XI. KAPITEL

Schatten

 

So sehr sie alle die Gastfreundschaft des Grafen hatten schätzen lernen, drängte es sie doch die Zeit, und so entschied man sich, nach dem Frühstück aufzubrechen.

Alissandra, welcher Peters und Taminens verschwinden am Vorabend nicht entgangen war, war am Morgen daher um so garstiger. Sie warf den beiden noch giftigere Blicke hinterher, als Tags zuvor. Dennoch fanden sie sich nach dem Frühstück zu einer gemeinsamen Lagebesprechung zusammen. Graf Arlin hatte in der Tat nach wie vor einen guten Kontakt zu Callidon, so daß er ihnen ohne Nachforschungen dessen augenblicklichen Aufenthaltsort mitteilen konnte.

Unsere vier Freunde setzten sich im Hof auf eine kleine Mauer, die von der Sonne erwärmt, einen angenehmen Aufenthalt bot. Alissandra zog einen großen mehrfach zusammengefalteten Bogen festen Papiers hervor, welchen sie sorgfältig auseinander bog und auf ihren Knien ausbreitete. Es war eine handgezeichnete Karte von der Gegen um Carlan.

»Onkel Arlin hat gesagt, daß Callidon hier irgendwo in diesem Wald lebt. Er besitzt dort ein kleines Haus auf einer Lichtung. Es sieht wie ein Hügel aus — man kann es nicht genau erkennen.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle der Karte. »Wenn wir diesen Weg verfolgen, dann kommen wir spätestens übermorgen in jenes Dorf dort. Da hört die Landstraße auf. Es gibt aber einen weg, der hinter einer verlassenen Mühle am Waldrand beginnt. Wenn wir ihm folgen, führt er uns geradewegs zu Callidons Haus.«

Peter besah sich die Karte genau, um sich den Weg möglichst gut einzuprägen. Seit dem Beginn seiner Reise hatte er recht gut gelernt, Landkarten zu lesen und sich im Gelände zu orientieren. Er hob den Blick von der Karte und sah Alissandra gerade in die Augen. Sie wandte den Blick ab.

Da es nichts mehr zu fragen oder besprechen gab, machte sich ein jeder daran, sein Gepäck für den Aufbruch vorzubereiten. Der Graf und die Gräfin waren natürlich untröstlich, die liebgewonnenen Gäste und ihre Nichte so rasch wieder zu verlieren. Innert kurzer Zeit war alles zur Abreise gerüstet. Onkel Arlin gab Alissandra einen Brief für Callidon mit. Er und seine Gemahlin begleiteten die jungen Leute noch bis in den Hof. Dort standen die Pferde bereits reisefertig bepackt bereit. Aber nicht nur das. Zu ihrem aller Staunen waren vier Pferde gesattelt und aufgezäumt: Alissandras Wirbelwind, Peters Mondenglanz, Wilos Grauschimmel namens Picco und ein mächtiger, schwerer, kohlrabenschwarzer Rappe. Schweif und Mähne waren ungewöhnlich lang und leicht gewellt. Sein glänzendes Fell sah aus wie schwarze Seite und umspannte kräftige Muskeln und eine runde, leicht gespaltene Kruppe.

Der Graf nahm Tamina bei der Hand und führte sie zu dem Pferde, das neugierig die Ohren spitzte. Tamina war sprachlos. »Der gute Anatol wird dich auf deiner Reise begleiten. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Trotz seiner Größe ist er ganz fromm und läuft leicht und willig«, sagte der Graf.

Die kleine Tamina traute ihren Augen kaum, als sie neben dem mächtigen schwarzen Tier stand und zögernd die Hand ausstreckte, um es am Halse zu streicheln. Ungläubig schaute sie den Grafen an. Dieser lächelte väterlich zurück und sagte: »Jawohl! er gehört dir. Es kann nicht angehen, daß deine Gefährten wohl beritten sind und du zu Fuß hinterher laufen mußt.«

»Ja, aber — Ich weiß nicht — « stotterte Tamina verlegen.

»Aber, aber. Ein so mutiges Mädchen, das sich tapfer allen Gefahren gestellt hat, wird doch nicht vor einem Pferd Furcht haben.« Mehr Worte bedurfte es nicht. Tamina ergriff artig des Grafen Hand und dankte ihm herzlich. Dann wandte sie sich ihrem neuen vierbeinigen Freunde zu, der vollständig gesattelt und aufgezäumt und mit einigen Satteltaschen, Decken und anderem notwendigen Zugehör wohl ausgestattet war. Sein Fell war frisch gebürstet worden und glänzte im Sonnenlicht, daß es eine Freude war, ihn anzuschauen.

Peter sah nach der Uhr und drängte zum Aufbruch. Es folgte eine lange, innige Abschiedsszene, die Alissandra besonders nahe ging. Es war das letzte Mal, seit dem Abschied von Zuhause, daß sie Kontakt mit ihrer Familie hatte, und wer wußte wann sie sich das nächste Mal wiedersehen würden.

Aus Rücksicht auf Tamina, die noch etwas Mühe mit Anatol hatte, kamen sie nur langsam vorwärts. Bald war die Burg des Grafen ihren Blicken entschwunden. Bis zur Mittagsrast sprachen die vier nur wenig miteinander. Peter und Tamina bildeten die Spitze, Alissandra und Wilo machten den Schluß des kleinen Trupps. Sie kamen durch zwei Dörfer, die, wie die meisten in jener Gegend, einen ärmlichen und ein wenig verwahrlosten Eindruck machten. Mit jeder Meile, die sie nordwärts ritten, machte die Landschaft einen öderen, die Menschen einen verzweifelteren, die Ortschaften einen ungesünderen Eindruck. Man konnte förmlich spüren, daß man sich immer tiefer in den eigentlichen Machtbereich des Regenten hineinbewegte.

Am Rande eines Laubwäldchens beschlossen sie, sich zur Mittagsrast zu lagern. Wilo suchte nach trockenem Brennholz, Alissandra versorgte die Pferde und Tamina kümmerte sich um die Zubereitung des Essens. Einzig Peter stand unbeschäftigt da und schaute den anderen bei der Arbeit zu. Eine entsprechende Bemerkung Alissandras quittierte er gelassen mit den Worten, er sei schließlich der Chef dieser Expedition und es komme ihm als künftigen König von Arkanien nicht an, sich um die niederen Verrichtungen des Alltags zu bekümmern. Die Erwiderung Alissandras braucht hier nicht überliefert zu werden. Als Wilo mit den Armen voller Äste und Reisig zurückgekehrt war, und diese kunstvoll zu einem Feuerhaufen aufgeschichtet hatte, ergriff er Pfeile und Bogen und sagte: »Ich will mal schauen, ob ich nicht etwas fürs Abendbrot schießen kann. Möchte jemand mitkommen?«

»Ja, ich komme gerne mit«, sagte Alissandra sofort. »Den Peter lassen wir besser zurück; dem wird es sonst noch schlecht, wenn er ein paar Tropfen Blut sieht.« Noch bevor jener eine passende Antwort parat hatte, war sie bereits flink wie eine Katze in das Gehölz gehuscht.

»Peter! Warum müßt ihr beide euch immer streiten? Wie soll das weitergehen?«

»Warum? Das weißt du doch ganz genau«, entgegnete Peter heftig. »Tu bloß nicht so, als merktest du nicht, was Sache ist.« Tamina lief rot an. Sie sprang von der Feuerstelle auf und wandte sich abrupt um. Mit gepreßter Stimme stieß sie hervor: »Du hast recht, Peter. Es ist alles meine Schuld. Wäre ich doch daheim geblieben. Ohne mich wäret ihr glücklicher.« Sie lief davon; Peter hinterher. Bei den Pferden hatte er sie eingeholt. Sie hatte ihr Gesicht in das dichte, wollige Fell Anatols vergraben und ihr Arme um den Hals des dunklen Gefährten geschlungen. »Du bist der einzige, der mich versteht, der letzte Freund«, heulte sie mit erstickter Stimme. Peter verlor die Geduld: »Jetzt hör aber auf! das ist ja nicht mit anzuhören.« Er packte sie grob bei der Schulter und drehte sie zu sich herum, so daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Ihre Augen waren feucht und gerötet. Um den Mund lag ein trotziger Zug. Sie holte tief Luft und versuchte, ein weiteres Schluchzen zu unterdrücken.

»Man könnte fast glauben, du seiest der einzige Mensch auf der Welt der Probleme hat. Du armes, verlassenes, unbeliebtes Kind! Stellst dich hin und heulst mir die Ohren voll.« Peter konnte recht unwirsch werden. Tamina kämpfte gegen die tränen an, diesmal vor Zorn und Scham. »Ausgerechnet du sagt solche Dinge zu mir. Wer gibt dir das Recht, so mit mir zu reden? Habe ich dir jemals etwas böses gesagt oder getan? Du kommst daher, aus deinem Goldenen Wunderland, wo alles besser ist, kennst alles, weißt alles, bist auserkoren König und Kaiser zu sein. Du bist der schöne, strahlende Held, furchtlos und mutig, dem alles gelingt, der nie zaudert, immer das rechte Wort zu Hand hat; dem nur die schönste Prinzessin gut genug ist. — Oh! wie war ich dumm, zu glauben, daß ich blöde, häßliche kleine Tamina aus einem Bauernstall kommend, dem vornehmen Prinzen gefallen könnte. Entschuldige bitte, großer Peter, daß ich so töricht war zu glauben, du könntest mich lieben wie ich… — ich meine gestern Nacht im Garten, das war doch… — —« Sie konnte nicht mehr weiter sprechen. Peter versuchte seine Haltung zu bewahren: »Was? du in mich verliebt? Daß ich nicht lache! Haha!«

Warum hatte er das gerade gesagt? Was trieb ihn dazu, dem lieben, kleinen Mädchen, das bebend vor ihm stand, mit solchen Reden weh zu tun? Ging es wirklich nur darum, diesen schäbigen kleinen Triumph auszukosten, sie Weinen gemacht zu haben?

»Lach doch! So lache doch, wenn dir das Vergnügen bereitet!« Sie hatte sich halb von ihm abgewandt und gegen die mächtige Schulter des Rosses gelehnt, als suche sie in ihr eine stütze. Peter blieb stumm. Wie groß aber war Taminens Verwunderung, als sie den Kopf nach ihm wandte und ihm ins Gesicht sah.

Er hielt den Kopf gesenkt, in seinen Augen glänzte es feucht. Seine Wangen waren stark gerötet, doch der Rest seines Gesichtes war weiß. Seine Stimme klang leise und zaudernd: »Tamina! Ich — wollte — das — nicht. Er sank vor ihr auf die Knie und ergriff ihre rechte Hand. »Bitte verzeih mir, Tamina. — Es tut mir leid, was ich…«

Tamina war außerstande etwas zu sagen oder zu tun. Im ersten Augenblick dachte sie gar, dies sei eine weitere Geste, sie zu verhöhnen. Aber sie verwarf diesen Gedanken sogleich. Seine Zerknirschung war echt. »Bitte höre mich an!« flehte er. »Ich will dir alles erzählen.« Er ließ sich neben ihr ins Gras fallen. Sie setzte sich neben ihn. Eine Weile schien er nachzudenken, dann hub er, den Blick auf die Erde gesenkt, langsam an zu sprechen; erst stockend, dann immer flüssiger.

