X. KAPITEL

Wiedervereint

 

Gegen sechs Uhr in der Frühe erwachte Peter durch ein lautes Summen und Brummen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß das störende Geräusch in seinem eigenen Kopfe beheimatet war. Mit geschlossenen Augen lauschte er eine Zeitlang in das kühle Dunkel. Das Brummen in seinem Kopf wurde etwas schwächer. Er hatte nicht die geringste Lust aufzustehen. Er rollte sich auf die Seite, lustlos und schlaftrunken. Erschrocken hielt er inne, als er unerwartet auf Widerstand stieß. Er stieß einen leises Schrei des Erschreckens aus, als er sich so plötzlich halb auf einem menschlichen Körper liegen sah — oder vielmehr spürte. Sehen konnte er freilich kaum etwas, da das einzige spärliche Licht durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln und durch die Bodenluke fiel.

Das menschliche Wesen war inzwischen seinerseits aus dem Schlafe geschreckt und wehrte sich mit einem heftigen Hieb gegen den vermeintlichen Angreifer.

Auf diese Weise kam es zu einem gelinden Handgemenge, in dessen Verlauf Peter seinen Gegner auf den Rücken zwang und indem er sich auf ihn setzte, jeder Bewegungsmöglichkeit beraubte. In barschem Tone herrschte er ihn an: »Wer bist du? Was tust du hier?« — Erstauntes Schweigen. — Dann erklang eine wohlbekannte Stimme: »Peter? Bist du es etwa?«

Kein Zweifel. Das war Alissandras Stimme!

»Alissandra! Wie kommst du hierher? Erschrocken wich er von ihr. Einen Atemzug später lagen sie sich in den Armen.

»Oh Lisa! Ich hatte solche Angst, dir könnte etwas schreckliches zugestoßen sein. In dabei war alles meine Schuld. Wenn ich in jener Nacht auf dich gehört und weniger ge…«

»Nein!« unterbrach sie ihn heftig. »Das ist nicht wahr. Du kannst nichts dafür. Ich habe nicht aufgepaßt und bin für einen Augenblick eingeschlafen.«

»Dann bist du mir also nicht böse?« fragte Peter zögernd.

»Aber nein, du Dummer! Wie könnte ich auch.« Er drückte sie noch fester an sich. Dann besann er sich aber und ließ sie langsam aus. Sein Ungestüm war ihm etwas peinlich. »Komm mit hinunter und laß’ dich anschauen«, sagte er und nahm sie sachte bei der Hand und führte sie nach der Öffnung im Boden.

Unten in der Stallgasse war es hell; die Sonne schien direkt durch die Fensteröffnungen an der Ostseite.

»Jöh! Da ist ja auch mein Mondilein!« rief sie entzückt und lief zu dem Schimmel, der schnuppernd seine Nase nach ihr reckte. Sie drückte und herzte die kleine Stute, welche nach alter Gewohnheit an ihren Taschen nach Leckerbissen stöberte.

»Gut siehst du aus. Ich muß sagen, Peter hat gut für dich gesorgt.«

Der genannte wirkte ein wenig verstimmt. »Ich finde es ja reizend mit welcher Anteilnahme du dich für das Wohlergehen dieses Tieres interessierst. Mir geht es übrigens auch gut.«

»Entschuldige, Peter. Das war nicht so gemeint«, sagte sie und wandte sich ihm zu. »Natürlich freue ich mich, daß es dir gut geht. Ein wenig blaß schaust du aus; und dünn bist du auch geworden. Du hast dich recht verändert.«

»Findest du?«

»Ja, du wirkst älter — ich meine, nicht wirklich älter, aber irgendwie ernsthafter.«

»Du hingegen hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist genau so hübsch wie immer« erwiderte Peter galant.

»Jetzt hör’ aber auf, du alter Schmeichler. Laß’ uns lieber ins Haus ‘nüber gehen. Ich möchte endlich etwas frühstücken. — Da fällt mir ein: Wo ist eigentlich Tamina. Ich habe sie noch gar nicht gesehen. Es geht ihr hoffentlich auch gut.«

»Ja, wir waren die ganze Zeit über zusammen und haben viel erlebt.« Sie gingen über den Hof ins Wirtshaus, wo bereits einige der Gäste beim Frühstück saßen. Peter führte Alissandra hinaus in Taminas Zimmer. Er pochte leise an die Tür und trat hinein. Tamina war bereits aufgestanden und im Begriffe ihr Haar zu bürsten.

