devise. Ich war an solchen Umgang nicht gewohnt, hatte mich für einen
erwachsenen Menschen gehalten, einen Philosophen, dessen Waffe das Argument,
dessen Turnierplatz der geschliffene Diskurs war. Nun aber sah ich mich von
allen Seiten angegriffen. Ich war weder der Art der Waffen, noch der Heftigkeit
der Angriffe gewärtig, und so verwundert es nicht, daß ich nach kürzester
Zeit unterlegen war. Es folgte eine schlimme Zeit, da ich an allen fronten kämpfen
mußte. Ich konnte nicht gewinnen, das war mir sehr bald klar, doch hatte ich
keine Wahl. Ich wußte recht bald, was mit jenen geschah, die den Kampf verloren
hatten. Ich kämpfte also um das Überleben — natürlich im übertragenen
Sinne. Es war dies eine schlimme und erste Zeit für mich in der neuen Umgebung.
Am Ende gelang es mir, mich irgendwo am unteren Ende der Rangordnung
einzugliedern. Es war mir auch ein gutes Stück weit gleichgültig, wie groß
meine Macht, mein Ansehen waren, denn ich wollte nicht unentwegt um jedes Bißchen
Souveränität kämpfen müssen. Ich war es zufrieden, endlich meine Ruhe
wiedergefunden zu haben. Dieser Zustand aber währte nicht lange.
Ich
hatte äußerlich zwar etwas Ruhe, aber in meinem Inneren sah es düster aus.
Ich war ängstlich und konnte nicht mit den Menschen umgehen. So blieb ich
weiter ausgeschlossen und einsam. Ich wurde verdrießlich — was mich noch
unbeliebter machte — und schwermütig — was mich noch unberechenbarer werden
ließ. Ich hatte tausenderlei Einfälle und Gedanken. Allein es gab niemanden,
dem ich sie hätte mitteilen können. Kannst du dir vorstellen, was es heißt,
tagelang, ja wochenlang mit keinem Menschen zu sprechen? Wen wundert es, daß
mit der Zeit alles schief ging. Ich hatte keine Kraft mehr, keine Lust, mir war
alles egal. Um ein Haar hätten sie mich aus der Schule hinausgeworfen. Ich kam
in eine andere Klasse. Dort lief es ein wenig besser. Das heißt, man nahm überhaupt
keine Notiz von mir. Ich hatte zwar meine Ruhe, war aber noch einsamer als
zuvor.
Eines
Tages dann, begegnete ich ihr. Sie hieß Bettina und kam neu in die Klasse. Ich
weiß eigentlich kaum noch, wie es geschah, aber bereits nach wenigen Tagen und
Wochen war ich völlig berückt von ihr. Sie sah gut aus, sehr gut, möchte ich
fast sagen. Natürlich hat sie mich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Und
ich habe auch nicht gewagt, ihr irgendwelche Avancen zu machen. Überhaupt bin
ich nicht geschickt in derlei Dingen. Je stärker meine Neigung zu ihr wuchs,
desto mehr litt ich unter dieser Nichtbeachtung ihrerseits. Ich hatte mit der
Zeit den Eindruck, daß jedermann außer ihr genau wußte, was los war. Sie war
gewiß höflich, mir gegenüber, zuweilen gar recht freundlich, doch ließ sie
sich nie irgend etwas anmerken. Ich fürchte, ich muß damals eine ziemlich lächerliche
Figur abgegeben haben. Nach einigen Monaten dann änderte sich plötzlich ihr
Verhalten mir gegenüber. Sie wurde freundlich und aufmerksam und ließ sich
meine Attentionen mit einigem Wohlgefallen zuteil werden. Wenn ich recht bei
Sinnen gewesen wäre, hätte ich damals bereits merken müssen, welch übles
Spiel mit mir getrieben wurde, allein ich war blind und taub im meinem seligen
Liebestaumel. — Ich war ein Narr! Ich begann, ihr meine Zuneigung mehr und
mehr mitzuteilen; erst in zarten Andeutungen, später deutlicher, auch in
einigen Briefen. Und tatsächlich schien sie diese Zuneigung zu erwidern. Dann,
zuweilen war sie wiederum kühl und unnahbar. Dies mußte mich natürlich völlig
verwirren. Meine Briefe und unschuldigen Liebesbeteuerungen steigerten sich in
eine wahre Raserei wildester Leidenschaft. Ich war ihr völlig ergeben, ja
geradezu hörig. Ich hätte alles für sie getan… — Nun denn. Eines Tages
sah ich sie in den Armen eines anderen liegen. Als ich sie daraufhin zur Rede
stellte… — weißt du, was sie da gesagt hat? — Sie hat nur gelacht! Ja,
schallend gelacht. Und dann hat sie mir entdeckt, daß dies alles nur ein vergnüglicher
Spaß für sie und ihre Freunde gewesen sei, daß meine Briefe stets ein unerschöpflicher
Quell komischster Erheiterung gewesen seien, und daß manch einer mir eine hohe
literarische Begabung, vielleicht sogar eine glänzende Zukunft als
erfolgreicher Romancier vorhersagte. (Das waren nicht ihre genauen Worte — dafür
war sie nicht gescheit genug — aber dem Sinn nach, war es das, was sie mir
gesagt hatte.)
Du
kannst dir leicht vorstellen, wie ich nun da stand. Ich haßte sie natürlich
— wohl zu Recht. Aber ich war noch mehr verletzt; tief und unheilbar verletzt.
Ich konnte eine ganze Zeit lang nichts sagen oder denken. Ich war wie gelähmt.
Es war das erste Mal, daß ich es gewagt hatte, meinen Empfindungen freien Lauf
zu lassen, daß ich mein Herz an ein lebendes Wesen verschenkt hatte — und
dann das! Ich zog mich noch mehr in mich zurück. Nach außen spielte ich natürlich
den Kühlen, Gleichgültigen, aber das half nichts gegen den Kampf der in meinem
Innern tobte. Ich fühlte mich verraten und betrogen. Ich haßte die Menschen.
Ich konnte sie nicht mehr ertragen, nicht mehr in meiner Nähe dulden. Ich sann
auf Rache… — —
Jener
Tag, an dem es geschah — es war ein Freitag, daran erinnere ich mich genau —
war wieder einer von den vielen Tagen, an denen ich mich fragte, wozu ich das
alles überhaupt noch mitmachte, warum ich nicht einfach alles stehen und liegen
ließ und mich davon machte. Ich hatte wieder einmal die ganze verlogene
Menschenbrut satt. Ich wollte allein sein, um ungestört nachdenken und mein
krankes Gemüt pflegen zu können. Zu Hause hatte ich keine Ruhe. Es drängte
mich hinaus. Ich war rastlos, von einer mir nicht erklärlichen Nervosität erfüllt.
Ich bin fast geneigt, es eine dumpfe Vorahnung zu nennen. In der Nähe meiner
Heimatstadt gibt es einen kleinen Wald. Er ist bequem zu erreichen und trotzdem
trifft man nicht allzu viele Menschen dort. Dies war der richtige Ort, wenn ich
allein sein wollte. Ich hatte mich schon öfters dorthin zurückgezogen.
Jener
bestimmte Tag also, war ein heller, sonniger Mittsommertag; blauer Himmel, klare
Luft, duftende Wiesen. Aber dennoch war irgend etwas anders als sonst. Kaum war
ich in die Nähe des Gehölzes gekommen, da beschlich mich ein dumpfes Gefühl.
Ich wußte nicht was los war. Mit jedem Schritt wuchs diese Empfindung und verstärkte
sich zu einer Art unheimlicher Beklemmung. Ich konnte mir nicht erklären, wie
mir da geschah und schrieb diesen Anfall meinen zerrütteten Nerven zu. Endlich
— ich war in der Nähe des alten Wasserwerks angelangt — da vermochte ich
keinen Schritt mehr weiter zu gehen. Mir sträubten sich buchstäblich die
Haare. Ich zitterte wie Espenlaub, mein Herz klopfte zum zerspringen. Ich konnte
nicht glauben, was da auf einmal mit mir geschah. Ich stand in der lieblichsten
Landschaft, alles war friedlich und heiter, eine heiße Sommersonne brannte gülden
über das Land, und doch fühlte ich eine Eiseskälte mir durch Mark und Bein
ziehen. Ich stand wie angenagelt und konnte um nichts in der Welt noch einen
einzigen Schritt fürbaß tun. So stand ich wohl eine ganze Zeit lang da — wie
lange, das kann ich nicht sagen, — Sekunden, Minuten, Stunden — wer weiß?
Ein
kalter Luftzug blies mir ins Gesicht, und damit war die Erstarrung wie
weggeblasen. Ich sah mich um. Alles hatte sich verändert — nicht wirklich körperlich,
aber deutlich wahrnehmbar —, das Licht, die Farben. Alles um mich herum wirkte
auf einmal bleich und fahl. Die Sonne war vom Himmel verschwunden, statt des
leuchtenden Blaues trug der Himmel ein grauschwarzes Gewand. Es sah nach einem
Sommergewitter aus, und doch irgendwie ganz anders. Ich hatte diese Veränderungen
in der Atmosphäre nicht gesehen, noch gespürt. Ich empfand es, als hätte
jemand einen Schalter umgelegt. Ich lief los, in dem Augenblick als das Gewitter
ausbrach. Niemals zuvor hatte ich so etwas erlebt. Es war, als befände ich mich
mitten zwischen den geladenen Luftschichten. Ich konnte die Elektrizität förmlich
spüren. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug der erste Blitz ein. Ich
drehte mich im Laufen um und sah, daß der Einschlag just an der Stelle erfolgt
war, wo ich Sekunden zuvor noch gestanden war. Ich stürzte zu Boden, rappelte
mich wieder auf und rannte noch schneller. Ein um das andere Mal schlugen Blitze
rings um mich her ein, zerschmetterten Busch und Baum. Ich lief tiefer in den
Wald hinein. Was immer dies war, es war kein gewöhnliches Ungewitter. Das galt
mir! Ich weiß nicht mehr, was ich in dieser Situation dachte. Wahrscheinlich
denkt man in einem solchen Augenblick an gar nichts, als irgendwie heil davon zu
kommen. Im Wald nahmen die Blitze etwas ab, die Einschläge wurden seltener und
schienen sich von mir zu entfernen. Ich war von dem ungewohnten schnellen Laufen
völlig erschöpft. Ich mußte mich an einen Baumstamm lehnen, um wieder zu Atem
zu kommen. Ich hatte heftiges Seitenstechen und vor meinen Augen flimmerte es.