»Ich bin nicht der tapfere, mutige Held, für den du mich hältst; ich bin es nie gewesen. Im Gegenteil: ich bin eigentlich ein richtiger Versager. Ich hatte nie Erfolg. Alles was ich angepackt habe, ging schief. In der Schule war ich immer nur mittelmäßig. Nicht daß ich überfordert gewesen wäre, doch habe ich mich nie für den Stoff interessiert, oder richtiger gesagt: ich war viel zu faul um etwas zu tun. Die meiste Zeit habe ich mit Lesen verbracht. Ja man könnte sogar sagen, ich hätte nur aus zweiter Hand gelebt. Vielleicht lag es daran, daß ich immer allein war. Ich habe keine Geschwister, meine Eltern hatten nie Zeit für mich, als ich klein war; und später war ich ihnen nur lästig. Ich kann dir sagen, es ist kein schönes Gefühl, zu wissen, daß man überflüssig ist. Sie wollten eigentlich gar keine Kinder haben, aber dann ist ihnen wohl ein Mißgeschick passiert, und ich kam an. Ich kann nicht sagen, daß sie mich schlecht behandelt hätten, aber ich spürte eben deutlich, daß ich unerwünscht war. Wohl hatten sie auch recht viel Mühe mit mir gehabt. Als Kind war ich schwächlich und oft krank, und mehr als einmal sah es so aus, als würde ich nicht viel älter werden. Manchmal glaube ich, sie wären sehr erleichtert gewesen, wenn ich gestorben wäre. Ich konnte mich nie an den wilden Spielen der anderen Knaben beteiligen und so kam es, daß ich eben die meiste Zeit zu Hause saß und in meinen Büchern las. Ich las alles was mir in die Hände fiel, und schon frühe war ich Mitglied in verschiedenen Büchereien. Man kann sich leicht vorstellen, welch schädlichen Einfluß diese ungehemmte, wahllose Lektüre auf ein noch unterentwickeltes, kindliches Gemüt hatte. So entwickelte sich in mir sehr bald eine starke Neugier allem stofflichen auf den Grund zu gehen, die ganze Natur in mich aufzunehmen und die wirkenden Kräfte und Erscheinungen zu erkennen. Ich entwickelte einen schier unstillbaren Wissensdurst, den zu befriedigen ich immer mehr Bücher heranschleppte. Nie aber war es mir in den Sinn gekommen, aus dem Hause zu gehen und in Wald und Flur meine eigenen Beobachtungen und Nachforschungen anzustellen; es genügte mir, schwarz auf weiß nachzulesen, wie es um alles bestellt sei. Und natürlich las ich nicht nur Bücher wissenschaftlichen und belehrenden Inhalts, sondern auch jede Art von Romanen, Märchen und Erzählungen, dabei aber nicht so sehr die Werke der vortrefflichen Dichter und Philosophen — dazu kam ich erst viel später — sondern vor allem jene Werke gefährlicher Machart: die Abenteuer- und Schauerromane, mitunter gar solche der billigsten Kolportage. Daneben waren aber auch Märchen und Sagen aus alter Zeit. Dies alles vermischte sich in dem unreifen und noch für alles empfänglichen kindlichen Gemüte zu einem bunten Wirrwarr der absonderlichsten Ideen und Traumbilder. So lebte ich also seit frühester Jugend dem wirklichen Leben völlig entrückt, in einer grotesken imaginären Traumwelt, welche so wenig mit dem Leben des Alltags gemeinsam hatte, die mich nicht mehr ausließ, und in die ich mich um so tiefer flüchtete, als ich mein gegenwärtiges Leben öde, leer und unerträglich empfand.

Dabei hatte ich jedoch nie das Gefühl gehabt, nicht die wirkliche Welt zu erleben. Ich ging in meinen Phantastereien so auf, daß ich für mich allen eine eigene Welt erschaffen hatte, die ich für die wirkliche hielt und in welcher ich einigermaßen glücklich und zufrieden lebte. Allein dieser Zustand währte nicht lange. Mit zunehmendem Alter wuchsen auch meine Verpflichtungen: ich mußte auf die Mittelschule gehen. Bislang hatte mich meine Lektüre, die mir ein allumfassendes Wissen vermittelt hatte, weit über den Durchschnitt meiner Mitschüler erhoben. Ich hatte nie etwas lernen oder arbeiten müssen. Ja, meine Kenntnisse und Fähigkeiten verhalfen mir sogar zu einem gewissen Respekt seitens meiner Altersgenossen. Allerdings hatte ich auch nie Freunde. Mein dem Alter unangemessenes Wissen, meine überlegene, wenn nicht zuweilen überhebliche Art trennte mich genau so von meinen Schulkameraden, über die es mich hinaushob, wie es mir den Zugang zu der Welt der Erwachsenen verwehrte. In deren Augen war ich wahrscheinlich nur ein kurioses Kind mit wunderlichem altklugem Auftreten. Ich wurde wie ein kleines, dummes Kind behandelt, das ich nicht war. Ebenso wie ich bei meinen Gefährten als ,Kleiner Erwachsener’ keinen Anschluß fand. So lebte ich gleichsam als ein Ausgestoßener in einer seltsamen, buntschillernden Welt voller interessanter und geheimnisvoller Dinge und Kräfte, die aber außer mir kein anderes lebendiges Wesen barg.

Hatte mich die Welt bislang in Ruhe gelassen und sich um andere gekümmert, so sollte sich dies mit meinem Eintritt ins Lyzeum gründlich ändern. Mit einem Male sah ich mich von vielen fremden Menschen umgeben, mit denen ich täglich umzugehen hatte, die alle etwas von mit wollten. War ich bislang ein freier, ungezwungener Geist gewesen, der gewohnt war, nach freiem Belieben alles in sich aufzunehmen, so sah ich mich jetzt plötzlich dem strengen Regiment der Schulmeister ausgeliefert, war ich gezwungen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht in meine Welt paßten, Stoffe in mich aufzunehmen, die mich weder interessierten noch berührten. Am schlimmsten aber war es, Gedanken und Meinungen ungefragt übernehmen zu müssen, ohne die geringste Möglichkeit der Kritik oder Ablehnung. Aber nicht nur von Seiten des Lehrkörpers sah ich mich pressiert. War ich bislang einen gewissen Respekt von meinen Mitschülern gewohnt gewesen, hatte ich mich in eine bestimmte Rolle eingewöhnt, so sah ich mich nun herausgefordert und in Frage gestellt. Mit einem Male war ich gezwungen zu kämpfen. Jeder gegen jeden, hieß die Devise. Ich war an solchen Umgang nicht gewohnt, hatte mich für einen erwachsenen Menschen gehalten, einen Philosophen, dessen Waffe das Argument, dessen Turnierplatz der geschliffene Diskurs war. Nun aber sah ich mich von allen Seiten angegriffen. Ich war weder der Art der Waffen, noch der Heftigkeit der Angriffe gewärtig, und so verwundert es nicht, daß ich nach kürzester Zeit unterlegen war. Es folgte eine schlimme Zeit, da ich an allen fronten kämpfen mußte. Ich konnte nicht gewinnen, das war mir sehr bald klar, doch hatte ich keine Wahl. Ich wußte recht bald, was mit jenen geschah, die den Kampf verloren hatten. Ich kämpfte also um das Überleben — natürlich im übertragenen Sinne. Es war dies eine schlimme und erste Zeit für mich in der neuen Umgebung. Am Ende gelang es mir, mich irgendwo am unteren Ende der Rangordnung einzugliedern. Es war mir auch ein gutes Stück weit gleichgültig, wie groß meine Macht, mein Ansehen waren, denn ich wollte nicht unentwegt um jedes Bißchen Souveränität kämpfen müssen. Ich war es zufrieden, endlich meine Ruhe wiedergefunden zu haben. Dieser Zustand aber währte nicht lange.

Ich hatte äußerlich zwar etwas Ruhe, aber in meinem Inneren sah es düster aus. Ich war ängstlich und konnte nicht mit den Menschen umgehen. So blieb ich weiter ausgeschlossen und einsam. Ich wurde verdrießlich — was mich noch unbeliebter machte — und schwermütig — was mich noch unberechenbarer werden ließ. Ich hatte tausenderlei Einfälle und Gedanken. Allein es gab niemanden, dem ich sie hätte mitteilen können. Kannst du dir vorstellen, was es heißt, tagelang, ja wochenlang mit keinem Menschen zu sprechen? Wen wundert es, daß mit der Zeit alles schief ging. Ich hatte keine Kraft mehr, keine Lust, mir war alles egal. Um ein Haar hätten sie mich aus der Schule hinausgeworfen. Ich kam in eine andere Klasse. Dort lief es ein wenig besser. Das heißt, man nahm überhaupt keine Notiz von mir. Ich hatte zwar meine Ruhe, war aber noch einsamer als zuvor.

Eines Tages dann, begegnete ich ihr. Sie hieß Bettina und kam neu in die Klasse. Ich weiß eigentlich kaum noch, wie es geschah, aber bereits nach wenigen Tagen und Wochen war ich völlig berückt von ihr. Sie sah gut aus, sehr gut, möchte ich fast sagen. Natürlich hat sie mich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Und ich habe auch nicht gewagt, ihr irgendwelche Avancen zu machen. Überhaupt bin ich nicht geschickt in derlei Dingen. Je stärker meine Neigung zu ihr wuchs, desto mehr litt ich unter dieser Nichtbeachtung ihrerseits. Ich hatte mit der Zeit den Eindruck, daß jedermann außer ihr genau wußte, was los war. Sie war gewiß höflich, mir gegenüber, zuweilen gar recht freundlich, doch ließ sie sich nie irgend etwas anmerken. Ich fürchte, ich muß damals eine ziemlich lächerliche Figur abgegeben haben. Nach einigen Monaten dann änderte sich plötzlich ihr Verhalten mir gegenüber. Sie wurde freundlich und aufmerksam und ließ sich meine Attentionen mit einigem Wohlgefallen zuteil werden. Wenn ich recht bei Sinnen gewesen wäre, hätte ich damals bereits merken müssen, welch übles Spiel mit mir getrieben wurde, allein ich war blind und taub im meinem seligen Liebestaumel. — Ich war ein Narr! Ich begann, ihr meine Zuneigung mehr und mehr mitzuteilen; erst in zarten Andeutungen, später deutlicher, auch in einigen Briefen. Und tatsächlich schien sie diese Zuneigung zu erwidern. Dann, zuweilen war sie wiederum kühl und unnahbar. Dies mußte mich natürlich völlig verwirren. Meine Briefe und unschuldigen Liebesbeteuerungen steigerten sich in eine wahre Raserei wildester Leidenschaft. Ich war ihr völlig ergeben, ja geradezu hörig. Ich hätte alles für sie getan… — Nun denn. Eines Tages sah ich sie in den Armen eines anderen liegen. Als ich sie daraufhin zur Rede stellte… — weißt du, was sie da gesagt hat? — Sie hat nur gelacht! Ja, schallend gelacht. Und dann hat sie mir entdeckt, daß dies alles nur ein vergnüglicher Spaß für sie und ihre Freunde gewesen sei, daß meine Briefe stets ein unerschöpflicher Quell komischster Erheiterung gewesen seien, und daß manch einer mir eine hohe literarische Begabung, vielleicht sogar eine glänzende Zukunft als erfolgreicher Romancier vorhersagte. (Das waren nicht ihre genauen Worte — dafür war sie nicht gescheit genug — aber dem Sinn nach, war es das, was sie mir gesagt hatte.)

Du kannst dir leicht vorstellen, wie ich nun da stand. Ich haßte sie natürlich — wohl zu Recht. Aber ich war noch mehr verletzt; tief und unheilbar verletzt. Ich konnte eine ganze Zeit lang nichts sagen oder denken. Ich war wie gelähmt. Es war das erste Mal, daß ich es gewagt hatte, meinen Empfindungen freien Lauf zu lassen, daß ich mein Herz an ein lebendes Wesen verschenkt hatte — und dann das! Ich zog mich noch mehr in mich zurück. Nach außen spielte ich natürlich den Kühlen, Gleichgültigen, aber das half nichts gegen den Kampf der in meinem Innern tobte. Ich fühlte mich verraten und betrogen. Ich haßte die Menschen. Ich konnte sie nicht mehr ertragen, nicht mehr in meiner Nähe dulden. Ich sann auf Rache… — —

Jener Tag, an dem es geschah — es war ein Freitag, daran erinnere ich mich genau — war wieder einer von den vielen Tagen, an denen ich mich fragte, wozu ich das alles überhaupt noch mitmachte, warum ich nicht einfach alles stehen und liegen ließ und mich davon machte. Ich hatte wieder einmal die ganze verlogene Menschenbrut satt. Ich wollte allein sein, um ungestört nachdenken und mein krankes Gemüt pflegen zu können. Zu Hause hatte ich keine Ruhe. Es drängte mich hinaus. Ich war rastlos, von einer mir nicht erklärlichen Nervosität erfüllt. Ich bin fast geneigt, es eine dumpfe Vorahnung zu nennen. In der Nähe meiner Heimatstadt gibt es einen kleinen Wald. Er ist bequem zu erreichen und trotzdem trifft man nicht allzu viele Menschen dort. Dies war der richtige Ort, wenn ich allein sein wollte. Ich hatte mich schon öfters dorthin zurückgezogen.