»Sag mal, wo kommst du denn her? erst wolltest du nur einen kleinen Spaziergang machen und dann bleibst du die ganze Nacht fort«, rief sie. »Hast du etwa im Stall geschlafen?« Peter sah an sich herab und merkte, daß er einige Halme in Haar und Kleidung hängen hatte, die er sorgfältig entfernte. »Es tut mir leid, aber ich war sehr müde und muß auch ein klein wenig über den Durst getrunken haben. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht, mir könnte etwas zugestoßen sein.«

»Nein, ich habe geschlafen — gut geschlafen.«

»Ach? — Ist ja auch egal. Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Da schau her!« Er stieß die Tür, die er angelehnt hatte, weit auf und zog Alissandra herein.

»Das ist doch…« hauchte Tamina und setzte sich auf das Bett. Sogleich sprang sie aber in die Höhe und lief Alissandra entgegen. Die beiden Mädchen umarmten sich und drückten sich die Hände. »Ich bin so froh, daß ich euch hier antreffe, gesund und wohlbehalten. Hast du gut auf mein Peterchen aufgepaßt? Hat er sich gut benommen und keinen Unsinn angestellt?« Ein dumpfes Grollen und aberwitziges Grimassenschneiden seitens des »Peterchens« wurde höflich ignoriert. Tamina riskierte nur einen lachenden Seitenblick auf den Blitze sprühenden Peter und sprach: »Eigentlich hat er auf mich aufgepaßt. Du kannst stolz auf ihn sein. Er hat sich wie ein Held benommen. Ach, es gibt so viel zu erzählen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Warte damit noch eine Weile bis zum Frühstück. Ich möchte euch übrigens noch jemanden vorstellen. — Nur Geduld, ihr werdet’s gleich sehen«, sagte Alissandra als Erwiderung auf zwei fragende Gesichter. Sie führte die beiden ein Stockwerk höher zu Wilos Zimmer. Sie klopfte energisch an das Holz und stieß ohne eine Antwort abzuwarten die Tür auf.

Vom Bette her tönte eine schläfrige Stimme: »Wer stört mich den mitten in der Nacht? Bist du das etwa Alissandra?« Zwischen Kissen und Laken erschien ein zerknitterter Wilo. Er rieb sich mit beiden Händen die Augen, um klarer sehen zu können. Derweil trat Alissandra zum Fenster und stieß die geschlossenen Läden auf, damit die frische Morgensonne hereinscheine. Wilo hatte Peter und Tamina entdeckt und fragte: »Wer ist denn das?«

»Das sind meine Freunde, die ich bei den »Bienenkörben« treffen wollte. Ich habe dir von ihnen erzählt«, sagte Alissandra.

»Und wer ist der da?« fragte Peter. Wilo stellte sich vor.

»Ich nenne ihn Wilo. Er wollte mich dem Gouverneur von Carlan abliefern, um die tausend Goldtaler, die Regent auf mich ausgesetzt hat, einzukassieren«, sagte Alissandra fröhlich. Wilo schien von dieser Formulierung des Sachverhaltes nicht sonderlich erbaut. Noch weniger war es Peter, der mit grimmiger Miene sagte: »Ach einer von dieser Sorte. Und was hast du mit so einem Schnapphahn zu schaffen?«

»Nein, Peter. Wilo ist kein Schnapphahn. Er hat es ja nur vorgehabt und nicht getan. Er war halt in ziemlichen Schwierigkeiten und brauchte dringend das Geld.«

»Alissandra! Was redest du da? Wie kannst du ein solches Subjekt in Schutz nehmen; einen gemeinen Straßenräuber. So einer gehört doch eingesperrt.« Peter war außer sich. Wilo der bei Peters nicht gerade freundlichen Worten aus dem Bette gesprungen war, hatte sich drohend vor ihm aufgestellt. Bei Wilos Anblick wurde Peters Zorn gleich merklich abgekühlt. Wilo war fast einen Kopf größer als Peter und auch ein gutes Stück breiter.

»Jetzt hör mal zu, mein Junge. Ich mag vielleicht nicht gerade ein Vorbild an Tugendhaftigkeit sein und ich habe auch den einen oder anderen Fehler begangen, aber das gibt dir nicht das Recht, in diesem Tone von mir zu sprechen. Für wen hältst du dich eigentlich? Wenn jemand über meine Tat urteilen kann, dann ist das am ehesten Alissandra. Von dir lasse ich mir schon gar nichts sagen, du Grünschnabel. Ich sage dir eins: Wenn du nicht Alissandras Freund wärst, dann würde ich dir den Hosenboden stramm ziehen.«

Das war zu viel für Peters Geduld. Rot vor Zorn rief er: »Wer ich bin? Ich bin der designierte Herrscher von Arkanien. Und du bist mir Respekt und Subordination schuldig.«

»Was? Der Kleine ist wohl übergeschnappt. Ich muß sagen, du hast aber seltsame Freunde, Alissandra.«

»Was fällt dir ein? Ich — oh — ich verlange Satisfaktion! Sofort, hier auf der Stelle. Alissandra, wo ist mein Schwert?«

»Peter! Sei doch vernünftig. Du weißt nicht, was du tust…« vergeblich versuchte Alissandra den Zürnenden zu beschwichtigen.