Ich sah nach oben, wollte sehen, unter was für einem Baum ich mich befand, denn
ich erinnerte mich auf einmal des Sprichwortes ›Eichen sollst du meiden,
Buchen mußt du suchen.‹ Es war eine Eiche. Ich sprang sofort weg und sah mich
verzweifelt nach allen Seiten um. Ich hatte keine Ahnung von Bäumen. Wie sollte
ich mitten im Wald eine Buche finden. Im selben Augenblick wurde die Eiche,
unter deren Krone ich mich eben versteckt hatte, von einem gewaltigen Schlag
gespalten. Funken gleißenden Lichtes sprühten nach allen Seiten. Einige davon
mußten mich wohl getroffen haben, denn ich verspürte sogleich einen heißen
Schmerz und stürzte halb besinnungslos zur Erde. Meine linke Schulter und mein
linkes Bein brannten wie Feuer. Ich versuchte aufzustehen, aber ich konnte mich
nicht rühren. Ich lag da, hörte das Prasseln und Rumoren wie von ferne. Ich wußte,
daß es um mich geschehen war. Seltsamer Weise hatte ich überhaupt keine Furcht
mehr davor. Mochte was geschehen sollte, geschehen. Das letzte, woran ich mich
erinnern kann, war ein blendendes Licht, das mich umgab.
Als
ich später im Wald von Antal wieder zur Besinnung kam, war meine Erinnerung an
diese letzten Ereignisse völlig ausgelöscht. Ich fühlte mich, wie aus einem
langen, tiefen Schlaf erwacht. Den Rest der Geschichte kennst ja bereits.«
Peter ließ den Kopf auf die Knie sinken. Die lange Rede hatte ihn nicht nur äußerlich
angestrengt. Tamina, die neben ihm im Grase saß, schwieg. Sie legte einen Arm
um Peters Schulter. Es blieb lange Zeit sehr stille; nur die Mücken schwirrten
in der Luft und die Pferde malmten geräuschvoll das frische Gras und die jungen
Triebe der Bäume. Ein Knacken im Wald hinter ihnen, ließ Tamina aufblicken.
Sie drehte sich um, konnte aber nichts ausmachen. Vielleicht trieben sich die
Hasen und Eichhörnchen hier herum, und die beiden Jäger würden kein einziges
zu Gesichte kriegen, dachte sie.
Peter
nahm sie in den Arm und küßte sie sanft auf beide Wangen, dann sprach er
leise: »Du brauchst keine Angst zu haben, Tamina! Und du brauchst dich nicht
einsam zu fühlen, denn ich werde immer für dich da sein. Ich habe dich
trotzdem sehr gern. Du wirst für mich wie eine kleine Schwester sein.« Er drückte
sie fest. Tamina seufzte fast unhörbar und hielt ihn lange fest umklammert.
Sie
strich Peter sanft über die Stirn und sagte: »Armer Peter! wie sehr mußt du
unter Alissandras Eifersucht leiden.« Peter hob den Kopf und lächelte müde.
»Weißt
du, es tut sehr gut, wenn man jemanden hat, mit dem man sich aussprechen kann;
jemand, der einfach zuhört. Ich hätte vorhin nicht so mit dir reden dürfen,
schon gar nicht, nach allem, was mir widerfahren ist. Ich verspreche dir, daß
ich dich nie wieder in irgend einer Weise unbillig behandeln werde. Du weißt,
daß ich dich gern mag — aber auf eine andere Art als Alissandra. Wenn ich mit
dir zusammen bin, fühle ich mich sicher und stark. Mit dir kann ich über alles
sprechen und brauche mich nicht zu schämen. Du verleihst mir Mut und Stärke,
und dafür danke ich dir. Du bist für mich wie eine kleine Schwester.« Tamina
seufzte leise. Peter legte beide Hände auf ihre Schultern und sprach: »Ich
weiß, daß es nicht einfach ist. Aber kann man ein Herz betrügen? Es wäre
nicht richtig … — Weder dir gegenüber, noch Alissandra. Wir müssen mit
unseren Gefühlen immer aufrichtig sein. Ich weiß, es hilft nicht, wenn ich
sage, daß du noch jung bist und rasch über alles hinweg kommen wirst. Du wirst
eines Tages einen anderen Jungen finden, der dich liebt, und dessen Herz dir
allein gehören wird.«
Tamina
schlang ihre Arme um Peters Hals und sprach indem sie ihn zärtlich drückte: »Ich
will keinen anderen. Aber vielleicht ist es besser, wenn ich wieder zurückkehre.
Ich will euch nicht im Wege stehen.«
»Nein!
das kommt nicht in Frage. Du wirst niemals zwischen mir und Alissandra stehen.
Überhaupt weiß ich nicht einmal, ob sie mich überhaupt in der selben Weise
mag.«
»Oh
doch, das tut sie!« rief Tamina. »Merkst du das denn nicht? Das ganze Spiel
mit Wilo ist doch nicht Ernst. — Eigentlich ist es auch nicht richtig Wilo
gegenüber.«
»Ich
glaube, um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der findet rasch woanders
seinen Trost.« Er löste sich sanft aus ihrer Umarmung. »Und du denkst
wirklich, daß Alissandra ihn nicht…?« Tamina schüttelte heftig den Kopf und
lachte leise. »Darauf würde ich wetten.« Sie sprang auf und sagte zu Peter:
»Laß uns einfach gute Freunde sein und von vorne beginnen. Ich spreche einmal
mit Alissandra…«
»Nein!«
rief Peter heftig. »Das mache ich lieber selber.« Er ergriff ihre Hand und küßte
sie auf beide Wangen.
»Jetzt
wollen wir aber schauen, wo die beiden abgeblieben sind. Sie haben sich doch
nicht etwa im Wald verirrt, — oder bei einem Schäferstündchen die Zeit
vergessen«, fügte Peter sarkastisch hinzu. Tamina warf ihm einen
vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einem schalkhaften Grinsen erwiderte.
Sie
mußten nicht mehr lange warten, bis die beiden Jäger zum Lager zurückkehrten.
Als erster trat Wilo aus dem Dickicht. An seiner verdrießlichen Miene und den
leeren Händen, sahen sie, daß ihm das Jagdglück nicht hold gewesen war. Kurz
darauf erschien Alissandra, ebenfalls mit leeren Händen.
»Wo
seid ihr so lange geblieben?« fragte Tamina.
»Wir
hielten es für geschickter, uns zu trennen«, brummte Wilo und warf Alissandra
einen nicht gerade freundlichen Blick zu. Jene sah Peter lange an und schien
etwas sagen zu wollen, besann sich aber anders und ging Tamina beim Zubereiten
der Mahlzeit zur Hand.
Mit
dem Essen hielten sie sich nicht lange auf. Nach einer kurzen rast zur besseren
Verdauung, brachen sie auf und ritten bis zum Abend fast ohne Unterbruch. Peter
hatte den Eindruck, daß mit Alissandra irgend eine Veränderung vor sich
gegangen war, denn sie hielt sich von Wilo abseits und führte ihr Pferd neben
das von Peter. Zwar war sie nicht gesprächiger oder zutraulicher ihm gegenüber,
doch schien es ihm, als habe ihre Verdrießlichkeit abgenommen, und in den
Blicken, die sie ihm verstohlen zuwarf, lag nicht mehr jenes angriffige Funkeln,
das ihn noch vor Stunden so irritiert hatte.
Im
Verlaufe des Tages kamen sie ein gutes Stück voran, mehr als sie geplant
hatten. Sollten sie nicht durch ein unerwartetes Ereignis aufgehalten werden, könnten
sie bereits am nächsten Tage um die Mittagszeit an ihrem Bestimmungsort bei
Callidon anlangen.
es
war gegen Abend, als sie in die Nähe eines Dorfes kamen. Ganz entgegen der
landesüblichen Gewohnheit, befanden sich zu der Stunde keine Menschen auf der
Straße noch auf den umliegenden Feldern.
»Ich
habe ein ungutes Gefühl«, sagte Wilo.
»Was
meinst du? ich finde, es sieht alles ruhig und friedlich aus«, erwiderte Peter.
»Ich denke, wir sollten nicht hier bleiben.«
»Ach,
Unsinn!« Peter wollte sich nicht beirren lassen. »Sehen wir lieber mal nach,
was dort los ist. Wir können die Leute ja fragen, ob irgend etwas nicht in der
Ordnung ist.« Er trieb sein Pferd neben Wilos Grauen. »Ihr beiden Mädchen
bleibt dicht hinter uns.«
Auf
der Hauptstraße herrschte eine gespenstische Stille. Kein Mensch war zu sehen;
Fenster und Türen waren verschlossen, die Läden zugemacht. »Du hast recht,
das sieht richtig unheimlich aus«, sagte Peter leise. »Was geht hier vor? —
Hallo! Ist jemand hier?« rief er. Doch es klang ein wenig zaghaft. Sie kamen an
ein Gasthaus. Auch hier bot sich ihnen der gleiche Anblick: Tür und Läden
waren fest verschlossen. Im Innern rührte sich nichts. Wilo hielt an und stieg
ab. Er pochte laut an die Wirtshaustür. — Keine Antwort.
»Die
Leute haben Angst«, sagte er.
»Aber
vor wem oder vor was?«, fragte Tamina.
»Hallo!
Sie da drinnen, machen Sie die Tür auf! Wir suchen ein Nachtquartier.« Ein
leises Geräusch hinter der Tür verriet den Bewohner. Es gab ein Quietschen,
dann tat sich ein winziges Guckfenster in der Tür auf, gerade so weit, daß ein
Paar Augen und eine Nasenspitze sichtbar wurden. Eine dünne Stimme rief leise.
»Hier ist kein Unterkommen, Fremde. Wenn euch euer Leben lieb ist, dann zieht
rasch weiter, so schnell ihr könnt. Macht euch fort, bevor die Nacht anbricht.
Wenn es dunkel wird, kommen die…« — Das Gesicht verschwand ruckartig, als hätte
jemand den Sprecher mit Gewalt von der Tür weggezogen. Sogleich schlug das
Fensterchen zu. Ratlos wandte sich Peter den anderen zu.
»Das
alles gefällt mir nicht, ganz und gar nicht. Aber meine Neugier ist geweckt
worden, und ich denke nicht daran, zu verschwinden, bevor ich nicht weiß, was
die Leute derart in Schrecken versetzt hat.«
»Vielleicht
ist es eine Bande von Räubern«, mutmaßte Tamina.