Jener bestimmte Tag also, war ein heller, sonniger Mittsommertag; blauer Himmel, klare Luft, duftende Wiesen. Aber dennoch war irgend etwas anders als sonst. Kaum war ich in die Nähe des Gehölzes gekommen, da beschlich mich ein dumpfes Gefühl. Ich wußte nicht was los war. Mit jedem Schritt wuchs diese Empfindung und verstärkte sich zu einer Art unheimlicher Beklemmung. Ich konnte mir nicht erklären, wie mir da geschah und schrieb diesen Anfall meinen zerrütteten Nerven zu. Endlich — ich war in der Nähe des alten Wasserwerks angelangt — da vermochte ich keinen Schritt mehr weiter zu gehen. Mir sträubten sich buchstäblich die Haare. Ich zitterte wie Espenlaub, mein Herz klopfte zum zerspringen. Ich konnte nicht glauben, was da auf einmal mit mir geschah. Ich stand in der lieblichsten Landschaft, alles war friedlich und heiter, eine heiße Sommersonne brannte gülden über das Land, und doch fühlte ich eine Eiseskälte mir durch Mark und Bein ziehen. Ich stand wie angenagelt und konnte um nichts in der Welt noch einen einzigen Schritt fürbaß tun. So stand ich wohl eine ganze Zeit lang da — wie lange, das kann ich nicht sagen, — Sekunden, Minuten, Stunden — wer weiß?

Ein kalter Luftzug blies mir ins Gesicht, und damit war die Erstarrung wie weggeblasen. Ich sah mich um. Alles hatte sich verändert — nicht wirklich körperlich, aber deutlich wahrnehmbar —, das Licht, die Farben. Alles um mich herum wirkte auf einmal bleich und fahl. Die Sonne war vom Himmel verschwunden, statt des leuchtenden Blaues trug der Himmel ein grauschwarzes Gewand. Es sah nach einem Sommergewitter aus, und doch irgendwie ganz anders. Ich hatte diese Veränderungen in der Atmosphäre nicht gesehen, noch gespürt. Ich empfand es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich lief los, in dem Augenblick als das Gewitter ausbrach. Niemals zuvor hatte ich so etwas erlebt. Es war, als befände ich mich mitten zwischen den geladenen Luftschichten. Ich konnte die Elektrizität förmlich spüren. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schlug der erste Blitz ein. Ich drehte mich im Laufen um und sah, daß der Einschlag just an der Stelle erfolgt war, wo ich Sekunden zuvor noch gestanden war. Ich stürzte zu Boden, rappelte mich wieder auf und rannte noch schneller. Ein um das andere Mal schlugen Blitze rings um mich her ein, zerschmetterten Busch und Baum. Ich lief tiefer in den Wald hinein. Was immer dies war, es war kein gewöhnliches Ungewitter. Das galt mir! Ich weiß nicht mehr, was ich in dieser Situation dachte. Wahrscheinlich denkt man in einem solchen Augenblick an gar nichts, als irgendwie heil davon zu kommen. Im Wald nahmen die Blitze etwas ab, die Einschläge wurden seltener und schienen sich von mir zu entfernen. Ich war von dem ungewohnten schnellen Laufen völlig erschöpft. Ich mußte mich an einen Baumstamm lehnen, um wieder zu Atem zu kommen. Ich hatte heftiges Seitenstechen und vor meinen Augen flimmerte es. Ich sah nach oben, wollte sehen, unter was für einem Baum ich mich befand, denn ich erinnerte mich auf einmal des Sprichwortes ›Eichen sollst du meiden, Buchen mußt du suchen.‹ Es war eine Eiche. Ich sprang sofort weg und sah mich verzweifelt nach allen Seiten um. Ich hatte keine Ahnung von Bäumen. Wie sollte ich mitten im Wald eine Buche finden. Im selben Augenblick wurde die Eiche, unter deren Krone ich mich eben versteckt hatte, von einem gewaltigen Schlag gespalten. Funken gleißenden Lichtes sprühten nach allen Seiten. Einige davon mußten mich wohl getroffen haben, denn ich verspürte sogleich einen heißen Schmerz und stürzte halb besinnungslos zur Erde. Meine linke Schulter und mein linkes Bein brannten wie Feuer. Ich versuchte aufzustehen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich lag da, hörte das Prasseln und Rumoren wie von ferne. Ich wußte, daß es um mich geschehen war. Seltsamer Weise hatte ich überhaupt keine Furcht mehr davor. Mochte was geschehen sollte, geschehen. Das letzte, woran ich mich erinnern kann, war ein blendendes Licht, das mich umgab.

Als ich später im Wald von Antal wieder zur Besinnung kam, war meine Erinnerung an diese letzten Ereignisse völlig ausgelöscht. Ich fühlte mich, wie aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht. Den Rest der Geschichte kennst ja bereits.« Peter ließ den Kopf auf die Knie sinken. Die lange Rede hatte ihn nicht nur äußerlich angestrengt. Tamina, die neben ihm im Grase saß, schwieg. Sie legte einen Arm um Peters Schulter. Es blieb lange Zeit sehr stille; nur die Mücken schwirrten in der Luft und die Pferde malmten geräuschvoll das frische Gras und die jungen Triebe der Bäume. Ein Knacken im Wald hinter ihnen, ließ Tamina aufblicken. Sie drehte sich um, konnte aber nichts ausmachen. Vielleicht trieben sich die Hasen und Eichhörnchen hier herum, und die beiden Jäger würden kein einziges zu Gesichte kriegen, dachte sie.

Peter nahm sie in den Arm und küßte sie sanft auf beide Wangen, dann sprach er leise: »Du brauchst keine Angst zu haben, Tamina! Und du brauchst dich nicht einsam zu fühlen, denn ich werde immer für dich da sein. Ich habe dich trotzdem sehr gern. Du wirst für mich wie eine kleine Schwester sein.« Er drückte sie fest. Tamina seufzte fast unhörbar und hielt ihn lange fest umklammert.

Sie strich Peter sanft über die Stirn und sagte: »Armer Peter! wie sehr mußt du unter Alissandras Eifersucht leiden.« Peter hob den Kopf und lächelte müde.

»Weißt du, es tut sehr gut, wenn man jemanden hat, mit dem man sich aussprechen kann; jemand, der einfach zuhört. Ich hätte vorhin nicht so mit dir reden dürfen, schon gar nicht, nach allem, was mir widerfahren ist. Ich verspreche dir, daß ich dich nie wieder in irgend einer Weise unbillig behandeln werde. Du weißt, daß ich dich gern mag — aber auf eine andere Art als Alissandra. Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich sicher und stark. Mit dir kann ich über alles sprechen und brauche mich nicht zu schämen. Du verleihst mir Mut und Stärke, und dafür danke ich dir. Du bist für mich wie eine kleine Schwester.« Tamina seufzte leise. Peter legte beide Hände auf ihre Schultern und sprach: »Ich weiß, daß es nicht einfach ist. Aber kann man ein Herz betrügen? Es wäre nicht richtig … — Weder dir gegenüber, noch Alissandra. Wir müssen mit unseren Gefühlen immer aufrichtig sein. Ich weiß, es hilft nicht, wenn ich sage, daß du noch jung bist und rasch über alles hinweg kommen wirst. Du wirst eines Tages einen anderen Jungen finden, der dich liebt, und dessen Herz dir allein gehören wird.«

Tamina schlang ihre Arme um Peters Hals und sprach indem sie ihn zärtlich drückte: »Ich will keinen anderen. Aber vielleicht ist es besser, wenn ich wieder zurückkehre. Ich will euch nicht im Wege stehen.«

»Nein! das kommt nicht in Frage. Du wirst niemals zwischen mir und Alissandra stehen. Überhaupt weiß ich nicht einmal, ob sie mich überhaupt in der selben Weise mag.«

»Oh doch, das tut sie!« rief Tamina. »Merkst du das denn nicht? Das ganze Spiel mit Wilo ist doch nicht Ernst. — Eigentlich ist es auch nicht richtig Wilo gegenüber.«

»Ich glaube, um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der findet rasch woanders seinen Trost.« Er löste sich sanft aus ihrer Umarmung. »Und du denkst wirklich, daß Alissandra ihn nicht…?« Tamina schüttelte heftig den Kopf und lachte leise. »Darauf würde ich wetten.« Sie sprang auf und sagte zu Peter: »Laß uns einfach gute Freunde sein und von vorne beginnen. Ich spreche einmal mit Alissandra…«

»Nein!« rief Peter heftig. »Das mache ich lieber selber.« Er ergriff ihre Hand und küßte sie auf beide Wangen.

»Jetzt wollen wir aber schauen, wo die beiden abgeblieben sind. Sie haben sich doch nicht etwa im Wald verirrt, — oder bei einem Schäferstündchen die Zeit vergessen«, fügte Peter sarkastisch hinzu. Tamina warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, den er mit einem schalkhaften Grinsen erwiderte.

Sie mußten nicht mehr lange warten, bis die beiden Jäger zum Lager zurückkehrten. Als erster trat Wilo aus dem Dickicht. An seiner verdrießlichen Miene und den leeren Händen, sahen sie, daß ihm das Jagdglück nicht hold gewesen war. Kurz darauf erschien Alissandra, ebenfalls mit leeren Händen.

»Wo seid ihr so lange geblieben?« fragte Tamina.

»Wir hielten es für geschickter, uns zu trennen«, brummte Wilo und warf Alissandra einen nicht gerade freundlichen Blick zu. Jene sah Peter lange an und schien etwas sagen zu wollen, besann sich aber anders und ging Tamina beim Zubereiten der Mahlzeit zur Hand.

Mit dem Essen hielten sie sich nicht lange auf. Nach einer kurzen rast zur besseren Verdauung, brachen sie auf und ritten bis zum Abend fast ohne Unterbruch. Peter hatte den Eindruck, daß mit Alissandra irgend eine Veränderung vor sich gegangen war, denn sie hielt sich von Wilo abseits und führte ihr Pferd neben das von Peter. Zwar war sie nicht gesprächiger oder zutraulicher ihm gegenüber, doch schien es ihm, als habe ihre Verdrießlichkeit abgenommen, und in den Blicken, die sie ihm verstohlen zuwarf, lag nicht mehr jenes angriffige Funkeln, das ihn noch vor Stunden so irritiert hatte.

Im Verlaufe des Tages kamen sie ein gutes Stück voran, mehr als sie geplant hatten. Sollten sie nicht durch ein unerwartetes Ereignis aufgehalten werden, könnten sie bereits am nächsten Tage um die Mittagszeit an ihrem Bestimmungsort bei Callidon anlangen.

es war gegen Abend, als sie in die Nähe eines Dorfes kamen. Ganz entgegen der landesüblichen Gewohnheit, befanden sich zu der Stunde keine Menschen auf der Straße noch auf den umliegenden Feldern.

»Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte Wilo.

»Was meinst du? ich finde, es sieht alles ruhig und friedlich aus«, erwiderte Peter. »Ich denke, wir sollten nicht hier bleiben.«

»Ach, Unsinn!« Peter wollte sich nicht beirren lassen. »Sehen wir lieber mal nach, was dort los ist. Wir können die Leute ja fragen, ob irgend etwas nicht in der Ordnung ist.« Er trieb sein Pferd neben Wilos Grauen. »Ihr beiden Mädchen bleibt dicht hinter uns.«

Auf der Hauptstraße herrschte eine gespenstische Stille. Kein Mensch war zu sehen; Fenster und Türen waren verschlossen, die Läden zugemacht. »Du hast recht, das sieht richtig unheimlich aus«, sagte Peter leise. »Was geht hier vor? — Hallo! Ist jemand hier?« rief er. Doch es klang ein wenig zaghaft. Sie kamen an ein Gasthaus. Auch hier bot sich ihnen der gleiche Anblick: Tür und Läden waren fest verschlossen. Im Innern rührte sich nichts. Wilo hielt an und stieg ab. Er pochte laut an die Wirtshaustür. — Keine Antwort.

»Die Leute haben Angst«, sagte er.

»Aber vor wem oder vor was?«, fragte Tamina.

»Hallo! Sie da drinnen, machen Sie die Tür auf! Wir suchen ein Nachtquartier.« Ein leises Geräusch hinter der Tür verriet den Bewohner. Es gab ein Quietschen, dann tat sich ein winziges Guckfenster in der Tür auf, gerade so weit, daß ein Paar Augen und eine Nasenspitze sichtbar wurden. Eine dünne Stimme rief leise. »Hier ist kein Unterkommen, Fremde. Wenn euch euer Leben lieb ist, dann zieht rasch weiter, so schnell ihr könnt. Macht euch fort, bevor die Nacht anbricht. Wenn es dunkel wird, kommen die…« — Das Gesicht verschwand ruckartig, als hätte jemand den Sprecher mit Gewalt von der Tür weggezogen. Sogleich schlug das Fensterchen zu. Ratlos wandte sich Peter den anderen zu.

»Das alles gefällt mir nicht, ganz und gar nicht. Aber meine Neugier ist geweckt worden, und ich denke nicht daran, zu verschwinden, bevor ich nicht weiß, was die Leute derart in Schrecken versetzt hat.«

»Vielleicht ist es eine Bande von Räubern«, mutmaßte Tamina.

»Räuber? Pah! Die einzigen Räuber, die ich kenne sind die Steuereintreiber des Regenten«, rief Wilo verächtlich.

»Das läßt sich herausfinden«, sagte Peter entschlossen. »Hier muß es doch ein Rathaus geben und einen Ortsvorsteher oder Bürgermeister.«

Das Rathaus war bald gefunden. Es handelte sich um ein schmuckes, weiß getünchtes Fachwerkhaus, das am Kopfende des Dorfplatzes stand. Sie stiegen ab und banden die Pferde an die Ringe beim Dorfbrunnen. Peter klopfte an die Haustür. — Keine Antwort. »Die müssen doch zu Hause sein«, rief er ärgerlich.

»Laß mich heran«, sagte Alissandra und schob Peter zur Seite. Sie hämmerte mit beiden Händen und Füßen wider die Eichentür. Dabei rief sie so lau sie konnte: »Aufmachen! im Namen des Königs von Arkanien!« Peter bekam den Mund nicht zu, ob dieser unerwarteten Titulierung seiner Person. »Ist das nicht ein bißchen übertrieben?« fragte er.

»Wieso denn? Es wirkt doch.« In der Tat vernahmen sie sogleich leise Tritte im Innern des Hauses. In der Tür erschien ein alter, weißhaariger Mann. Mißtrauisch beäugte er die Fremden. »Wer seid ihr? und wie kommt ihr dazu dieses Wort auszusprechen? Wißt ihr denn nicht, daß es streng verboten ist, den Regenten zu beleidigen?«

»Werter Herr…« begann Wilo, doch Alissandra drängte sich nach vorne und sprach: »Ich bin Prinzessin Alissandra Thaïda, die Tochter des Herzogs von Antal und dies hier«, sie zog Peter am Ärmel zu sich heran, »ist Prinz Peter der Erste von Arkanien, rechtmäßiger Anwärter auf den Königsthron von Arkanien, Großherzog von Tribanthia und Generalgouverneur von Carlan. Und kraft der Macht, die ihm durch dies goldene Schwert König Brunnars des Starken verliehen ward, begehrt er Einlaß und läßt fragen, ob dieser Ort dem rechtmäßigen König oder dem verräterischen Tyrannen Tiras die Treue hält!« Sie hatte mit einer Stimme gesprochen, die an Strenge und Würdigkeit kaum zu übertreffen war, und aller Augen richteten sich unwillkürlich auf Peter, ,der errötend, versuchte seine Verlegenheit so gut wie möglich zu verbergen. Er zog daher zur Bekräftigung Alissandras Worte das Zauberschwert aus der Scheide und hielt es so, daß sich die Sonne am vorteilhaftesten darin spiegelte.

Beim Anblick des berühmten Schwertes wich der Alte zurück. Er wurde ganz bleich und einen Augenblick lang schwankte er. Dann riß er die Tür weit auf und trat hinaus. Er betrachtete Peter gründlich, dann ließ er sich mühsam auf die Knie herab und machte Anstalten, Peters Hand zu küssen. »Königliche Hoheit! Daß ich diesen Augenblick erleben darf, daß mein geliebtes Arkanien wieder einen rechtmäßigen Herrn bekommt, ist mehr als ich von meinem Schicksal erhofft habe.« Peter war diese Szene sichtlich peinlich. »Ich bitte Sie, stehen Sie wieder auf!« Der Alte aber schien in diesen wenigen Augenblicken um Jahre verjüngt. Er bat die Reisenden untertänigst, in sein bescheidenes Heim einzutreten. Das Haus war einfach, aber sauber und stilvoll eingerichtet. Eine junge Frau in einem schlichten Wollkleid mit einer sauberen, weißen Schürze kam die hölzerne Stiege herab geeilt. »Ich hörte Stimmen. Sagt Vater! ist Jola wieder zurück?« fragte sie atemlos. »Schnell! komm her!« rief der Alte. »Sieh, wen uns die Götter beschert haben. Welch ein Glanz in unserem Hause! Dies hier ist der künftige König, Prinz Peter, und das da ist sein Gefolge. Sorge bitte gut für sie. Ich muß los, um den anderen die gute Nachricht zu bringen.« Mit diesen Worten griff er nach seinem Hut und stürzte zur Tür hinaus, so schnell ihn die greisen Beine tragen wollten.

»Verzeiht, Herr!« sagte die junge Frau. »Ich dachte, Jolasar, mein Gemahl, sei zurückgekehrt. Ich bin in großer Sorge um ihm. Er ist in die Stadt geritten, um … — Sagt an! seid ihr ihm nicht unterwegs begegnet?« Wilo schüttelte den Kopf. Wir haben niemand gesehen.

»Was wollte er denn mitten in der Nacht da draußen? Und warum sind Sie so besorgt um ihn?«

»heute läuft die Frist ab, die Borkas unserem Dorf gesetzt hat, um die fälligen Steuern zu bezahlen. Aber wir sind ein so armes Dorf, und nachdem der Regent die Steuern ein anderes Mal erhöht hatte, ging uns das Geld aus. Borkas, das ist der Bezirkshauptmann hier und der oberste Steuereintreiber, hat uns bis heute Abend Zeit gegeben, das restliche Geld zu bezahlen. Mein Mann wollte in die Stadt reiten und um Gnade bitten. Borkas sollte uns einen Monat Aufschub gewähren.«

»Das ja furchtbar. Was geschieht, wenn ihr nicht bezahlen könnt?«

»Dann wird er mit den ,Schatten’ kommen und das Dorf zerstören.«

»So ein Schuft!« entfuhr es Tamina.

Draußen wurden Stimmen laut. »Ich fürchte, wir müssen uns den Leuten zeigen«, sagte Peter, der bereits mit dem Schlimmsten rechnete: nämlich vor einer großen Menge eine rede halten zu müssen. Ihm grauste davor sehr. Sein letzter Vortrag in der Schule war ihm in schlimmster Erinnerung.

»Bitte folgt mir hinauf auf den Balkon«, sagte die Frau. Im Gänsemarsch erklommen sie die schmale Stiege und schritten den Gang entlang, bis hinauf in das Obergeschoß.

Vor dem Hause wartete eine große Menge, die einen unbeschreiblichen Lärm machte. Es mochten gut dreihundert oder mehr Menschen sein. Männer, Weiber, Jungfrauen, Kinder. Alles lief aufgeregt zusammen und sprach und rief durcheinander. Als Peter mit seinem ,Gefolge’ auf dem schmalen Balkon erschien, erscholl ein tosendes Gebrüll aus der Volksmenge. Am liebsten wäre er rückwärts wieder verschwunden, aber Alissandra stieß ihn nach vorne. »Das sind deine künftigen Untertanen«, raunte sie ihm ins Ohr. »Du darfst sie nicht enttäuschen, du bist immerhin ihr König.«

Auf dem Platz vor dem Haus ließ sich der Bürgermeister, ihr Wirt, vernehmen, der die Menge beschwichtigte und dem lautstarken Treiben Ruhe gebot. »Freunde, Bürger! Heute ist ein großer Tag, für uns und für ganz Arkanien. Unser Retter ist da! Prinz Peter von Arkanien ist gekommen, um den Tyrannen zu vertreiben. Er wird unseren Ort vor dem grausamen Borkas und seinen schwarzen Rittern erretten. Sein Heer wird in Kürze hier eintreffen, um den Kampf mit den Bösewichtern aufzunehmen. — Ein dreifach Hoch! auf unseren künftiger Herrscher!«

»O-o!« machte Peter. Wilo zu seiner Linken stupste ihn an und flüsterte ihm zu: »Ich fürchte, wir haben da ein Problem.« Alissandra zu Peters Rechten stupste ihn ebenfalls in die Seite: »Und nu? Was willst du ihnen sagen?« Ja, was nun? Was sollte Peter den Menschen sagen, die ihm hoffnungsfroh und erwartungsvoll zujubelten. Wieder einmal befand er sich in einer dieser Situationen, wo einem nichts angenehmeres geschehen könnte, als daß der Boden sich auftue und einen verschlinge. Allein — wie immer in solchen Augenblicken, geschah nichts dergleichen.

Peter wurde abwechselnd heiß und kalt. Seine Hände wurden feucht und seine Knie fühlten sie an wie aus Gummi.

»Du mußt zu ihnen sprechen!« Er blickte abwechselnd nach links und nach rechts. Wenigstens war er nicht allein. Die Nähe der Gefährten gab ihm wenigstens ein klein wenig Halt. Trotz der großen Menschenmasse auf dem Dorfplatz war es so stille, daß man das leise Plätschern des Brunnens vernehmen konnte.

»Ja, also«, hub er an. — »Lauter, viel lauter! Die müssen dich da unten verstehen können«, ermahnte ihn Wilo.

»Also, ihr lieben Leute, Freunde, Bürger von …äh… — Wie heißt dieses Dorf?« fragte er Alissandra leise. Die zuckte nur mit den Schultern und gab die frage an Tamina hinter ihr weiter. Jene wußte darauf auch keine Antwort und blickte sich hülfesuchend um. »Goldbrunn« lautete die Antwort. Sie gab’s nach vorne weiter. »Goldborn« sagte flüsternd Alissandra.

»Ihr lieben Leute und treuen Bürger von Goldhorn!« sagte Peter und fuhr mit seiner Ansprache fort. »Vielen einschneidenden Veränderungen war unser Land in der Vergangenheit ausgesetzt. Und was die Zukunft uns bringen mag, ist ungewiß. Wenn aber alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte solidarisch zusammenwirken, dann werden wir auch in der Zukunft Inflation und Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen können. Die Wirtschaftskraft zu stärken, die Industrie zu fördern und die Demokratisierung voranzutreiben, um den Bürger von Steuern und Abgaben zu entlasten, ist das Ziel unserer Regierung. Und nach der Überwindung aller kommunistischen und antidemokratischen Kräfte… — «

»Was redet der für ein Zeug zusammen?« fragte Alissandra Wilo hinter Peters Rücken. Dieser zuckte mit den Schultern. Ähnlich mußte es auch den Leuten unten auf der Straße gehen, denn es erhob sich ein allgemeines Murmeln und Reden. Ein jeder schien sich an seinen Nachbar zu wenden, um gewissen Verständnisproblemen zu begegnen. Alles ohne Erfolg. Das Ergebnis war ein eklatantes Abfallen der allgemeinen Aufmerksamkeit. Ja, es begannen sich bereits erste Anzeichen von Unruhe und Verdrießlichkeit bemerkbar zu machen.

Armer Peter. Er wollte seine Sache nur allzu gut machen, indem er das Volk mit Bruchstücken und Kernsätzen verschiedener Ansprachen und politischer Reden des Präsidenten, wie er sie zuweilen im Fernsehen gehört hatte, befriedigen zu können glaubte. Aber anstatt die aufgewühlte Volksseele zu besänftigen, erreichte er das Gegenteil. Die Leute wurden unruhig, ja unzufrieden. Von allen Seiten wurde er diskret geknufft und gestupst.

»Zur Sache! Um Himmels Willen, komm endlich zur Sache!« zischte Wilo zwischen den Zähnen hervor. »Oder willst du, daß die uns steinigen?« — Nein, das wollte Peter ganz gewiß nicht.