»Räuber?
Pah! Die einzigen Räuber, die ich kenne sind die Steuereintreiber des Regenten«,
rief Wilo verächtlich.
»Das
läßt sich herausfinden«, sagte Peter entschlossen. »Hier muß es doch ein
Rathaus geben und einen Ortsvorsteher oder Bürgermeister.«
Das
Rathaus war bald gefunden. Es handelte sich um ein schmuckes, weiß getünchtes
Fachwerkhaus, das am Kopfende des Dorfplatzes stand. Sie stiegen ab und banden
die Pferde an die Ringe beim Dorfbrunnen. Peter klopfte an die Haustür. —
Keine Antwort. »Die müssen doch zu Hause sein«, rief er ärgerlich.
»Laß
mich heran«, sagte Alissandra und schob Peter zur Seite. Sie hämmerte mit
beiden Händen und Füßen wider die Eichentür. Dabei rief sie so lau sie
konnte: »Aufmachen! im Namen des Königs von Arkanien!« Peter bekam den Mund
nicht zu, ob dieser unerwarteten Titulierung seiner Person. »Ist das nicht ein
bißchen übertrieben?« fragte er.
»Wieso
denn? Es wirkt doch.« In der Tat vernahmen sie sogleich leise Tritte im Innern
des Hauses. In der Tür erschien ein alter, weißhaariger Mann. Mißtrauisch beäugte
er die Fremden. »Wer seid ihr? und wie kommt ihr dazu dieses Wort
auszusprechen? Wißt ihr denn nicht, daß es streng verboten ist, den Regenten
zu beleidigen?«
»Werter
Herr…« begann Wilo, doch Alissandra drängte sich nach vorne und sprach: »Ich
bin Prinzessin Alissandra Thaïda, die Tochter des Herzogs von Antal und dies
hier«, sie zog Peter am Ärmel zu sich heran, »ist Prinz Peter der Erste von
Arkanien, rechtmäßiger Anwärter auf den Königsthron von Arkanien, Großherzog
von Tribanthia und Generalgouverneur von Carlan. Und kraft der Macht, die ihm
durch dies goldene Schwert König Brunnars des Starken verliehen ward, begehrt
er Einlaß und läßt fragen, ob dieser Ort dem rechtmäßigen König oder dem
verräterischen Tyrannen Tiras die Treue hält!« Sie hatte mit einer Stimme
gesprochen, die an Strenge und Würdigkeit kaum zu übertreffen war, und aller
Augen richteten sich unwillkürlich auf Peter, ,der errötend, versuchte seine
Verlegenheit so gut wie möglich zu verbergen. Er zog daher zur Bekräftigung
Alissandras Worte das Zauberschwert aus der Scheide und hielt es so, daß sich
die Sonne am vorteilhaftesten darin spiegelte.
Beim
Anblick des berühmten Schwertes wich der Alte zurück. Er wurde ganz bleich und
einen Augenblick lang schwankte er. Dann riß er die Tür weit auf und trat
hinaus. Er betrachtete Peter gründlich, dann ließ er sich mühsam auf die Knie
herab und machte Anstalten, Peters Hand zu küssen. »Königliche Hoheit! Daß
ich diesen Augenblick erleben darf, daß mein geliebtes Arkanien wieder einen
rechtmäßigen Herrn bekommt, ist mehr als ich von meinem Schicksal erhofft
habe.« Peter war diese Szene sichtlich peinlich. »Ich bitte Sie, stehen Sie
wieder auf!« Der Alte aber schien in diesen wenigen Augenblicken um Jahre verjüngt.
Er bat die Reisenden untertänigst, in sein bescheidenes Heim einzutreten. Das
Haus war einfach, aber sauber und stilvoll eingerichtet. Eine junge Frau in
einem schlichten Wollkleid mit einer sauberen, weißen Schürze kam die hölzerne
Stiege herab geeilt. »Ich hörte Stimmen. Sagt Vater! ist Jola wieder zurück?«
fragte sie atemlos. »Schnell! komm her!« rief der Alte. »Sieh, wen uns die Götter
beschert haben. Welch ein Glanz in unserem Hause! Dies hier ist der künftige König,
Prinz Peter, und das da ist sein Gefolge. Sorge bitte gut für sie. Ich muß
los, um den anderen die gute Nachricht zu bringen.« Mit diesen Worten griff er
nach seinem Hut und stürzte zur Tür hinaus, so schnell ihn die greisen Beine
tragen wollten.
»Verzeiht,
Herr!« sagte die junge Frau. »Ich dachte, Jolasar, mein Gemahl, sei zurückgekehrt.
Ich bin in großer Sorge um ihm. Er ist in die Stadt geritten, um … — Sagt
an! seid ihr ihm nicht unterwegs begegnet?« Wilo schüttelte den Kopf. Wir
haben niemand gesehen.
»Was
wollte er denn mitten in der Nacht da draußen? Und warum sind Sie so besorgt um
ihn?«
»heute
läuft die Frist ab, die Borkas unserem Dorf gesetzt hat, um die fälligen
Steuern zu bezahlen. Aber wir sind ein so armes Dorf, und nachdem der Regent die
Steuern ein anderes Mal erhöht hatte, ging uns das Geld aus. Borkas, das ist
der Bezirkshauptmann hier und der oberste Steuereintreiber, hat uns bis heute
Abend Zeit gegeben, das restliche Geld zu bezahlen. Mein Mann wollte in die
Stadt reiten und um Gnade bitten. Borkas sollte uns einen Monat Aufschub gewähren.«
»Das
ja furchtbar. Was geschieht, wenn ihr nicht bezahlen könnt?«
»Dann
wird er mit den ,Schatten’ kommen und das Dorf zerstören.«
»So
ein Schuft!« entfuhr es Tamina.
Draußen
wurden Stimmen laut. »Ich fürchte, wir müssen uns den Leuten zeigen«, sagte
Peter, der bereits mit dem Schlimmsten rechnete: nämlich vor einer großen
Menge eine rede halten zu müssen. Ihm grauste davor sehr. Sein letzter Vortrag
in der Schule war ihm in schlimmster Erinnerung.
»Bitte
folgt mir hinauf auf den Balkon«, sagte die Frau. Im Gänsemarsch erklommen sie
die schmale Stiege und schritten den Gang entlang, bis hinauf in das Obergeschoß.
Vor
dem Hause wartete eine große Menge, die einen unbeschreiblichen Lärm machte.
Es mochten gut dreihundert oder mehr Menschen sein. Männer, Weiber, Jungfrauen,
Kinder. Alles lief aufgeregt zusammen und sprach und rief durcheinander. Als
Peter mit seinem ,Gefolge’ auf dem schmalen Balkon erschien, erscholl ein
tosendes Gebrüll aus der Volksmenge. Am liebsten wäre er rückwärts wieder
verschwunden, aber Alissandra stieß ihn nach vorne. »Das sind deine künftigen
Untertanen«, raunte sie ihm ins Ohr. »Du darfst sie nicht enttäuschen, du
bist immerhin ihr König.«
Auf
dem Platz vor dem Haus ließ sich der Bürgermeister, ihr Wirt, vernehmen, der
die Menge beschwichtigte und dem lautstarken Treiben Ruhe gebot. »Freunde, Bürger!
Heute ist ein großer Tag, für uns und für ganz Arkanien. Unser Retter ist da!
Prinz Peter von Arkanien ist gekommen, um den Tyrannen zu vertreiben. Er wird
unseren Ort vor dem grausamen Borkas und seinen schwarzen Rittern erretten. Sein
Heer wird in Kürze hier eintreffen, um den Kampf mit den Bösewichtern
aufzunehmen. — Ein dreifach Hoch! auf unseren künftiger Herrscher!«
»O-o!«
machte Peter. Wilo zu seiner Linken stupste ihn an und flüsterte ihm zu:
»Ich fürchte, wir haben da ein Problem.« Alissandra zu Peters Rechten stupste
ihn ebenfalls in die Seite: »Und nu? Was willst du ihnen sagen?« Ja, was nun?
Was sollte Peter den Menschen sagen, die ihm hoffnungsfroh und erwartungsvoll
zujubelten. Wieder einmal befand er sich in einer dieser Situationen, wo einem
nichts angenehmeres geschehen könnte, als daß der Boden sich auftue und einen
verschlinge. Allein — wie immer in solchen Augenblicken, geschah nichts
dergleichen.
Peter
wurde abwechselnd heiß und kalt. Seine Hände wurden feucht und seine Knie fühlten
sie an wie aus Gummi.
»Du
mußt zu ihnen sprechen!« Er blickte abwechselnd nach links und nach rechts.
Wenigstens war er nicht allein. Die Nähe der Gefährten gab ihm wenigstens ein
klein wenig Halt. Trotz der großen Menschenmasse auf dem Dorfplatz war es so
stille, daß man das leise Plätschern des Brunnens vernehmen konnte.
»Ja,
also«, hub er an. — »Lauter, viel lauter! Die müssen dich da unten
verstehen können«, ermahnte ihn Wilo.
»Also,
ihr lieben Leute, Freunde, Bürger von …äh… — Wie heißt dieses Dorf?«
fragte er Alissandra leise. Die zuckte nur mit den Schultern und gab die frage
an Tamina hinter ihr weiter. Jene wußte darauf auch keine Antwort und blickte
sich hülfesuchend um. »Goldbrunn« lautete die Antwort. Sie gab’s nach vorne
weiter. »Goldborn« sagte flüsternd Alissandra.
»Ihr
lieben Leute und treuen Bürger von Goldhorn!« sagte Peter und fuhr mit seiner
Ansprache fort. »Vielen einschneidenden Veränderungen war unser Land in der
Vergangenheit ausgesetzt. Und was die Zukunft uns bringen mag, ist ungewiß.
Wenn aber alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte solidarisch
zusammenwirken, dann werden wir auch in der Zukunft Inflation und
Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen können. Die Wirtschaftskraft zu stärken,
die Industrie zu fördern und die Demokratisierung voranzutreiben, um den Bürger
von Steuern und Abgaben zu entlasten, ist das Ziel unserer Regierung. Und nach
der Überwindung aller kommunistischen und antidemokratischen Kräfte… — «
»Was
redet der für ein Zeug zusammen?« fragte Alissandra Wilo hinter Peters Rücken.