»Aber ich sehe, das alles ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich will es daher kurz machen und euch das Wichtigste mitteilen. Es gibt kein Heer, das euch gegen Borkas und seine Schergen verteidigen könnte. Wir sind ganz auf uns allein gestellt.!«

Wilo verdrehte die Augen. »Unternimm doch irgend etwas! Der Kerl redet uns alle um Kopf und Kragen«, sagte er zu Alissandra.

»Was soll ich denn tun? Ihn vom Balkon ‘nunter stoßen?« gab sie entnervt zurück.

»Wenn sein muß, warum nicht?« entgegnete Wilo und machte eine entsprechende Handbewegung.

Auf dem Platze entstand ein Inferno. Panik mischte sich mit tiefster Verzweiflung. Während einiger Minuten wurde der Lärm so laut, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Peter gab es auf, weiter zu den aufgeregte Leuten zu sprechen. Statt dessen wurde auf dem Balkon Kriegsrat gehalten.

»Hättest du das nicht etwas schonender ausdrücken können?« fragte Wilo.

»Ach was! Die werden sich schon wieder beruhigen. Wilo, du bist von uns der einzige, der über militärische Erfahrung und Kenntnisse der Kriegskunst verfügt. Glaubst du, daß wir das Dorf bis heute Abend auf einen Angriff oder eine Belagerung vorbereiten können?« Wilo sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Nein!« sagte er bestimmt.

»Denkst du, daß wir die Leute hinkriegen, gegen diesen Borkas zu kämpfen? Und werden wir eine Chance haben, gegen ihn standzuhalten.?«

Wilo machte ein nachdenkliches Gesicht. Dann zog er Peter mit sich hinein in die Stube. Er bedeutete den anderen, draußen zu warten. Als sie allein waren, sagte er: »Die Sache ist die: Wir haben keine Soldaten, keine Waffen, keine Mauern oder Schutzwälle. Ich weiß nicht wie viele Männer dieser Borkas hab. Aber ich weiß, daß er nicht viele brauchen wird, um hier alles in Schutt und Asche zu legen.«

»Die Lage ist also hoffnungslos? Was schlägst du vor?«

»Hoffnungslos ist eine Sache erst dann, wenn man sie aufgegeben hat. Die Leute sind jetzt bitter enttäuscht, weil sie an eine Rettung in letzter Minute geglaubt hatten. Innerlich aber haben sie sich längst mit ihrer Lage vertraut gemacht, und ich denke, daß die, welche nicht fliehen werden, bis aufs Blut zu kämpfen bereit sind. Außerdem haben wir ja das Ding da.« Er deutete auf das Schwert an Peters Seite. »Wenn es nur halb so viel taugt, wie man sich erzählt, dann haben wir zumindest eine kleine Aussicht, hier heil hinauszukommen.«

»Was erzählen wir den Mädchen? Ich will auf keinen Fall, daß sie in die Kämpfe verwickelt werden.«

»Wir könnten sie mit den Pferden und genügend Proviant vorausschicken. Bis Sonnenuntergang wären sie weit genug entfernt, jedoch… —«

»Ich weiß was du meinst. Alissandra würde nie fortgehen. Die müßte man schon fesseln und knebeln und auf ihrem Pferd festbinden«, meinte Peter.

»Das ließe sich einrichten«, sagte Wilo trocken, der darin bereits Erfahrung hatte. »Aber die beiden allein in den Wäldern?«

»Du hast recht. Hier können wir wenigstens ein Auge auf sie haben. Das Haus ist stabil und hat einen kleinen Turm. Wenn sie sich hier verbarrikadieren, sind sie am sichersten.« Peter sah Wilo fest an. »Ich übertrage dir die Befehlsgewalt in allen militärischen Belangen. Warst du nicht Leutnant in der Armee des Regenten?« Wilo nickte. »Ja, aber nur wegen der Familie.«

»Von heute an bist du Hauptmann der königlichen arkanischen Armee.«

»Da gratuliere ich schön«, sagte Alissandra, die soeben eingetreten war. »Hast du für mich auch einen Posten?«

»Ja, als meine Privat-Sekretärin!« sagte Peter unwirsch.

»Darüber reden wir später noch. Jetzt aber solltest du dich draußen wieder zeigen. Die denken sonst, du hättest dich aus dem Staube gemacht. — Das würdest du doch nicht tun? — Oder?« Zum Glück für Alissandra befand sich in Peters Nähe nichts, das er hätte werfen können.

»Wo bleibt ihr denn? Ist da drinnen irgend eine Verschwörung im Gange?2 fragte Tamina.

»Frag Alissandra, die lauscht gerne an fremden Türen und weiß dafür auch stets alles.« Zum Glück für Peter konnte sich Wilo gerade noch rechtzeitig zwischen die beiden stellen und so ein größeres Unglück verhindern.

»Freunde, Bürger, freie Arkanier!« rief Peter der Volksmenge zu. »Ihr wißt alle, daß eine wichtige Entscheidung vor uns liegt. In wenigen Stunden wird Borkas mit seinen Spießgesellen hier auftauchen und im Namen des Regenten Plündern, Morden und Brandstiftern. Es ist eure Entscheidung, ob ihr fliehen und alles, was ich euch mühevoll aufgebaut habt, aufgeben wollt, oder ob ihr euch gegen Unrecht und Tyrannei auflehnen wollt. Aber bedenkt eines: Wenn ihr jetzt davon lauft — was euer gutes Recht ist, denn ich bitte niemanden, um meinetwillen, ja auch nicht um des Staates Willen, sein Blut zu vergießen — dann werdet ihr immer davon laufen müssen. Dann werdet ihr für immer vor dem Feinde kapituliert haben. Wenn ihr aber euch entschließen solltet, zu kämpfen, dann wisset, daß der Kampf damit nicht vorbei sein wird, daß noch nichts gewonnen ist. Wenn ihr euch einmal entschlossen habt, das Böse zu bekämpfen, dann müßt ihr es immer wieder von neuem tun, bis es restlos ausgerottet ist; und die so gewonnene Freiheit müßt ihr immer wieder aufs neue verteidigen, denn die Freiheit ist kein Geschenk, sie will erstritten und bewahrt sein. Seid aber auch eingedenk, daß ihr nicht für euch und euer Dorf allein steht, sondern für alle Dörfer und alle Menschen in Arkanien. Ihr habt heute die Möglichkeit, ein Zeichen zu setzten, ein Fanal für Freiheit und Recht. Wenn wir siegreich sind, so werden wir bewiesen haben, daß der Regent nicht allmächtig ist, und daß die Tage seiner Herrschaft gezählt sind. Wenn wir aber trotz aller Anstrengungen untergehen sollten, dann mögen dies die Völker der Welt zum Zeichen nehmen, daß das Volk Arkaniens seine Freiheit über alles liebt und daß keine Macht der Welt diese Liebe zur Freiheit und Gerechtigkeit für immer zu ersticken vermag. Lieber frei sterben als tyrannisch verderben!

Wollt ihr wie ich Freiheit oder Blut?!«

Peter stand schwer atmend an der Brüstung und stützte sich auf. Man sah ihm an, wie sehr ihn die Rede angestrengt hatte. Für einen Augenblick war es totenstill auf dem Platze, dann erscholl ein Ruf aus dreihundert kehlen: »Freiheit oder Blut!« und »König Peter lebe hoch , hoch, hoch!«

»Dann hört euch jetzt an, was Hauptmann Wilbur von Ragunow-Wald euch zu sagen hat.« Unter den erstaunten und bewundernden Blicken Wilos ließ sich der jetzt völlig erschöpfte Peter von den beiden Mädchen ins Haus geleiten.

Tamina sah ihn mit fast scheuer Ehrfurcht an, als erkannte sie ihn nicht mehr. »Von diesem Augenblick an weiß ich, daß du wirklich unser neuer König bist.« Peter versuchte etwas zu erwidern, aber er merkte, daß seine Stimme von der langen rede ganz heiser war. Er bat um etwas Wasser. Tamina eilte sofort, das gewünschte zu holen. Alissandra schaute ihm fest in die Augen. Leise sagte sie zu ihm: »Bitte verzeih mir, daß ich jemals an dir gezweifelt habe. Du bist wirklich unser König. Woher wußtest du den Menschen diese Worte zu sagen? Ich meine, ich habe dich noch nie so reden hören. Du hast die Menschen richtig verzaubert. Wie ist das möglich? Vor wenigen Minuten noch sahst du aus, als wolltest du dich unter dem Tisch verkriechen und dann, wenig später, redest du wie König Brunnar selber.«

Dieses Lob aus so schönem Munde machte Peter richtig sprachlos. Es war das erste Mal, daß Alissandra ihn gelobt hatte. »Ich weiß nicht recht, was über mich gekommen ist. Ein Wort gab das andere. Zuerst wußte ich nicht, was ich sagen sollte, aber dann kam es auf einmal ganz aus mir hervor und plötzlich spürte ich eine neue, nie gekannte Kraft in meinem Innern. Es war wie ein Feuer, das in mir entfacht wurde. Ich fühlte mich ein wenig so wie in dem Augenblick als ich das Schwert zum ersten Mal in der Hand hielt. — Ach! ich wünschte, ich könnte dieses Feuer, diese wunderbare Kraft öfter verspüren! Wie einfach und leicht geht alles, was man sich wünscht und vernimmt von der Hand. Ich fühlte mich wie in einem Rausch. Aber jetzt fühle ich mich schwach und elend. Und bei dem Gedanken, was ich mit meinen Worten vielleicht angerichtet habe, wird mir ganz flau.«

Alissandra stand auf und legte einen Arm auf Peters Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Du mußt dich rasch erholen, aber gemeinsam werden wir es schaffen.«

Tamina kam herein und brachte Peter einen Kelch mit einem kühlen, leichten Wein, der ihm wie Öl die Kehle hinabrann. Rasch gewann sein bleiches Antlitz seine gesunde Farbe zurück und langsam kehrten die Lebensgeister wieder.

»Lisa, Tamina! kommt her. Ich muß mit euch reden«, sagte er ernst. Die beiden Mädchen setzten sich zu ihm an den Tisch.

»Ihr könnt euch sicher vorstellen, was uns in den nächsten Stunden erwarten wird. Was immer geschehen mag, ich möchte, daß ihr euch aus allem heraushaltet. — Das gilt ganz besonders für dich, Alissandra!« Der trotzige Zug um ihren Mund und das angriffige Funkeln in ihren Augen drückte Alissandras Gedanken besser aus als alle Worte. Peter kannte diese Zeichen aus der Vergangenheit allzu gut, um zu wissen, daß er ihr jetzt keine Gelegenheit lassen durfte, ihre Argumente darzutun. Er sagte ernst und eindringlich: »Ich weiß genau, daß du ebenso gut kämpfen kannst wie ich, und daß du es an Mut und Tapferkeit mit jedem Manne aufnimmst. Aber gerade deswegen will ich, daß du bei Tamina und den anderen Frauen und den Kindern hier im Rathaus bleibst; als Wache. Außerdem brauchen wir jemanden, der sich um die verwundeten kümmert. Du wirst hier im Hause das Kommando übernehmen und dafür sorgen, daß alles ruhig bleibt. Hast du mich verstanden? Denke daran, was wir deinem Vater versprochen haben.«

»Ja, Peter!« Die Antwort klang wie die letzten Worte eines Verurteilten auf dem Wege zum Schafott . Sie stand auf und ging hinaus. »Jetzt ist sie beleidigt«, meinte Peter zu Tamina.

Natürlich war Alissandra beleidigt. Ein aufregendes Abenteuer, eine wilde Schlacht um Heimat und Freiheit stand unmittelbar bevor. Vielleicht würde sich hier das Schicksal der Nation entscheiden. Ein historisches Ereignis, wie damals die erste Schlacht König Brunnars des Starken, von der sie so viel in ihren Büchern gelesen hatte, wovon alle Heldenlieder sagen. Und sie durfte nicht dabei sein; eingesperrt mit alten Weibern und kleinen Kindern! Das würde sie Peter irgendwann heimzahlen.

»Wenigstens bist du vernünftig und willst nicht mit den Männern kämpfen«, sagte Peter zu Tamina. Nein, das wollte sie gewiß nicht. Nichts verabscheute sie mehr als Streit und Hader und Gewalttätigkeiten. Wenn es aber unbedingt erforderlich wäre, so würde sie nicht zögern, ihren Freunden zur Hilfe zu eilen. »Ich könnte ja ohnedies nicht viel ausrichten. Aber Angst habe ich keine«, log sie tapfer. In Wirklichkeit schlug ihr Herz heftiger als sonst, und ihrem Hals steckte ein dicker Kloß, der sich einfach nicht hinunterschlucken ließ. Sie schaute Peter gründlich an. Eigentlich machte sie sich um ihn am meisten Sorgen. Er war so gescheit und witzig, bestimmt wüßte er sich aus dem gröbsten herauszuhalten; auch kannte sie seine Vernunft und Vorsicht und wußte, daß er sich nicht leichtsinnig in Gefahr begeben würde. Aber im Vergleich zu den anderen Männern und besonders zu Wilo wirkte er so zerbrechlich und beinahe schmächtig. Er war kein Kämpfer.

»Peter! Paß bitte gut auf dich auf.«

»Tamina, mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe doch das Zauberschwert und diesen Talisman hier.« Er berührte den goldenen Anhänger mit dem weißen Kristall. »Wenn die mir kein Glück bringen! Gib du mich nur gut acht auf Alissandra. Sie ist zwar im Großen und Ganzen ein vernünftiges Mädel, aber wenn sie der Hafer sticht, dann hält sie nichts mehr zurück. Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn ihr etwas zustieße.«

Tamina versprach, ihr Bestes zu versuchen. Allein auf Alissandra ein Auge zu haben, hieß einen Sack voller Flöhe hüten. Aber das sagte sie Peter natürlich nicht.

Ein Lärmen der Volksmenge vor dem Hause bedeutete, daß Wilo seine Ansprache beendet hatte. Er trat vom Balkon herein. Ich habe einhundertsechsundvierzig Mann. Der Rest sind Frauen, Kinder und alte Leute. Ich habe die Männer in drei Abteilungen einteilen lassen, den Rest, soweit sie arbeitsfähig sind, in fünf Gruppen. Sobald sie mit dem Abzählen fertig sind, erwarte ich die Anführer hier oben zu Lagebesprechung.

Kurze Zeit später fanden sich alle in dem Ratszimmer ein. Außer den Führern der einzelnen Kampfgruppen, den Frauen und Hilfskräften, fanden sich die Mitlieder des Dorfrates ein; alles würdige ältere Herren. Sie setzten sich an den langen Tisch. Am Kopfende nahm Peter Platz. Zu seiner Rechten stand Wilo, zur Linken der Bürgermeister. Zuerst erklärte Peter den Vertreterinnen der Dorffrauen, was ihre Aufgabe sei.

»Wichtig ist, das alle Feuer und Lichter gelöscht werden. Sorgt dafür, daß alle Türen und Fenster fest geschlossen und verriegelt sind. Laßt nichts wertvolles und nichts brennbares herumliegen. Füllt alle Gefäße, Krüge, Kannen, Eimer und Wannen mit Wasser. Haltet nasse Laken und Decken zum Feuerlöschen bereit. Schade daß es nicht regnet. Es wäre vielleicht gut, wenn ihr alle Strohdächer mit Wasser besprengen würdet — soweit sich das machen läßt.« Er wandte sich jetzt an die Männer: »Dann brauchen wir Waffen. Tragt alles, was sich als Waffe gebrauchen läßt vor dem Rathaus zusammen. Sammelt Steine und Holzscheite als Wurfgeschosse. Die Straßen und Wege sollten verbarrikadiert werden. Am besten mit Wagen und Ackergeräten.«

»Wir könnten einige Bäume fällen, die am Wegesrand stehen«, schlug einer der Männer vor.

»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Peter. »wir brauchen einige Frauen, die sich um die verwundeten kümmern«, meinte Wilo.

»Was geschieht, wenn wir dem Feind nicht zu trotzen vermögen?« fragte einer der Ratsherren, welcher Peters Ausführungen mit kritischem Blick beigewohnt hatte. Er machte den Eindruck eines vorsichtigen und argwöhnischen Mannes, der sich nicht so rasch für einen neuen Plan begeisterte, ohne ihn nicht vorher eingehend geprüft und durchdacht zu haben. Unmut über seine Äußerung machte sich unter den Anwesenden breit. »Jetzt ist nicht die Zeit für Eure Schwarzmalerei«, sagte einer ungehalten. Und ein anderer meinte gar: »Wir sind hier um zu kämpfen und nicht um im Voraus unsere Niederlage zu beweinen.«

»Einen Augenblick, meine Herren!« versuchte Wilo zu beschwichtigen. »Es ist gar nicht falsch, sich Gedanken um einen geordneten Rückzug zu machen. Wenn alles verloren ist, dann wird Prinz Peter oder ich das Signal zum Rückzug geben. Das heißt dann, daß alle verbleibenden Männer sich sammeln, um einen Ausfall nach dem Walde hin zu machen. Wir werden dann die Zivilisten aus dem Rathaus holen und sie in die Mitte unseres Zuges nehmen. Im Wald können wir uns in der Nacht leicht verstecken. Zu Fuß sind wir beweglicher und schneller als die Ritter. Wenn wir den Wald erreichen, dann sind wir vorerst in Sicherheit.«

»Also, wissen alle, was ihre Aufgabe ist?« fragte Peter in die Runde und warf einen besorgten Blick auf seine Uhr. »Wir haben nicht mehr viel zeit bis die Sonne untergehen wird.« Auf sein Zeichen hin war die Versammlung aufgehoben. Ein jeder ging eilig, aber besonnen auf seinen Posten. Das Ratszimmer wurde in eine Art Befehlsstand verwandelt. Wilo zeichnete mit Kreide einen Plan des Dorfes auf die dunkle Tischplatte. Sorgfältig vermerkte er alle Befestigungen und Wachposten darauf.

Die Zeit verging wie im Fluge. Bald wurde es ruhiger im Haus und in den Gassen. Eine drückende Anspannung hatte von allen Besitz ergriffen. Ein jeder dachte an die bevorstehende Auseinandersetzung.

»Peter?« Taminens Kopf erschien in der Tür. »Schau was wir auf dem Speicher gefunden haben.« Sie hielt ein reichlich staubiges und vergilbtes Stück Stoff empor. »Ja, und?« — »Sieh doch! Das ist eine alte Heeresflagge aus der Zeit König Brunnars des Starken. Peter besah sich das Tuch. Es war von dunkelrotem, eher purpurnen Grunde, darauf prangte ein gekrönter goldener Adler; in seinen Krallen hielt er Schwert und Szepter.

»Ist das nicht wundervoll? Jetzt haben wir wieder eine Flagge. Der Regent ließ sie überall entfernen und verbieten. Aber diese hier wurde nicht verbrannt, sondern hat oben auf dem Speicher die Jahre überdauert.«

»Das hast du gut gemacht, Tamina. Aber jetzt geh’ wieder auf deinen Posten.« Peter nahm die Flagge an sich. Er befühlte den brüchigen Stoff, der einst von sehr feiner und kostbarer Qualität gewesen sein mußte. Das Schwert in der rechten Kralle des Aars sah genau so aus wie sein goldenes Zauberschwert. »So also sieht das sagenhafte Szepter aus«, sagte er leise zu sich, als ein Lärmen auf der Straße ihn jäh aus seinen Betrachtungen riß.

Ein Kundschafter, den Wilo dem Feinde auf der Landstraße entgegen geschickt hatte, kehrte eben wieder ins Dorf zurück. Keuchend und am ganzen Leibe zitternd stürzte er in das alte Rathaus. Er brauchte einige Minuten, bis er wieder sprechen konnte.

»Was hast du gesehen? Rede, Mann!« Wilo packte den verängstigten am Kragen und schüttelte ihn heftig, als wolle er die Wahrheit aus ihm herausschütteln.

»Es ist alles vorbei und verloren«, stammelte der Mann und sank kreidebleich auf einen Stuhl. »Ich habe sie gesehen. Sie kommen aus beiden Richtungen vom Tal her. Es sind ungeheuer viele — Tausende — — .«

Vom Rathausturm hatte man eine recht gute Rundumsicht. Peter, dem die Aufruhr nicht entgangen war, Tamina und zwei der Ratsherren haben sich ebenfalls in die enge Turmstube begeben, welche durch herumstehendes Gerümpel und Stöße alter, staubichter Papiere noch weniger Raum bot. Anscheinend diente sie seit langem nur noch als Estrich.

Die Sonne war inzwischen hinter den Hügelkämmen im Westen verschwunden. Nur ein winziger blutroter Schimmer leuchtete eben noch zwischen den Wipfeln hervor. Nur noch kurze Zeit, dann würde es stockdunkel werden.

Angestrengt starrte ein jeder in die Weiten der Landschaft. »Also, ich kann nichts erkennen«, meinte Peter. »Ich sehe nur Schatten«, sagte Wilo.

»Aber sehr doch nur, dort! Am Ende des Tales, am Fuße jener Anhöhe. Und auf der anderen Seite ebenfalls. Der Kundschafter deutete aufgeregt mit dem Finger aus dem Fenster.

Gespannt versuchte Peter der Linie des ausgestreckten Armes zu folgen. »Es ist viel zu dunkel. Ich kann niemanden erkennen.«

»Doch! Sieh nur.« Wilo stieß Peter mit dem Ellenbogen an. »Da bewegt sich etwas.« — »Wo?« — »Hier, diese dunkle Stelle hat sich bewegt.« Peter starrte in die Dämmerung, bis ihm die Augen brannten. »Das kann nicht sein. Das ist viel zu groß, die Fläche — .« Ihm stockte der Atem. Tatsächlich, die dunkle Fläche die er zunächst für den Schatten des Hügels angesehen hatte, schien näher zu kommen.

»Was immer das ist«, meinte Wilo, »wenn es sich weiter mit dieser Geschwindigkeit nähert, dann ist es in einer halben bis Dreiviertelstunde hier.«

»Gibt es hier kein Fernglas?« Die Annäherung dieses unbekannten und unbegreiflichen Feindes erweckte eine große Unruhe unter den Leuten im Dorf. Und nicht wenige wurden ob der vielen widersprüchlichen Nachrichten und Deutungen sehr verwirrt und in nicht geringen Schrecken versetzt. Teils breitete sich eine Art lähmenden Entsetzens aus, teils entstand eine umtriebige aber wenig fruchtbare Hektik.

Inzwischen hatte sich der Schatten so weit genähert, daß man scharfen Auges einzelne, schwarze, schemenhafte Gestalten eines riesigen Heeres ausmachen konnte. An der Spitze des Zuges ritt eine Schar von etwas dreißig bewaffneten Rittern in dunklen schweren Rüstungen, dahinter, im mehreren Abteilung, folgte das schattenhafte Heer. Es bestand teils aus berittenen Gestalten auf mächtigen pechschwarzen Rössern, zum größeren Teil aber aus Fußvolk von der gleichen Art.

»Es sind die ,Schatten’« sagte Wilo, der entgegen seiner gewohnten Kaltblütigkeit sichtlich blaß geworden war. »Es gibt sie also tatsächlich.«

»Mann! Wovon redest du?« Peter rüttelte an Wilos Schulter, als versuchte er Äpfel von einem Bäumchen herabzuschütteln. Langsam und ein wenig atemlos hub Wilo an zu sprechen, derweil sich eine größere Schar von Männern zu denen inzwischen auch die beiden Mädchen gestoßen waren.

»Vor beinahe zwanzig Jahren hörte man zum ersten Male von den unheimlichen ,Schatten’. Das war als der Regent Tiras sich anschickte, sich das ganze Land untertan zu machen. Er versuchte, die macht der Fürsten einzuschränken. Er erhöhte die Steuern und forderte hohe Zölle und Abgaben. Natürlich begann sich Widerstand zu erheben. Während vieler Jahre hatte der Regent große Mühe, genügend Truppen bereitzustellen, die jederzeit und überall, wo mit Aufruhr und Rebellion zu rechnen war, zusammengezogen werden konnten. Hinzu kam, daß der größte Teil seines Heere an den Grenzen des Reiches, vor allem im Norden und Südosten zur Sicherung der Grenzmarken und der damals frisch eroberten Gebiete benötigt wurden.