Dieser zuckte mit den Schultern. Ähnlich mußte es auch den Leuten unten auf
der Straße gehen, denn es erhob sich ein allgemeines Murmeln und Reden. Ein
jeder schien sich an seinen Nachbar zu wenden, um gewissen Verständnisproblemen
zu begegnen. Alles ohne Erfolg. Das Ergebnis war ein eklatantes Abfallen der
allgemeinen Aufmerksamkeit. Ja, es begannen sich bereits erste Anzeichen von
Unruhe und Verdrießlichkeit bemerkbar zu machen.
Armer
Peter. Er wollte seine Sache nur allzu gut machen, indem er das Volk mit Bruchstücken
und Kernsätzen verschiedener Ansprachen und politischer Reden des Präsidenten,
wie er sie zuweilen im Fernsehen gehört hatte, befriedigen zu können glaubte.
Aber anstatt die aufgewühlte Volksseele zu besänftigen, erreichte er das
Gegenteil. Die Leute wurden unruhig, ja unzufrieden. Von allen Seiten wurde er
diskret geknufft und gestupst.
»Zur
Sache! Um Himmels Willen, komm endlich zur Sache!« zischte Wilo zwischen den Zähnen
hervor. »Oder willst du, daß die uns steinigen?« — Nein, das wollte Peter
ganz gewiß nicht.
»Aber
ich sehe, das alles ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich will es daher kurz
machen und euch das Wichtigste mitteilen. Es gibt kein Heer, das euch gegen
Borkas und seine Schergen verteidigen könnte. Wir sind ganz auf uns allein
gestellt.!«
Wilo
verdrehte die Augen. »Unternimm doch irgend etwas! Der Kerl redet uns alle um
Kopf und Kragen«, sagte er zu Alissandra.
»Was
soll ich denn tun? Ihn vom Balkon ‘nunter stoßen?« gab sie entnervt zurück.
»Wenn
sein muß, warum nicht?« entgegnete Wilo und machte eine entsprechende
Handbewegung.
Auf
dem Platze entstand ein Inferno. Panik mischte sich mit tiefster Verzweiflung. Während
einiger Minuten wurde der Lärm so laut, daß man sein eigenes Wort nicht mehr
verstehen konnte. Peter gab es auf, weiter zu den aufgeregte Leuten zu sprechen.
Statt dessen wurde auf dem Balkon Kriegsrat gehalten.
»Hättest
du das nicht etwas schonender ausdrücken können?« fragte Wilo.
»Ach
was! Die werden sich schon wieder beruhigen. Wilo, du bist von uns der einzige,
der über militärische Erfahrung und Kenntnisse der Kriegskunst verfügt.
Glaubst du, daß wir das Dorf bis heute Abend auf einen Angriff oder eine
Belagerung vorbereiten können?« Wilo sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Nein!«
sagte er bestimmt.
»Denkst
du, daß wir die Leute hinkriegen, gegen diesen Borkas zu kämpfen? Und werden
wir eine Chance haben, gegen ihn standzuhalten.?«
Wilo
machte ein nachdenkliches Gesicht. Dann zog er Peter mit sich hinein in die
Stube. Er bedeutete den anderen, draußen zu warten. Als sie allein waren, sagte
er: »Die Sache ist die: Wir haben keine Soldaten, keine Waffen, keine Mauern
oder Schutzwälle. Ich weiß nicht wie viele Männer dieser Borkas hab. Aber ich
weiß, daß er nicht viele brauchen wird, um hier alles in Schutt und Asche zu
legen.«
»Die
Lage ist also hoffnungslos? Was schlägst du vor?«
»Hoffnungslos
ist eine Sache erst dann, wenn man sie aufgegeben hat. Die Leute sind jetzt
bitter enttäuscht, weil sie an eine Rettung in letzter Minute geglaubt hatten.
Innerlich aber haben sie sich längst mit ihrer Lage vertraut gemacht, und ich
denke, daß die, welche nicht fliehen werden, bis aufs Blut zu kämpfen bereit
sind. Außerdem haben wir ja das Ding da.« Er deutete auf das Schwert an Peters
Seite. »Wenn es nur halb so viel taugt, wie man sich erzählt, dann haben wir
zumindest eine kleine Aussicht, hier heil hinauszukommen.«
»Was
erzählen wir den Mädchen? Ich will auf keinen Fall, daß sie in die Kämpfe
verwickelt werden.«
»Wir
könnten sie mit den Pferden und genügend Proviant vorausschicken. Bis
Sonnenuntergang wären sie weit genug entfernt, jedoch… —«
»Ich
weiß was du meinst. Alissandra würde nie fortgehen. Die müßte man schon
fesseln und knebeln und auf ihrem Pferd festbinden«, meinte Peter.
»Das
ließe sich einrichten«, sagte Wilo trocken, der darin bereits Erfahrung hatte.
»Aber die beiden allein in den Wäldern?«
»Du
hast recht. Hier können wir wenigstens ein Auge auf sie haben. Das Haus ist
stabil und hat einen kleinen Turm. Wenn sie sich hier verbarrikadieren, sind sie
am sichersten.« Peter sah Wilo fest an. »Ich übertrage dir die Befehlsgewalt
in allen militärischen Belangen. Warst du nicht Leutnant in der Armee des
Regenten?« Wilo nickte. »Ja, aber nur wegen der Familie.«
»Von
heute an bist du Hauptmann der königlichen arkanischen Armee.«
»Da
gratuliere ich schön«, sagte Alissandra, die soeben eingetreten war. »Hast du
für mich auch einen Posten?«
»Ja,
als meine Privat-Sekretärin!« sagte Peter unwirsch.
»Darüber
reden wir später noch. Jetzt aber solltest du dich draußen wieder zeigen. Die
denken sonst, du hättest dich aus dem Staube gemacht. — Das würdest du doch
nicht tun? — Oder?« Zum Glück für Alissandra befand sich in Peters Nähe
nichts, das er hätte werfen können.
»Wo
bleibt ihr denn? Ist da drinnen irgend eine Verschwörung im Gange?2 fragte
Tamina.
»Frag
Alissandra, die lauscht gerne an fremden Türen und weiß dafür auch stets
alles.« Zum Glück für Peter konnte sich Wilo gerade noch rechtzeitig zwischen
die beiden stellen und so ein größeres Unglück verhindern.
»Freunde,
Bürger, freie Arkanier!« rief Peter der Volksmenge zu. »Ihr wißt alle, daß
eine wichtige Entscheidung vor uns liegt. In wenigen Stunden wird Borkas mit
seinen Spießgesellen hier auftauchen und im Namen des Regenten Plündern,
Morden und Brandstiftern. Es ist eure Entscheidung, ob ihr fliehen und alles,
was ich euch mühevoll aufgebaut habt, aufgeben wollt, oder ob ihr euch gegen
Unrecht und Tyrannei auflehnen wollt. Aber bedenkt eines: Wenn ihr jetzt davon
lauft — was euer gutes Recht ist, denn ich bitte niemanden, um meinetwillen,
ja auch nicht um des Staates Willen, sein Blut zu vergießen — dann werdet ihr
immer davon laufen müssen. Dann werdet ihr für immer vor dem Feinde
kapituliert haben. Wenn ihr aber euch entschließen solltet, zu kämpfen, dann
wisset, daß der Kampf damit nicht vorbei sein wird, daß noch nichts gewonnen
ist. Wenn ihr euch einmal entschlossen habt, das Böse zu bekämpfen, dann müßt
ihr es immer wieder von neuem tun, bis es restlos ausgerottet ist; und die so
gewonnene Freiheit müßt ihr immer wieder aufs neue verteidigen, denn die
Freiheit ist kein Geschenk, sie will erstritten und bewahrt sein. Seid aber auch
eingedenk, daß ihr nicht für euch und euer Dorf allein steht, sondern für
alle Dörfer und alle Menschen in Arkanien. Ihr habt heute die Möglichkeit, ein
Zeichen zu setzten, ein Fanal für Freiheit und Recht. Wenn wir siegreich sind,
so werden wir bewiesen haben, daß der Regent nicht allmächtig ist, und daß
die Tage seiner Herrschaft gezählt sind. Wenn wir aber trotz aller
Anstrengungen untergehen sollten, dann mögen dies die Völker der Welt zum
Zeichen nehmen, daß das Volk Arkaniens seine Freiheit über alles liebt und daß
keine Macht der Welt diese Liebe zur Freiheit und Gerechtigkeit für immer zu
ersticken vermag. Lieber frei sterben als tyrannisch verderben!
Wollt
ihr wie ich Freiheit oder Blut?!«
Peter
stand schwer atmend an der Brüstung und stützte sich auf. Man sah ihm an, wie
sehr ihn die Rede angestrengt hatte. Für einen Augenblick war es totenstill auf
dem Platze, dann erscholl ein Ruf aus dreihundert kehlen: »Freiheit oder Blut!«
und »König Peter lebe hoch , hoch, hoch!«
»Dann
hört euch jetzt an, was Hauptmann Wilbur von Ragunow-Wald euch zu sagen hat.«
Unter den erstaunten und bewundernden Blicken Wilos ließ sich der jetzt völlig
erschöpfte Peter von den beiden Mädchen ins Haus geleiten.
Tamina
sah ihn mit fast scheuer Ehrfurcht an, als erkannte sie ihn nicht mehr. »Von
diesem Augenblick an weiß ich, daß du wirklich unser neuer König bist.«
Peter versuchte etwas zu erwidern, aber er merkte, daß seine Stimme von der
langen rede ganz heiser war. Er bat um etwas Wasser. Tamina eilte sofort, das
gewünschte zu holen. Alissandra schaute ihm fest in die Augen. Leise sagte sie
zu ihm: »Bitte verzeih mir, daß ich jemals an dir gezweifelt habe. Du bist
wirklich unser König. Woher wußtest du den Menschen diese Worte zu sagen? Ich
meine, ich habe dich noch nie so reden hören. Du hast die Menschen richtig
verzaubert. Wie ist das möglich? Vor wenigen Minuten noch sahst du aus, als
wolltest du dich unter dem Tisch verkriechen und dann, wenig später, redest du
wie König Brunnar selber.«
Dieses
Lob aus so schönem Munde machte Peter richtig sprachlos. Es war das erste Mal,
daß Alissandra ihn gelobt hatte. »Ich weiß nicht recht, was über mich
gekommen ist. Ein Wort gab das andere. Zuerst wußte ich nicht, was ich sagen
sollte, aber dann kam es auf einmal ganz aus mir hervor und plötzlich spürte
ich eine neue, nie gekannte Kraft in meinem Innern. Es war wie ein Feuer, das in
mir entfacht wurde. Ich fühlte mich ein wenig so wie in dem Augenblick als ich
das Schwert zum ersten Mal in der Hand hielt. — Ach! ich wünschte, ich könnte
dieses Feuer, diese wunderbare Kraft öfter verspüren! Wie einfach und leicht
geht alles, was man sich wünscht und vernimmt von der Hand. Ich fühlte mich
wie in einem Rausch. Aber jetzt fühle ich mich schwach und elend. Und bei dem
Gedanken, was ich mit meinen Worten vielleicht angerichtet habe, wird mir ganz
flau.«
Alissandra
stand auf und legte einen Arm auf Peters Schulter. »Mach dir keine Sorgen.