Der Graf von Tobal war der erste, der es wagte, sich dem Regenten offen entgegen zu stellen. Seine Grafschaft war groß und fruchtbar. Die Menschen lebten in Wohlstand und liebten ihren Landesherrn und hielten ihm die Treue. Da wähnte sich der Graf stark genug, dem Regenten die Gefolgschaft verweigern zu können und er forderte ihn sogar öffentlich im Reichsrat — welcher damals noch regelmäßig tagte — zur Abdankung auf und bestand auf der Wahl eines neuen Regenten. Tiras war außer sich vor Zorn. Er warnte den Grafen und alle, die an eine Spaltung des Reiches oder an Widerstand gegen seine Regentschaft dachten, und er schwor, daß er die Grafschaft vernichten werde.

Wenige Monate später begannen plötzlich ganze Dörfer und kleine Orte zu verschwinden. Niemand wußte anfangs, was geschehen war. Über Nachte verwandelten sich blühende Landschaften in öde Wüsteneien. Reisende und Marktfahrer kamen in verödete Dörfer, deren Bewohner entweder alle getötet worden waren oder Hals über Kopf geflohen waren. Die Häuser waren ausgebrannt, die Felder verbrannt oder die Frucht in Grund und Boden gestampft. Die Überlebenden berichteten später von gewaltigen Heerscharen schwarzer Ritter, die ihre Heimstätten verheert hätten. Niemand wußte, wer sie waren, noch woher sie kamen und wohin sie wieder verschwanden. Sie tauchten immer nur zur Nachtzeit auf. Bald nannte man sie nur noch die ,Schatten’.

Es währte keine drei Monate, da war der größte Teil der Grafschaft Tobal verwüstet, ihre Bewohner waren in die umliegenden Länder geflüchtet, oder hatte sich in die dichten Wälder zurückgezogen, wo sie sich vor dem Zugriff der Schatten sicher glaubten. Der Graf und seine treuesten Gefolgsleute wurden gefangen genommen. Viele wurden getötet, die Überlebenden wurden in die Verbannung geschickt. Die Schatten sind seither immer wieder in Erscheinung getreten. Von den Fürsten im Reich hat es keiner je wieder gewagt, dem Regenten entgegen zu treten.«

Peter sah schaudern zum Fenster hinaus. »Gibt es nichts, was diese ,Schatten’ aufhalten kann? Und was sind das für Leute? Woher kommen sie? Sind es überhaupt richtige Menschen? Wenn wir hier in einem Roman oder Film wären, dann würde ich sagen, es sind Geister oder vielleicht ferngesteuerte Roboter, Androiden mit künstlicher Intelligenz.« Peter konnte es wieder einmal nicht lassen, seiner Einbildungskraft freien Lauf zu lassen.

»Ihr scheint sehr viel über derlei Dinge zu wissen, Herr«, sagte einer der Ratsherren. Wenn Ihr so gut Bescheid wißt, dann kennt Ihr bestimmt einen Weg, wie wir sie bekämpfen könnten.«

»Gegen Geister hilft in der Regel ein Kreuz oder Silberne Kugeln oder auch Knoblauch (falls es sich um Vampire handelt) — —.«

»O Weh! jetzt ist er völlig übergeschnappt«, murmelte Alissandra leise, während die Umstehenden Peter mit fragenden Blicken überhäuften.

»Falls es Maschinen sind, wäre es nützlich herauszufinden, von wo aus sie gesteuert werden und was ihre Energiequelle ist — —.«

»Verzeiht, Herr! daß ich Eure gelehrte Rede unterbreche.« Der Bürgermeister räusperte sich entschuldigend. »Aber wir haben nur noch wenig Zeit. Was sollen wir tun?«

»Vielleicht ist es besser, wir ergeben uns«, sagte Peter leise und betrachtete die Heerscharen , die inzwischen in der Ebene vor dem Dorfe ihre Stellungen einzunehmen begannen. Die Reaktion auf diese Äußerung war heftig. »Das war nur ein Scherz«, sagte er mit einem gekünstelten Lächeln, das die peinliche Situation überbrücken sollte. Es half aber wenig. In der Zwischenzeit müssen sie mich für einen kompletten Idioten halten, dachte Peter; und er wußte, daß es allein seine Schuld war, wenn die Männer das Vertrauen in ihn verlören, denn dann wäre es aus mit ihnen. Seine törichten Sprüche und sein dämliches Gefasel hatten ihn wieder einmal dumm dastehen lassen. Er fragte sich, warum es immer wieder geschah, daß er sich den anderen Menschen gegenüber so ungeschickt verhielt. Irgendwie gelang es ihm nie, so zu wirken wie er wirklich war. Aber wie war er in Wirklichkeit? War er der, welcher er gerne wäre? oder der, wie ihn die anderen sahen? oder der, welcher er zu sein glaubte? oder der, wie er glaubte, daß er auf die anderen wirke? Konnte man sich überhaupt ein Bild von einem Menschen machen, ein wahrheitsgetreues Bild? Gab es eine Wahrheit, ein wirkliches Gesicht, oder war alles nur Schein? Bestand der Mensch aus vielen Gesichtern, Personen, die wie die Schichten einer Zwiebel übereinander liegen, die nachdem man sie durch genaue Beobachtung und Erforschung erkannt und durchschaut hatte, abfielen und eine weitere, neue, Schicht hervortreten lassen?

»Peter! Wach auf! Jetzt ist nicht die Zeit zum Träumen.« Alissandra stupste ihn mehrere Male unsanft in die Seite.

»Ja? was? — Ach so, ich muß mir das aus der Nähe anschauen. Ich werde mich an sie heranschleichen. Vielleicht kann ich etwas in Erfahrung bringen, was uns nützlich sein wird.«

»Das ist ein sehr gefährliches Unternehmen. Du könntest entdeckt, erkannt und gefangen genommen werden. Das Risiko ist viel zu groß«, gab Wilo zu bedenken.

»Ach, geh, Schmarrn! Sich hier ahnungslos abschlachten zu lassen, ist das vielleicht kein Risiko? Nein! ich gehe auf jeden Fall. — Zur Not bin ich wohl entbehrlich«, fügte er nicht ohne einen leicht bitteren Unterton mit einem flüchtigen Blick auf Alissandra hinzu. »Tamina, leihst du mir dein Pferd? Mondi würde in der Finsternis leicht auffallen.«

»Wenn das so ist, dann werde ich dich begleiten«, sagte Wilo sofort.

»Nein, du wirst hier dringend gebraucht. Außerdem könnten wir, wenn wir erwischt werden, zu zweit genau so wenig gegen die Übermacht ausrichten, wie einer allein.«

»In dem Fall gehe ich mit dir«, sagte Alissandra.

»Das kommt nicht in Frage! — Wilo, du sorgst dafür, daß sie hier bleibt.« Ohne Alissandras Protest abzuwarten, machte Peter sich unverzüglich auf den Weg.

Anatol war ein deutlich größeres Kaliber als Mondenglanz und Peter hatte ein wenig Mühe, den gutmütigen aber behäbigen Wallach auf Trab zu bringen. »Bin gleich wieder da!« rief er den zurückbleibenden zu. Dann gab er dem Gaul die Sporen und flog davon.

Er konnte den Angreifern nicht geradewegs entgegen reiten ohne sogleich entdeckt zu werden. Daher brauchte er länger als erhofft, um sich dem etwa eineinhalb Kilometer entfernten Troß zu nähern. E hielt sie so lange wie möglich am Waldrand, dann bog er zum Bachbett ab und ritt durch das zu der Jahreszeit viel Wasser führende Flüßchen. Er hoffte inständig, das Rauschen des Wasser möge die Schritte des schweren Pferdes übertönen. Nach wenigen Metern mußte er das Bachbett verlassen. Er stieg ab und verbarg das Pferd hinter einer Baumgruppe im dichten Unterholz, das ihm eine willkommene Deckung bot. Je näher er dem unsichtbaren Feinde kam, desto heftiger fühlte er sein Herz klopfen. Er hatte immer davon geträumt, ein Held zu sein, der sich furchtlos und tapfer dem grimmigen Feinde entgegenstellt und stets auf wunderbare Weise siegreich aus jedem Gefecht hervorgeht; so wie er es bereits Hunderte Male in seinen Abenteuergeschichten gelesen oder im Kino gesehen hatte, aber dies das die Wirklichkeit, und die verursachte ihm heftige Bauchschmerzen.

Er atmete mehrmals tief durch, bevor er gebückt aus dem Schutze seiner Deckung heraus auf das offene Feld lief. Er konnte nur hoffen, daß in diesem Augenblick niemand in seine Richtung sah.

Die Vorhut der feindlichen Truppen hatte etwa hundert Meter voraus am Fuße eines flachen, ovalen Hügels haltgemacht. Von den ,Schatten‘ war nichts zu sehen. Ein leises Stimmengemurmel drang an sein Ohr. Geduckt und vorsichtig raumgreifende Schritte ausholend, tastete sich Peter durch die Dunkelheit. Er umschlich die Nördliche Seite des Hügels, so daß er etwas oberhalb der Gruppe von etwa dreißig bis fünfzig Männern anlangte. Flach auf der kalten und feuchten Erde liegend robbte er sich Meter für Meter voran, bei jedem Rascheln oder Knacken heftig erschreckend. In einer flachen Kuhle, sorgfältig vor den Blicken der Dorfbewohner verborgen, brannte ein kleines Lagerfeuer auf Sparflamme. Ein Felsblock bot Peter etwas Deckung. Den Blick in Richtung des schwachen Lichtscheins gewandt, kroch er um den Felsen herum. Jetzt konnte er sehen und hören, was in dem Lager vor sich ging. Er bekam zwar nicht jedes Wort mit, konnte aber einige Fetzen des leise geführten Gespräches aufschnappen.

»Wollen wir nicht endlich angreifen?« fragte einer. »Nein! … wir warten noch bis es ganz dunkel ist. Die haben uns längst bemerkt und jetzt sollen sie in ihrer Furcht noch weiter schmoren.«

»Meinst du, daß die uns Schwierigkeiten machen?« — »Kaum. Aber es sollen sich einige Rebellen in der Gegend herumtreiben. Außerdem bei dem vielen Geld im Wagen gehe ich lieber kein Risiko ein.« — »Der Alte muß ja mächtig kalte Füße bekommen haben, daß er so viele von den schwarzen Gesellen herausgerückt hat. Also, ehrlich gesagt, Borkas, ich habe kein gutes Gefühl in deren Nähe.« Der Angesprochene — er schien der Anführer zu sein — lachte laut auf und griff in sein Wams. Er brachte einen länglichen, schwarz glänzenden Gegenstand zum Vorschein, den er im schwachen Schein der Flammen in den Händen wog. »Aber wenn du so etwas hast, dann sind sie lammfromm und gehorchen dir aufs Wort.« Er schwang den Stab in der Luft und gebot mit eindringlicher Stimme: »Kommt her zu mir, ihr Schatten!«

Aus der Dunkelheit drang ein leises Geräusch. Dann schieden sich aus dem Dunkel der Nacht mehrere Schemen heraus, die schwankend in Richtung des schwarzen Stabes marschierten. Peter stockte der Atem. Sein Herz pochte so heftig, daß er glaubte man könne es meterweit vernehmen. Die Gestalten nehmen allmählich deutlichere Formen an. Es waren riesige gepanzerte Ritter, gut zwei Meter hoch. Ihre Rüstungen schimmerten in mattem Glanze. Sie mochten aus einer Art Metall gefertigt sein, wie Peter es noch nie gesehen hatte. Es war von der gleichen Farbe und Beschaffenheit wie der Stab in der Hand des Hauptmannes. Die Helmvisiere waren geschlossen, so daß Peter ihre Gesichter nicht erkennen konnte — falls sie überhaupt welche hatten. Die ,Schattenritter‘ bewegten sich steif aber völlig geräuschlos auf den Hauptmann zu. Es schien als könne sie nichts aufhalten. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig, wie mechanisch. Es machte den Anschein, als würden sie wie ein Tank oder eine Dampfwalze alles platt walzen, was sich ihnen in den Weg stellte.

Plötzlich aber wurden ihre Bewegungen langsamer, als zauderten sie, näher zu kommen. Der Hauptmann wiederholte seinen Befehl lauter und eindringlicher. Die Schatten traten näher an den Hauptmann heran, wichen aber wieder zurück, als ob irgend etwas ihnen große Furcht oder Pein bereitete.