Alles wird gut. Du mußt dich rasch erholen, aber gemeinsam werden wir es
schaffen.«
Tamina
kam herein und brachte Peter einen Kelch mit einem kühlen, leichten Wein, der
ihm wie Öl die Kehle hinabrann. Rasch gewann sein bleiches Antlitz seine
gesunde Farbe zurück und langsam kehrten die Lebensgeister wieder.
»Lisa,
Tamina! kommt her. Ich muß mit euch reden«, sagte er ernst. Die beiden
Mädchen setzten sich zu ihm an den Tisch.
»Ihr
könnt euch sicher vorstellen, was uns in den nächsten Stunden erwarten wird.
Was immer geschehen mag, ich möchte, daß ihr euch aus allem heraushaltet. —
Das gilt ganz besonders für dich, Alissandra!« Der trotzige Zug um ihren Mund
und das angriffige Funkeln in ihren Augen drückte Alissandras Gedanken besser
aus als alle Worte. Peter kannte diese Zeichen aus der Vergangenheit allzu gut,
um zu wissen, daß er ihr jetzt keine Gelegenheit lassen durfte, ihre Argumente
darzutun. Er sagte ernst und eindringlich: »Ich weiß genau, daß du ebenso gut
kämpfen kannst wie ich, und daß du es an Mut und Tapferkeit mit jedem Manne
aufnimmst. Aber gerade deswegen will ich, daß du bei Tamina und den anderen
Frauen und den Kindern hier im Rathaus bleibst; als Wache. Außerdem brauchen
wir jemanden, der sich um die verwundeten kümmert. Du wirst hier im Hause das
Kommando übernehmen und dafür sorgen, daß alles ruhig bleibt. Hast du mich
verstanden? Denke daran, was wir deinem Vater versprochen haben.«
»Ja,
Peter!« Die Antwort klang wie die letzten Worte eines Verurteilten auf dem Wege
zum Schafott . Sie stand auf und ging hinaus. »Jetzt ist sie beleidigt«,
meinte Peter zu Tamina.
Natürlich
war Alissandra beleidigt. Ein aufregendes Abenteuer, eine wilde Schlacht um
Heimat und Freiheit stand unmittelbar bevor. Vielleicht würde sich hier das
Schicksal der Nation entscheiden. Ein historisches Ereignis, wie damals die
erste Schlacht König Brunnars des Starken, von der sie so viel in ihren Büchern
gelesen hatte, wovon alle Heldenlieder sagen. Und sie durfte nicht dabei sein;
eingesperrt mit alten Weibern und kleinen Kindern! Das würde sie Peter
irgendwann heimzahlen.
»Wenigstens
bist du vernünftig und willst nicht mit den Männern kämpfen«, sagte
Peter zu Tamina. Nein, das wollte sie gewiß nicht. Nichts verabscheute sie mehr
als Streit und Hader und Gewalttätigkeiten. Wenn es aber unbedingt erforderlich
wäre, so würde sie nicht zögern, ihren Freunden zur Hilfe zu eilen. »Ich könnte
ja ohnedies nicht viel ausrichten. Aber Angst habe ich keine«, log sie tapfer.
In Wirklichkeit schlug ihr Herz heftiger als sonst, und ihrem Hals steckte ein
dicker Kloß, der sich einfach nicht hinunterschlucken ließ. Sie schaute Peter
gründlich an. Eigentlich machte sie sich um ihn am meisten Sorgen. Er war so
gescheit und witzig, bestimmt wüßte er sich aus dem gröbsten herauszuhalten;
auch kannte sie seine Vernunft und Vorsicht und wußte, daß er sich nicht
leichtsinnig in Gefahr begeben würde. Aber im Vergleich zu den anderen Männern
und besonders zu Wilo wirkte er so zerbrechlich und beinahe schmächtig. Er war
kein Kämpfer.
»Peter!
Paß bitte gut auf dich auf.«
»Tamina,
mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe doch das Zauberschwert und diesen
Talisman hier.« Er berührte den goldenen Anhänger mit dem weißen Kristall.
»Wenn die mir kein Glück bringen! Gib du mich nur gut acht auf Alissandra. Sie
ist zwar im Großen und Ganzen ein vernünftiges Mädel, aber wenn sie der Hafer
sticht, dann hält sie nichts mehr zurück. Ich könnte es mir niemals
verzeihen, wenn ihr etwas zustieße.«
Tamina
versprach, ihr Bestes zu versuchen. Allein auf Alissandra ein Auge zu haben, hieß
einen Sack voller Flöhe hüten. Aber das sagte sie Peter natürlich nicht.
Ein
Lärmen der Volksmenge vor dem Hause bedeutete, daß Wilo seine Ansprache
beendet hatte. Er trat vom Balkon herein. Ich habe einhundertsechsundvierzig
Mann. Der Rest sind Frauen, Kinder und alte Leute. Ich habe die Männer in drei
Abteilungen einteilen lassen, den Rest, soweit sie arbeitsfähig sind, in fünf
Gruppen. Sobald sie mit dem Abzählen fertig sind, erwarte ich die Anführer
hier oben zu Lagebesprechung.
Kurze
Zeit später fanden sich alle in dem Ratszimmer ein. Außer den Führern der
einzelnen Kampfgruppen, den Frauen und Hilfskräften, fanden sich die Mitlieder
des Dorfrates ein; alles würdige ältere Herren. Sie setzten sich an den langen
Tisch. Am Kopfende nahm Peter Platz. Zu seiner Rechten stand Wilo, zur Linken
der Bürgermeister. Zuerst erklärte Peter den Vertreterinnen der Dorffrauen,
was ihre Aufgabe sei.
»Wichtig
ist, das alle Feuer und Lichter gelöscht werden. Sorgt dafür, daß alle Türen
und Fenster fest geschlossen und verriegelt sind. Laßt nichts wertvolles und
nichts brennbares herumliegen. Füllt alle Gefäße, Krüge, Kannen, Eimer und
Wannen mit Wasser. Haltet nasse Laken und Decken zum Feuerlöschen bereit.
Schade daß es nicht regnet. Es wäre vielleicht gut, wenn ihr alle Strohdächer
mit Wasser besprengen würdet — soweit sich das machen läßt.« Er wandte
sich jetzt an die Männer: »Dann brauchen wir Waffen. Tragt alles, was sich als
Waffe gebrauchen läßt vor dem Rathaus zusammen. Sammelt Steine und Holzscheite
als Wurfgeschosse. Die Straßen und Wege sollten verbarrikadiert werden. Am
besten mit Wagen und Ackergeräten.«
»Wir
könnten einige Bäume fällen, die am Wegesrand stehen«, schlug einer der Männer
vor.
»Das
ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Peter. »wir brauchen einige Frauen, die
sich um die verwundeten kümmern«, meinte Wilo.
»Was
geschieht, wenn wir dem Feind nicht zu trotzen vermögen?« fragte einer der
Ratsherren, welcher Peters Ausführungen mit kritischem Blick beigewohnt hatte.
Er machte den Eindruck eines vorsichtigen und argwöhnischen Mannes, der sich
nicht so rasch für einen neuen Plan begeisterte, ohne ihn nicht vorher
eingehend geprüft und durchdacht zu haben. Unmut über seine Äußerung machte
sich unter den Anwesenden breit. »Jetzt ist nicht die Zeit für Eure
Schwarzmalerei«, sagte einer ungehalten. Und ein anderer meinte gar: »Wir sind
hier um zu kämpfen und nicht um im Voraus unsere Niederlage zu beweinen.«
»Einen
Augenblick, meine Herren!« versuchte Wilo zu beschwichtigen. »Es ist gar nicht
falsch, sich Gedanken um einen geordneten Rückzug zu machen. Wenn alles
verloren ist, dann wird Prinz Peter oder ich das Signal zum Rückzug geben. Das
heißt dann, daß alle verbleibenden Männer sich sammeln, um einen Ausfall nach
dem Walde hin zu machen. Wir werden dann die Zivilisten aus dem Rathaus holen
und sie in die Mitte unseres Zuges nehmen. Im Wald können wir uns in der Nacht
leicht verstecken. Zu Fuß sind wir beweglicher und schneller als die Ritter.
Wenn wir den Wald erreichen, dann sind wir vorerst in Sicherheit.«
»Also,
wissen alle, was ihre Aufgabe ist?« fragte Peter in die Runde und warf einen
besorgten Blick auf seine Uhr. »Wir haben nicht mehr viel zeit bis die Sonne
untergehen wird.« Auf sein Zeichen hin war die Versammlung aufgehoben. Ein
jeder ging eilig, aber besonnen auf seinen Posten. Das Ratszimmer wurde in eine
Art Befehlsstand verwandelt. Wilo zeichnete mit Kreide einen Plan des Dorfes auf
die dunkle Tischplatte. Sorgfältig vermerkte er alle Befestigungen und
Wachposten darauf.
Die
Zeit verging wie im Fluge. Bald wurde es ruhiger im Haus und in den Gassen. Eine
drückende Anspannung hatte von allen Besitz ergriffen. Ein jeder dachte an die
bevorstehende Auseinandersetzung.
»Peter?«
Taminens Kopf erschien in der Tür. »Schau was wir auf dem Speicher gefunden
haben.« Sie hielt ein reichlich staubiges und vergilbtes Stück Stoff empor. »Ja,
und?« — »Sieh doch! Das ist eine alte Heeresflagge aus der Zeit König
Brunnars des Starken. Peter besah sich das Tuch. Es war von dunkelrotem, eher
purpurnen Grunde, darauf prangte ein gekrönter goldener Adler; in seinen
Krallen hielt er Schwert und Szepter.
»Ist
das nicht wundervoll? Jetzt haben wir wieder eine Flagge. Der Regent ließ sie
überall entfernen und verbieten. Aber diese hier wurde nicht verbrannt, sondern
hat oben auf dem Speicher die Jahre überdauert.«
»Das
hast du gut gemacht, Tamina. Aber jetzt geh’ wieder auf deinen Posten.« Peter
nahm die Flagge an sich. Er befühlte den brüchigen Stoff, der einst von sehr
feiner und kostbarer Qualität gewesen sein mußte. Das Schwert in der rechten
Kralle des Aars sah genau so aus wie sein goldenes Zauberschwert. »So also
sieht das sagenhafte Szepter aus«, sagte er leise zu sich, als ein Lärmen auf
der Straße ihn jäh aus seinen Betrachtungen riß.
Ein
Kundschafter, den Wilo dem Feinde auf der Landstraße entgegen geschickt hatte,
kehrte eben wieder ins Dorf zurück. Keuchend und am ganzen Leibe zitternd stürzte
er in das alte Rathaus. Er brauchte einige Minuten, bis er wieder sprechen
konnte.
»Was
hast du gesehen? Rede, Mann!« Wilo packte den verängstigten am Kragen und schüttelte
ihn heftig, als wolle er die Wahrheit aus ihm herausschütteln.
»Es
ist alles vorbei und verloren«, stammelte der Mann und sank kreidebleich auf
einen Stuhl. »Ich habe sie gesehen. Sie kommen aus beiden Richtungen vom Tal
her. Es sind ungeheuer viele — Tausende — — .«
Vom
Rathausturm hatte man eine recht gute Rundumsicht. Peter, dem die Aufruhr nicht
entgangen war, Tamina und zwei der Ratsherren haben sich ebenfalls in die enge
Turmstube begeben, welche durch herumstehendes Gerümpel und Stöße alter,
staubichter Papiere noch weniger Raum bot. Anscheinend diente sie seit langem
nur noch als Estrich.
Die
Sonne war inzwischen hinter den Hügelkämmen im Westen verschwunden. Nur ein
winziger blutroter Schimmer leuchtete eben noch zwischen den Wipfeln hervor. Nur
noch kurze Zeit, dann würde es stockdunkel werden.
Angestrengt
starrte ein jeder in die Weiten der Landschaft. »Also, ich kann nichts erkennen«,
meinte Peter. »Ich sehe nur Schatten«, sagte Wilo.
»Aber
sehr doch nur, dort! Am Ende des Tales, am Fuße jener Anhöhe. Und auf der
anderen Seite ebenfalls. Der Kundschafter deutete aufgeregt mit dem Finger aus
dem Fenster.
Gespannt
versuchte Peter der Linie des ausgestreckten Armes zu folgen. »Es ist viel zu
dunkel. Ich kann niemanden erkennen.«
»Doch!
Sieh nur.« Wilo stieß Peter mit dem Ellenbogen an. »Da bewegt sich etwas.«
— »Wo?« — »Hier, diese dunkle Stelle hat sich bewegt.« Peter starrte in
die Dämmerung, bis ihm die Augen brannten. »Das kann nicht sein. Das ist viel
zu groß, die Fläche — .« Ihm stockte der Atem. Tatsächlich, die dunkle Fläche
die er zunächst für den Schatten des Hügels angesehen hatte, schien näher zu
kommen.
»Was
immer das ist«, meinte Wilo, »wenn es sich weiter mit dieser Geschwindigkeit nähert,
dann ist es in einer halben bis Dreiviertelstunde hier.«
»Gibt
es hier kein Fernglas?« Die Annäherung dieses unbekannten und unbegreiflichen
Feindes erweckte eine große Unruhe unter den Leuten im Dorf. Und nicht wenige
wurden ob der vielen widersprüchlichen Nachrichten und Deutungen sehr verwirrt
und in nicht geringen Schrecken versetzt. Teils breitete sich eine Art lähmenden
Entsetzens aus, teils entstand eine umtriebige aber wenig fruchtbare Hektik.
Inzwischen
hatte sich der Schatten so weit genähert, daß man scharfen Auges einzelne,
schwarze, schemenhafte Gestalten eines riesigen Heeres ausmachen konnte. An der
Spitze des Zuges ritt eine Schar von etwas dreißig bewaffneten Rittern in
dunklen schweren Rüstungen, dahinter, im mehreren Abteilung, folgte das
schattenhafte Heer. Es bestand teils aus berittenen Gestalten auf mächtigen
pechschwarzen Rössern, zum größeren Teil aber aus Fußvolk von der gleichen
Art.
»Es
sind die ,Schatten’« sagte Wilo, der entgegen seiner gewohnten Kaltblütigkeit
sichtlich blaß geworden war. »Es gibt sie also tatsächlich.«
»Mann!
Wovon redest du?« Peter rüttelte an Wilos Schulter, als versuchte er Äpfel
von einem Bäumchen herabzuschütteln. Langsam und ein wenig atemlos hub Wilo an
zu sprechen, derweil sich eine größere Schar von Männern zu denen inzwischen
auch die beiden Mädchen gestoßen waren.
»Vor
beinahe zwanzig Jahren hörte man zum ersten Male von den unheimlichen
,Schatten’. Das war als der Regent Tiras sich anschickte, sich das ganze Land
untertan zu machen. Er versuchte, die macht der Fürsten einzuschränken. Er erhöhte
die Steuern und forderte hohe Zölle und Abgaben. Natürlich begann sich
Widerstand zu erheben. Während vieler Jahre hatte der Regent große Mühe, genügend
Truppen bereitzustellen, die jederzeit und überall, wo mit Aufruhr und
Rebellion zu rechnen war, zusammengezogen werden konnten. Hinzu kam, daß der größte
Teil seines Heere an den Grenzen des Reiches, vor allem im Norden und Südosten
zur Sicherung der Grenzmarken und der damals frisch eroberten Gebiete benötigt
wurden.
Der
Graf von Tobal war der erste, der es wagte, sich dem Regenten offen entgegen zu
stellen. Seine Grafschaft war groß und fruchtbar. Die Menschen lebten in
Wohlstand und liebten ihren Landesherrn und hielten ihm die Treue. Da wähnte
sich der Graf stark genug, dem Regenten die Gefolgschaft verweigern zu können
und er forderte ihn sogar öffentlich im Reichsrat — welcher damals noch
regelmäßig tagte — zur Abdankung auf und bestand auf der Wahl eines neuen
Regenten. Tiras war außer sich vor Zorn. Er warnte den Grafen und alle, die an
eine Spaltung des Reiches oder an Widerstand gegen seine Regentschaft dachten,
und er schwor, daß er die Grafschaft vernichten werde.
Wenige
Monate später begannen plötzlich ganze Dörfer und kleine Orte zu
verschwinden. Niemand wußte anfangs, was geschehen war. Über Nachte
verwandelten sich blühende Landschaften in öde Wüsteneien. Reisende und
Marktfahrer kamen in verödete Dörfer, deren Bewohner entweder alle getötet
worden waren oder Hals über Kopf geflohen waren. Die Häuser waren ausgebrannt,
die Felder verbrannt oder die Frucht in Grund und Boden gestampft. Die Überlebenden
berichteten später von gewaltigen Heerscharen schwarzer Ritter, die ihre Heimstätten
verheert hätten. Niemand wußte, wer sie waren, noch woher sie kamen und wohin
sie wieder verschwanden. Sie tauchten immer nur zur Nachtzeit auf. Bald nannte
man sie nur noch die ,Schatten’.
Es
währte keine drei Monate, da war der größte Teil der Grafschaft Tobal verwüstet,
ihre Bewohner waren in die umliegenden Länder geflüchtet, oder hatte sich in
die dichten Wälder zurückgezogen, wo sie sich vor dem Zugriff der Schatten
sicher glaubten. Der Graf und seine treuesten Gefolgsleute wurden gefangen
genommen. Viele wurden getötet, die Überlebenden wurden in die Verbannung
geschickt. Die Schatten sind seither immer wieder in Erscheinung getreten. Von
den Fürsten im Reich hat es keiner je wieder gewagt, dem Regenten entgegen zu
treten.«
Peter
sah schaudern zum Fenster hinaus. »Gibt es nichts, was diese ,Schatten’
aufhalten kann? Und was sind das für Leute? Woher kommen sie? Sind es überhaupt
richtige Menschen? Wenn wir hier in einem Roman oder Film wären, dann würde
ich sagen, es sind Geister oder vielleicht ferngesteuerte Roboter, Androiden mit
künstlicher Intelligenz.« Peter konnte es wieder einmal nicht lassen, seiner
Einbildungskraft freien Lauf zu lassen.
»Ihr
scheint sehr viel über derlei Dinge zu wissen, Herr«, sagte einer der
Ratsherren. Wenn Ihr so gut Bescheid wißt, dann kennt Ihr bestimmt einen Weg,
wie wir sie bekämpfen könnten.«
»Gegen
Geister hilft in der Regel ein Kreuz oder Silberne Kugeln oder auch Knoblauch
(falls es sich um Vampire handelt) — —.«
»O
Weh! jetzt ist er völlig übergeschnappt«, murmelte Alissandra leise, während
die Umstehenden Peter mit fragenden Blicken überhäuften.
»Falls
es Maschinen sind, wäre es nützlich herauszufinden, von wo aus sie gesteuert
werden und was ihre Energiequelle ist — —.«
»Verzeiht,
Herr! daß ich Eure gelehrte Rede unterbreche.« Der Bürgermeister räusperte
sich entschuldigend. »Aber wir haben nur noch wenig Zeit. Was sollen wir tun?«
»Vielleicht
ist es besser, wir ergeben uns«, sagte Peter leise und betrachtete die
Heerscharen , die inzwischen in der Ebene vor dem Dorfe ihre Stellungen
einzunehmen begannen. Die Reaktion auf diese Äußerung war heftig. »Das war
nur ein Scherz«, sagte er mit einem gekünstelten Lächeln, das die peinliche
Situation überbrücken sollte. Es half aber wenig. In der Zwischenzeit müssen
sie mich für einen kompletten Idioten halten, dachte Peter; und er wußte, daß
es allein seine Schuld war, wenn die Männer das Vertrauen in ihn verlören,
denn dann wäre es aus mit ihnen. Seine törichten Sprüche und sein dämliches
Gefasel hatten ihn wieder einmal dumm dastehen lassen. Er fragte sich, warum es
immer wieder geschah, daß er sich den anderen Menschen gegenüber so
ungeschickt verhielt. Irgendwie gelang es ihm nie, so zu wirken wie er wirklich
war. Aber wie war er in Wirklichkeit? War er der, welcher er gerne wäre? oder der, wie ihn
die anderen sahen? oder der, welcher er zu sein
glaubte? oder der, wie er glaubte, daß
er auf die anderen wirke? Konnte man sich überhaupt ein Bild von einem Menschen
machen, ein wahrheitsgetreues Bild? Gab es eine Wahrheit, ein wirkliches
Gesicht, oder war alles nur Schein? Bestand der Mensch aus vielen Gesichtern,
Personen, die wie die Schichten einer Zwiebel übereinander liegen, die nachdem
man sie durch genaue Beobachtung und Erforschung erkannt und durchschaut
hatte, abfielen und eine weitere, neue, Schicht hervortreten lassen?