Jetzt erkannte Peter, was die Gestalten zurückweichen ließ: Ein Windstoß hatte das Feuer auffachen lassen. Vor dem Lichtschein fürchteten sich die Schatten. Das war die Lösung! Die Burschen sind im wahrsten Sinne des Wortes ein lichtscheues Gesindel, dachte Peter. Er war in einer höchst aufgewühlten Stimmung. Was er da gerade gesehen und erlebt hatte, überstieg seine Vorstellungskraft, ja, es brachte sein ganzes Weltbild ins Wanken. In was für ein arabeskes Märchenland war er da geraten, wo Geister- und Zauberwesen dergestalt ihr Unwesen trieben? Zugleich war es aber auch sehr glücklich darüber, daß die drohende Gefahr, wenn nicht völlig gebannt, so doch deutlich verringert wurde, durch die Tatsache, daß es ein einfaches Mittel gab, diese unheimlichen Gestalten wirksam zu bekämpfen. Kein Wunder tauchten diese ,Schatten‘ nie am hellichten Tage auf.

»Siehst du jetzt! Die schwarzen Ritter sind eine perfekte Waffe: stark, furchteinflößend, leicht zu beherrschen und dabei harmlos für denjenigen, der sie zu führen weiß« sagte Borkas, der Hauptmann. »Ja, aber nur so lange es nicht regnet. Dann ist’s nämlich vorbei mit der ganzen Pracht, denn wasserfest sind unsere dunklen Freunde leider nicht.«

So ist das also! dachte Peter, das wird ja immer interessanter.

Er war von den Geschehnissen am Lagerfeuer so fasziniert, daß er die Bewegung hinter sich nicht wahrnahm. Erst als er eine leichte Berührung eines weichen, lebendigen Körpers an seinem Kopfe verspürte, fuhr er zu Tode erschrocken herum. Ein riesiger, vielbeiniger Schatten stand hinter ihm. Das genügte, um seinen angegriffenen Nerven den Rest zu geben. Mit einem Schrei des Entsetzens sprang er auf, strauchelte über sein eigenes Schwert und rollte den Abhang hinab, mitten in die Gruppe der Soldaten hinein. Hätte sich der Ärmste nur einen Augenblick besonnen, so hätte er gemerkt, daß der riesige ,Schatten‘, der hinter ihm aufgetaucht war, nur eines der schwarzen Pferde der Soldaten war, das ihn neugierig beschnuppern wollte.

Von diesem Augenblick an geschah alles sehr schnelle. Mit einer Geistesgegenwart, die er sich niemals zugetraut hätte, sprang Peter auf die Füße. Dem Hauptmann der Soldaten, vor dessen Füße er gerollt war, verpaßte er einen kräftigen tritt wider das Schienbein, noch bevor jener sich recht besinnen konnte. Diesen Augenblick des Schreckens und des Schmerzes nutze Peter geschickt aus. Er riß dem Mann den schwarzen Zauberstab aus der Hand. Fast gleichzeitig zog er sein Schwert.

»Keiner rührt sich!« befahl er heiser, während er die Männer mit Schwert und Zauberstab gleichzeitig bedrohte. »Los! Werft eure Waffen weg. Und dann legt sich jeder flach auf den Boden und rührt sich nicht von der Stelle, sonst macht er Bekanntschaft mit meinen schwarzen Helfern.« Zähneknirschend legten die also Übertölpelten ihre Schwerter und Armbrüste weg, während sie auf Borkas starrten.

»Zeigt euch, ihr Schatten! Kommt herbei!« gebot Peter mit dem Zauberstab in die Richtung, aus welcher die ersten dieser Ungeheuer aufgetaucht waren, und wo er den Rest der gigantischen Streitmacht vermutete. Und in der Tat erschienen sogleich einige der schwarz beharnischten Gestalten. Jetzt erst erkannten die Soldaten den ernst ihrer Lage. Bereitwillig warfen sie sich zu Boden. Borkas aber starrte mit wutverzerrtem Gesicht abwechselnd auf Peter und die ,Schatten‘.

»Hör zu, Junge. Wir können über alles reden. Du brauchst nichts zu überstürzen, was du später vielleicht bereuen könntest.«

»Hört! Hört! das ist ein Wort. Also, ich bin ganz Ohr«, sagte Peter triumphierend.

»Wer zum Teufel bist du? Und was willst du von uns?« fragte Borkas.

»Ich bin der, welcher gekommen ist, die Macht deines Herrn zu brechen und ihn und seine Spießgesellen zu richten«, trompetete Peter selbstherrlich, dem die Situation wohl ein wenig zu Kopfe gestiegen ist. Allein wer mochte es ihm verübeln. Es kommt schließlich nicht oft vor, daß ein einziger Junge eine ganze Armee von Rittern und Offizieren überwältigt und gefangen nimmt. Borkas pfiff leise durch die Zähne.

»Du bist das also. Dann stimmen die Gerüchte, die man sich in der Hauptstadt erzählt.« Peter fühlte sich geschmeichelt. »Erzählen Sie mir mehr darüber. Was reden die Leute über mich?«

»Ich habe nur gehört, daß irgend ein Idiot aufgetaucht ist, der sich für die Wiedergeburt von König Brunnar dem Starken hält und der mit ein paar Wirrköpfen und ‘ner entlaufenen Prinzessin zusammen in den Wäldern haust.«

Das reichte Peter, der dem impertinenten Kerl am liebsten ein Paar Watschen verpaßt hätte — allein Borkas war fast einen ganzen Kopf größer als Peter; daher entschloß er sich, keine weitere Zeit mehr mit dem Lumpengesindel zu vergeuden. Er gebot den Schattenkriegern die Soldaten festzuhalten und gut zu bewachen. So geschah es auch.

Peter war bereits im Begriffe, dem Lager den Rücken zu kehren, denn er brannte darauf, seinen Triumph im Dorfe feien zu sehen, als ihm etwas einfiel. »Augenblick mal«, sagte er, »habe ich vorhin nicht etwas von einem Wagen voller Gold gehört?« Der Hauptmann der von deinem der furchteinflößenden schwarzen Rittern mit eisernen Klauen festgehalten wurde, antwortete nichts, sondern gab nur ein wütendes Knurren von sich. »Na gut, dann eben nicht«, meinte Peter. »Es gibt auch andere Wege.« Erneut schwang er den schwarzen Zauberstab. Er befahl den Schatten, nach dem Wagen zu suchen und ihn unverzüglich nach dem Dorfe zu schaffen.

Er währte nicht lange, da konnte er in der Ferne bereits das Rattern eisenbereifter Wagenräder vernehmen, die sich bergab entfernten. »Und nun meine Herren, empfehle ich mich.« Mit einer spöttischen Verbeugung machte Peter sich davon.

Nicht weit vom Lagerplatz der Soldaten bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Vor ihm in der Ebene lagerte sich die Schattenarmee. Das heißt sie lagerten nicht, sondern standen reglos und stumm in Viererreihen kompanieweise abmarschbereit da. Keiner rührte sich, kein Laut war zu vernehmen. Peter war es recht gruselig zumute, als er durch die Reihen der riesengroßen Gestalten schritt. Es kostete ihn einige Überwindung, einen der Ritter zu berühren, aber endlich obsiegte bei ihm die Neugier. Die Rüstung fühlte sich kalt und hart und glatt an wie Eisen. Peter atmete tief durch, dann klappte er das Helmvisier auf. Der Helm war leer. Die ganze Rüstung war leer. Peter schauderte heftig. Er begann zu laufen, rannte bergab in Richtung des Tales.

Unweit von dem unheimlichen Ort fand er auf einer Wiese eine Herde schwarzer Schattenrösser, welche ihren Meistern gleich bewegungslos und stille, wie Statuen auf dem Werkhof eines Bildhauers in Reih und Glied warteten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zückte Peter den Zauberstab und berührte einen der Gäule damit. Es gab einen blechernen Klang, dann erwachte der Gaul zum Leben — wenn man das so nennen kann — und wandte seinen Kopf Peter zu. Dieser stieg auf und lenkte ihn auf den weg. Es war ein seltsames Gefühl, dieses blecherne Schattenroß zu reiten. Es reagierte sofort und willig, aber völlig mechanisch, wie wenn man ein Auto oder eine elektrische Maschine in Tätigkeit setzte. Peter ließ den Gaul in einen flotten Trab fallen und ritt zügig geradewegs auf das Dorf zu. Obgleich es stockfinster war, fand sich das Roß spielend zurecht; weder strauchelte es, noch zauderte es, fürbaß in die Finsternis hinein zu springen. Gewohnheitsmäßig klopfte er dem Pferd lobend auf den Hals, wie er es bei Mondenglanz zu tun pflag, wenn sie brav gehorchte und willig vorwärts ging. Der Schattengaul aber fühlte sich kalt und hart an, und das Klopfen verursachte ein dumpfes Hallen, als schlüge man mit der flachen Hand eine an Glocke oder eine Blechtonne. Für einen Augenblick klappten die spitzen Ohren horchend nach hinten, dann klickten sie wieder nach vorne in die Ausgangsstellung zurück. Der Sitz war zwar hart, die Bewegungen aber ungewöhnlich weich und geschmeidig. Die Hufe machten wenig Geräusch auf dem weichen Boden und auf das gewohnte Schnaufen und Grunzen eines lebendigen Pferdes horchte man vergeblich.

Das Dorf war nicht mehr weit, als ein Geräusch Peter aufhorchen ließ. Es war das Donnern galoppierender Pferde, das sich von hinten rasch näherte. Erschrocken drehte er sich um und sah, daß er von etwa einem Dutzend Reiter verfolgt wurde. Allen voran ritt Hauptmann Borkas auf einem mächtigen Schattenroß, viel größer und schneller als ein lebendiges Pferd, selbst als das mechanische Roß, das er gerade ritt. Peter trieb seinen Gaul zum Galopp an. Mit Mühe und Not könnte er es bis ins Dorf schaffen, ehe die Halunken ihn einholten.

Tatsächlich sah es ganz so aus, als könne er den knappen Vorsprung beibehalten.

Aber das war bevor der Schattengaul mit Höchstgeschwindigkeit in ein tiefe Pfütze trat, sein rechtes Vorderbein verlor und mit einem Geräusch, das an einen Autounfall erinnerte, sich in seine Bestandteile auflöste. Peter flog in hohem Bogen vornüber ins Gras. Er überschlug sich mehrere Male und blieb schließlich bäuchlings liegen. Daß er sich dabei nicht das Genick gebrochen hatte, mußte er wohl seinem Schutzengel oder der Zauberkraft des goldenen Amuletts verdanken. In der Tat war er mehr erschrocken als wirklich verletzt. Benommen versuchte er wieder auf die Beine zu kommen. Das rettende Dorf lag keine dreihundert Meter weit entfernt. Aber noch ehe er einen Schritt vorwärts tun konnte, hatte Borkas ihn bereits eingeholt und schnitt ihm den Weg ab. Er brachte sein Roß knapp vor Peter zum Stehen und stieg mit gezücktem Schwert ab. Peters Hand, die nach dem Schwertgriff suchte, griff ins Leere. Das Schwert Thalidon hatte sich beim Sturz gelöst und lag einige Meter hinter ihm im Gras. Auch den Zauberstab hatte er verloren. Er war völlig wehrlos.

»Sieh einer an! Das Blatt hat sich gewendet«, keuchte Borkas, der von der wilden Verfolgungsjagd noch ein wenig atemlos war. Er drängte Peter von seinem Schwert am Boden ab. »Ich fürchte, die Welt wird gleich um einen Möchtegern-König ärmer sein. Wie schade«, höhnte Borkas haßerfüllt. Er sann auf Rache für die Demütigung vor seinen Männern. Peter sah keinen Ausweg mehr. Er mußte Thalidon im Stich lassen. Verzweifelt fing er an um sein Leben zu laufen; Borkas hinterher. Aber Peter kam nicht weit. Eine starke Hand packte ihn an der Schulter und riß ihn zu Boden. »Sag’ der Welt ade!« rief Borkas und holte mit dem Schwert aus.

Seltsamerweise verspürte Peter gar keine Angst. Er wandte das Gesicht zu Seite und schloß die Augen. ›Das ist also das Ende. Arme Lisa!‹ war sein letzter Gedanke.

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