»Peter!
Wach auf! Jetzt ist nicht die Zeit zum Träumen.« Alissandra stupste ihn
mehrere Male unsanft in die Seite.
»Ja?
was? — Ach so, ich muß mir das aus der Nähe anschauen. Ich werde mich an sie
heranschleichen. Vielleicht kann ich etwas in Erfahrung bringen, was uns nützlich
sein wird.«
»Das
ist ein sehr gefährliches Unternehmen. Du könntest entdeckt, erkannt und
gefangen genommen werden. Das Risiko ist viel zu groß«, gab Wilo zu bedenken.
»Ach,
geh, Schmarrn! Sich hier ahnungslos abschlachten zu lassen, ist das vielleicht
kein Risiko? Nein! ich gehe auf jeden Fall. — Zur Not bin ich wohl entbehrlich«,
fügte er nicht ohne einen leicht bitteren Unterton mit einem flüchtigen Blick
auf Alissandra hinzu. »Tamina, leihst du mir dein Pferd? Mondi würde in der
Finsternis leicht auffallen.«
»Wenn
das so ist, dann werde ich dich begleiten«, sagte Wilo sofort.
»Nein,
du wirst hier dringend gebraucht. Außerdem könnten wir, wenn wir erwischt
werden, zu zweit genau so wenig gegen die Übermacht ausrichten, wie einer
allein.«
»In
dem Fall gehe ich mit dir«, sagte Alissandra.
»Das
kommt nicht in Frage! — Wilo, du sorgst dafür, daß sie hier bleibt.« Ohne
Alissandras Protest abzuwarten, machte Peter sich unverzüglich auf den Weg.
Anatol
war ein deutlich größeres Kaliber als Mondenglanz und Peter hatte ein wenig Mühe,
den gutmütigen aber behäbigen Wallach auf Trab zu bringen. »Bin gleich wieder
da!« rief er den zurückbleibenden zu. Dann gab er dem Gaul die Sporen und flog
davon.
Er
konnte den Angreifern nicht geradewegs entgegen reiten ohne sogleich entdeckt zu
werden. Daher brauchte er länger als erhofft, um sich dem etwa eineinhalb
Kilometer entfernten Troß zu nähern. E hielt sie so lange wie möglich am
Waldrand, dann bog er zum Bachbett ab und ritt durch das zu der Jahreszeit viel
Wasser führende Flüßchen. Er hoffte inständig, das Rauschen des Wasser möge
die Schritte des schweren Pferdes übertönen. Nach wenigen Metern mußte er das
Bachbett verlassen. Er stieg ab und verbarg das Pferd hinter einer Baumgruppe im
dichten Unterholz, das ihm eine willkommene Deckung bot. Je näher er dem
unsichtbaren Feinde kam, desto heftiger fühlte er sein Herz klopfen. Er hatte
immer davon geträumt, ein Held zu sein, der sich furchtlos und tapfer dem
grimmigen Feinde entgegenstellt und stets auf wunderbare Weise siegreich aus
jedem Gefecht hervorgeht; so wie er es bereits Hunderte Male in seinen
Abenteuergeschichten gelesen oder im Kino gesehen hatte, aber dies das die
Wirklichkeit, und die verursachte ihm heftige Bauchschmerzen.
Er
atmete mehrmals tief durch, bevor er gebückt aus dem Schutze seiner Deckung
heraus auf das offene Feld lief. Er konnte nur hoffen, daß in diesem Augenblick
niemand in seine Richtung sah.
Die
Vorhut der feindlichen Truppen hatte etwa hundert Meter voraus am Fuße eines
flachen, ovalen Hügels haltgemacht. Von den ,Schatten‘ war nichts zu sehen.
Ein leises Stimmengemurmel drang an sein Ohr. Geduckt und vorsichtig
raumgreifende Schritte ausholend, tastete sich Peter durch die Dunkelheit. Er
umschlich die Nördliche Seite des Hügels, so daß er etwas oberhalb der Gruppe
von etwa dreißig bis fünfzig Männern anlangte. Flach auf der kalten und
feuchten Erde liegend robbte er sich Meter für Meter voran, bei jedem Rascheln
oder Knacken heftig erschreckend. In einer flachen Kuhle, sorgfältig vor den
Blicken der Dorfbewohner verborgen, brannte ein kleines Lagerfeuer auf
Sparflamme. Ein Felsblock bot Peter etwas Deckung. Den Blick in Richtung des
schwachen Lichtscheins gewandt, kroch er um den Felsen herum. Jetzt konnte er
sehen und hören, was in dem Lager vor sich ging. Er bekam zwar nicht jedes Wort
mit, konnte aber einige Fetzen des leise geführten Gespräches aufschnappen.
»Wollen
wir nicht endlich angreifen?« fragte einer. »Nein! … wir warten noch bis es
ganz dunkel ist. Die haben uns längst bemerkt und jetzt sollen sie in ihrer
Furcht noch weiter schmoren.«
»Meinst
du, daß die uns Schwierigkeiten machen?« — »Kaum. Aber es sollen sich
einige Rebellen in der Gegend herumtreiben. Außerdem bei dem vielen Geld im
Wagen gehe ich lieber kein Risiko ein.« — »Der Alte muß ja mächtig kalte Füße
bekommen haben, daß er so viele von den schwarzen Gesellen herausgerückt hat.
Also, ehrlich gesagt, Borkas, ich habe kein gutes Gefühl in deren Nähe.« Der
Angesprochene — er schien der Anführer zu sein — lachte laut auf und griff
in sein Wams. Er brachte einen länglichen, schwarz glänzenden Gegenstand zum
Vorschein, den er im schwachen Schein der Flammen in den Händen wog. »Aber
wenn du so etwas hast, dann sind sie lammfromm und gehorchen dir aufs Wort.« Er
schwang den Stab in der Luft und gebot mit eindringlicher Stimme: »Kommt her zu
mir, ihr Schatten!«
Aus
der Dunkelheit drang ein leises Geräusch. Dann schieden sich aus dem Dunkel der
Nacht mehrere Schemen heraus, die schwankend in Richtung des schwarzen Stabes
marschierten. Peter stockte der Atem. Sein Herz pochte so heftig, daß er
glaubte man könne es meterweit vernehmen. Die Gestalten nehmen allmählich
deutlichere Formen an. Es waren riesige gepanzerte Ritter, gut zwei Meter hoch.
Ihre Rüstungen schimmerten in mattem Glanze. Sie mochten aus einer Art Metall
gefertigt sein, wie Peter es noch nie gesehen hatte. Es war von der gleichen
Farbe und Beschaffenheit wie der Stab in der Hand des Hauptmannes. Die
Helmvisiere waren geschlossen, so daß Peter ihre Gesichter nicht erkennen
konnte — falls sie überhaupt welche hatten. Die ,Schattenritter‘ bewegten
sich steif aber völlig geräuschlos auf den Hauptmann zu. Es schien als könne
sie nichts aufhalten. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig, wie mechanisch. Es
machte den Anschein, als würden sie wie ein Tank oder eine Dampfwalze alles
platt walzen, was sich ihnen in den Weg stellte.
Plötzlich
aber wurden ihre Bewegungen langsamer, als zauderten sie, näher zu kommen. Der
Hauptmann wiederholte seinen Befehl lauter und eindringlicher. Die Schatten
traten näher an den Hauptmann heran, wichen aber wieder zurück, als ob irgend
etwas ihnen große Furcht oder Pein bereitete.
Jetzt
erkannte Peter, was die Gestalten zurückweichen ließ: Ein Windstoß hatte das
Feuer auffachen lassen. Vor dem Lichtschein fürchteten sich die Schatten. Das
war die Lösung! Die Burschen sind im wahrsten Sinne des Wortes ein lichtscheues
Gesindel, dachte Peter. Er war in einer höchst aufgewühlten Stimmung. Was er
da gerade gesehen und erlebt hatte, überstieg seine Vorstellungskraft, ja, es
brachte sein ganzes Weltbild ins Wanken. In was für ein arabeskes Märchenland
war er da geraten, wo Geister- und Zauberwesen dergestalt ihr Unwesen trieben?
Zugleich war es aber auch sehr glücklich darüber, daß die drohende Gefahr,
wenn nicht völlig gebannt, so doch deutlich verringert wurde, durch die
Tatsache, daß es ein einfaches Mittel gab, diese unheimlichen Gestalten wirksam
zu bekämpfen. Kein Wunder tauchten diese ,Schatten‘ nie am hellichten Tage
auf.
»Siehst
du jetzt! Die schwarzen Ritter sind eine perfekte Waffe: stark, furchteinflößend,
leicht zu beherrschen und dabei harmlos für denjenigen, der sie zu führen weiß«
sagte Borkas, der Hauptmann. »Ja, aber nur so lange es nicht regnet. Dann
ist’s nämlich vorbei mit der ganzen Pracht, denn wasserfest sind unsere
dunklen Freunde leider nicht.«
So
ist das also! dachte Peter, das wird ja immer interessanter.
Er
war von den Geschehnissen am Lagerfeuer so fasziniert, daß er die Bewegung
hinter sich nicht wahrnahm. Erst als er eine leichte Berührung eines weichen,
lebendigen Körpers an seinem Kopfe verspürte, fuhr er zu Tode erschrocken
herum. Ein riesiger, vielbeiniger Schatten stand hinter ihm. Das genügte, um
seinen angegriffenen Nerven den Rest zu geben. Mit einem Schrei des Entsetzens
sprang er auf, strauchelte über sein eigenes Schwert und rollte den Abhang
hinab, mitten in die Gruppe der Soldaten hinein. Hätte sich der Ärmste nur
einen Augenblick besonnen, so hätte er gemerkt, daß der riesige ,Schatten‘,
der hinter ihm aufgetaucht war, nur eines der schwarzen Pferde der Soldaten war,
das ihn neugierig beschnuppern wollte.
Von
diesem Augenblick an geschah alles sehr schnelle. Mit einer Geistesgegenwart,
die er sich niemals zugetraut hätte, sprang Peter auf die Füße. Dem Hauptmann
der Soldaten, vor dessen Füße er gerollt war, verpaßte er einen kräftigen
tritt wider das Schienbein, noch bevor jener sich recht besinnen konnte. Diesen
Augenblick des Schreckens und des Schmerzes nutze Peter geschickt aus. Er riß
dem Mann den schwarzen Zauberstab aus der Hand. Fast gleichzeitig zog er sein
Schwert.
»Keiner
rührt sich!« befahl er heiser, während er die Männer mit Schwert und
Zauberstab gleichzeitig bedrohte. »Los! Werft eure Waffen weg. Und dann legt
sich jeder flach auf den Boden und rührt sich nicht von der Stelle, sonst macht
er Bekanntschaft mit meinen schwarzen Helfern.« Zähneknirschend legten die
also Übertölpelten ihre Schwerter und Armbrüste weg, während sie auf Borkas
starrten.
»Zeigt
euch, ihr Schatten! Kommt herbei!« gebot Peter mit dem Zauberstab in die
Richtung, aus welcher die ersten dieser Ungeheuer aufgetaucht waren, und wo er
den Rest der gigantischen Streitmacht vermutete. Und in der Tat erschienen
sogleich einige der schwarz beharnischten Gestalten. Jetzt erst erkannten die
Soldaten den ernst ihrer Lage. Bereitwillig warfen sie sich zu Boden. Borkas
aber starrte mit wutverzerrtem Gesicht abwechselnd auf Peter und die
,Schatten‘.
»Hör
zu, Junge. Wir können über alles reden. Du brauchst nichts zu überstürzen,
was du später vielleicht bereuen könntest.«
»Hört!
Hört! das ist ein Wort. Also, ich bin ganz Ohr«, sagte Peter triumphierend.
»Wer
zum Teufel bist du? Und was willst du von uns?« fragte Borkas.
»Ich
bin der, welcher gekommen ist, die Macht deines Herrn zu brechen und ihn und
seine Spießgesellen zu richten«, trompetete Peter selbstherrlich, dem die
Situation wohl ein wenig zu Kopfe gestiegen ist. Allein wer mochte es ihm verübeln.
Es kommt schließlich nicht oft vor, daß ein einziger Junge eine ganze Armee
von Rittern und Offizieren überwältigt und gefangen nimmt. Borkas pfiff leise
durch die Zähne.
»Du
bist das also. Dann stimmen die Gerüchte, die man sich in der Hauptstadt erzählt.«
Peter fühlte sich geschmeichelt. »Erzählen Sie mir mehr darüber. Was reden
die Leute über mich?«
»Ich
habe nur gehört, daß irgend ein Idiot aufgetaucht ist, der sich für die
Wiedergeburt von König Brunnar dem Starken hält und der mit ein paar Wirrköpfen
und ‘ner entlaufenen Prinzessin zusammen in den Wäldern haust.«
Das
reichte Peter, der dem impertinenten Kerl am liebsten ein Paar Watschen verpaßt
hätte — allein Borkas war fast einen ganzen Kopf größer als Peter; daher
entschloß er sich, keine weitere Zeit mehr mit dem Lumpengesindel zu vergeuden.
Er gebot den Schattenkriegern die Soldaten festzuhalten und gut zu bewachen. So
geschah es auch.
Peter
war bereits im Begriffe, dem Lager den Rücken zu kehren, denn er brannte
darauf, seinen Triumph im Dorfe feien zu sehen, als ihm etwas einfiel. »Augenblick
mal«, sagte er, »habe ich vorhin nicht etwas von einem Wagen voller Gold gehört?«
Der Hauptmann der von deinem der furchteinflößenden schwarzen Rittern mit
eisernen Klauen festgehalten wurde, antwortete nichts, sondern gab nur ein wütendes
Knurren von sich. »Na gut, dann eben nicht«, meinte Peter. »Es gibt auch
andere Wege.« Erneut schwang er den schwarzen Zauberstab. Er befahl den
Schatten, nach dem Wagen zu suchen und ihn unverzüglich nach dem Dorfe zu
schaffen.
Er
währte nicht lange, da konnte er in der Ferne bereits das Rattern
eisenbereifter Wagenräder vernehmen, die sich bergab entfernten. »Und nun
meine Herren, empfehle ich mich.« Mit einer spöttischen Verbeugung machte
Peter sich davon.
Nicht
weit vom Lagerplatz der Soldaten bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Vor ihm
in der Ebene lagerte sich die Schattenarmee. Das heißt sie lagerten nicht,
sondern standen reglos und stumm in Viererreihen kompanieweise abmarschbereit
da. Keiner rührte sich, kein Laut war zu vernehmen. Peter war es recht gruselig
zumute, als er durch die Reihen der riesengroßen Gestalten schritt. Es kostete
ihn einige Überwindung, einen der Ritter zu berühren, aber endlich obsiegte
bei ihm die Neugier. Die Rüstung fühlte sich kalt und hart und glatt an wie
Eisen. Peter atmete tief durch, dann klappte er das Helmvisier auf. Der Helm war
leer. Die ganze Rüstung war leer. Peter schauderte heftig. Er begann zu laufen,
rannte bergab in Richtung des Tales.
Unweit
von dem unheimlichen Ort fand er auf einer Wiese eine Herde schwarzer Schattenrösser,
welche ihren Meistern gleich bewegungslos und stille, wie Statuen auf dem
Werkhof eines Bildhauers in Reih und Glied warteten. Einer plötzlichen
Eingebung folgend, zückte Peter den Zauberstab und berührte einen der Gäule
damit. Es gab einen blechernen Klang, dann erwachte der Gaul zum Leben — wenn
man das so nennen kann — und wandte seinen Kopf Peter zu. Dieser stieg auf und
lenkte ihn auf den weg. Es war ein seltsames Gefühl, dieses blecherne
Schattenroß zu reiten. Es reagierte sofort und willig, aber völlig mechanisch,
wie wenn man ein Auto oder eine elektrische Maschine in Tätigkeit setzte. Peter
ließ den Gaul in einen flotten Trab fallen und ritt zügig geradewegs auf das
Dorf zu. Obgleich es stockfinster war, fand sich das Roß spielend zurecht;
weder strauchelte es, noch zauderte es, fürbaß in die Finsternis hinein zu
springen. Gewohnheitsmäßig klopfte er dem Pferd lobend auf den Hals, wie er es
bei Mondenglanz zu tun pflag, wenn sie brav gehorchte und willig vorwärts ging.
Der Schattengaul aber fühlte sich kalt und hart an, und das Klopfen verursachte
ein dumpfes Hallen, als schlüge man mit der flachen Hand eine an Glocke oder
eine Blechtonne. Für einen Augenblick klappten die spitzen Ohren horchend nach
hinten, dann klickten sie wieder nach vorne in die Ausgangsstellung zurück. Der
Sitz war zwar hart, die Bewegungen aber ungewöhnlich weich und geschmeidig. Die
Hufe machten wenig Geräusch auf dem weichen Boden und auf das gewohnte
Schnaufen und Grunzen eines lebendigen Pferdes horchte man vergeblich.
Das
Dorf war nicht mehr weit, als ein Geräusch Peter aufhorchen ließ. Es war das
Donnern galoppierender Pferde, das sich von hinten rasch näherte. Erschrocken
drehte er sich um und sah, daß er von etwa einem Dutzend Reiter verfolgt wurde.
Allen voran ritt Hauptmann Borkas auf einem mächtigen Schattenroß, viel größer
und schneller als ein lebendiges Pferd, selbst als das mechanische Roß, das er
gerade ritt. Peter trieb seinen Gaul zum Galopp an. Mit Mühe und Not könnte er
es bis ins Dorf schaffen, ehe die Halunken ihn einholten.
Tatsächlich
sah es ganz so aus, als könne er den knappen Vorsprung beibehalten.
Aber
das war bevor der Schattengaul mit Höchstgeschwindigkeit in ein tiefe Pfütze
trat, sein rechtes Vorderbein verlor und mit einem Geräusch, das an einen
Autounfall erinnerte, sich in seine Bestandteile auflöste. Peter flog in hohem
Bogen vornüber ins Gras. Er überschlug sich mehrere Male und blieb schließlich
bäuchlings liegen. Daß er sich dabei nicht das Genick gebrochen hatte, mußte
er wohl seinem Schutzengel oder der Zauberkraft des goldenen Amuletts verdanken.
In der Tat war er mehr erschrocken als wirklich verletzt. Benommen versuchte er
wieder auf die Beine zu kommen. Das rettende Dorf lag keine dreihundert Meter
weit entfernt. Aber noch ehe er einen Schritt vorwärts tun konnte, hatte Borkas
ihn bereits eingeholt und schnitt ihm den Weg ab. Er brachte sein Roß knapp vor
Peter zum Stehen und stieg mit gezücktem Schwert ab. Peters Hand, die nach dem
Schwertgriff suchte, griff ins Leere. Das Schwert Thalidon hatte sich beim Sturz
gelöst und lag einige Meter hinter ihm im Gras. Auch den Zauberstab hatte er
verloren. Er war völlig wehrlos.
»Sieh
einer an! Das Blatt hat sich gewendet«, keuchte Borkas, der von der wilden
Verfolgungsjagd noch ein wenig atemlos war. Er drängte Peter von seinem Schwert
am Boden ab. »Ich fürchte, die Welt wird gleich um einen Möchtegern-König ärmer
sein. Wie schade«, höhnte Borkas haßerfüllt. Er sann auf Rache für die Demütigung
vor seinen Männern. Peter sah keinen Ausweg mehr. Er mußte Thalidon im Stich
lassen. Verzweifelt fing er an um sein Leben zu laufen; Borkas hinterher. Aber
Peter kam nicht weit. Eine starke Hand packte ihn an der Schulter und riß ihn
zu Boden. »Sag’ der Welt ade!« rief Borkas und holte mit dem Schwert aus.
Seltsamerweise verspürte Peter gar keine Angst. Er wandte das Gesicht zu Seite und schloß die Augen. ›Das ist also das Ende. Arme Lisa!‹ war sein letzter Gedanke.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:33 |