»Ein Schwert verlangt er!« spottete Wilo laut auflachend. »Das ist zu komisch. Da wäre ja das Schwert größer als der ganze Kerl. Nein, ich schlage mich nicht mit Kindern.« Die beiden Mädchen hatten alle Hände voll zu tun, Peter davon abzuhalten, Wilo an die Gurgel zu springen.

»Du hast wohl Angst, gegen mich anzutreten? Bist am Ende gar ein Hasenfuß? Viel große Worte und nichts dahinter?« Mit derlei Sprüchen geriet Peter an die falsche Adresse.

»Na schön, wie du willst. Wir treffen uns in zehn Minuten hinter der Scheune.« Zu Alissandra sagte er: »Es ist besser du bestellst schon mal den Arzt und besorgst Verbandszeug für den Spinner.«

Mit Engelszungen redeten die Mädchen auf die beiden Kontrahenten ein, allein es half alles nichts. Peter bestand auf dem Duell und Wilo dachte nicht daran, die Herausforderung abzulehnen. Nicht einmal die eindringliche Warnung vor Wilos Fechtkünsten und das abschreckende Beispiel von Alissandras eigenen schmerzhaften Erfahrung damit, brachte Peter von seinem wahnsinnigen Plan ab. Er blieb starrköpfig und unbelehrbar. Alissandra begann ernsthaft um sein Leben und seine Gesundheit zu fürchten. Nur Tamina war davon überzeugt, daß Peter siegreich aus der Begegnung hervorgehen werde. Wilo würde schon sehen, was er davon habe, sich mit Peter anzulegen. Alissandra blieb also nichts anderes übrig, als Peter widerstrebend das goldene Schwert auszuhändigen.

»Hier ist es. Tu, was du nicht lassen kannst.« Sie wandte sich abrupt ab und lief hinaus. Tamina blieb bei Peter und redete ihm zu.

Als die beiden über den Hof zu Scheune gingen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Bald würden die anderen Gäste herauskommen, um ihren Geschäften nachzugehen, ihre Pferde zu holen usw. Wenn sie also unnötiges Aufsehen vermeiden wollten, würden sich die beiden Streithähne beeilen müssen. Noch war es recht kühl, doch hiervon bemerkte Peter nichts. Innerlich glühte er vor Spannung. Dies würde sein erster richtiger Kampf werden. Ein wenig flau im Magen war ihm schon, denn bislang hatte er das Zauberschwert — wenn es denn wirklich eins war — noch nie ausprobieren können. Würde er damit wirklich unbesiegbar sein, oder würde ihn dieser Kerl einfach in Stücke hauen?

Als er aber die golden schimmernde Klinge aus der Scheide zog, und sah, wie sich das Sonnenlicht gleißend in ihr brach, als er den hellen Klang des Metalls vernahm, da war ihm als führe ein Blitz neuen Mutes, von Kraft und Energie durch seinen Leib. Fasziniert starrte er auf das blitzende Funkeln des polierten Metalls. Es schien ihm fast, als leuchte das Schwert heller als die am Himmel stehende Sonne. Mit einem Ausdruck von Scheu und sprachloser Bewunderung stand Tamina neben ihm. Sie wagte kein Wort zu sprechen. Unbeweglich verharrte sie den Blick auf Peter fixiert. Jener machte einen unauslöschlichen Eindruck auf sie. In diesem Augenblick, als er den Arm mit dem Schwert in die Höhe streckte und sich die Glut der Morgensonne mit der seines Antlitzes mischte, sah er aus wie ein wunderschöner, unbesiegbarer Held. Das Leuchten in seinen Augen schien mit dem Glanze des Schwertes zu wetteifern. Tamina konnte förmlich sehen, wie die Kraft des Schwertes auf ihn überging. Das alles dauerte nur einen Augenblick. Dann war der Zauber gebrochen. Peter, das Schwert, alles sah aus wie vorher. Ihr Blick fiel auf Alissandra, die in einiger Entfernung von ihnen stehen geblieben war. Ihre Augen verrieten, daß sie das selbe gesehen und gedacht haben mußte, wie sie.

Noch ehe eine der beiden etwas sagen konnte, vernahmen sie bereits die Schritte Wilos, der sich ihnen im Laufschritt näherte. Wilo machte einen forschen, zuversichtlichen Eindruck. Er warf im Vorübergehen eine kurzen Blick auf Alissandra, die mit zusammengepreßten Lippen an der Ecke der Scheune stand und keine Anstalten machte, näher zu kommen. Sie hatte große Angst, daß Peter etwas zustoßen könnte, daß er verletzt würde, vielleicht sogar getötet. — Nein, das durfte einfach nicht geschehen. Sie schob diesen Gedanken beiseite. Wilo war ein guter Fechter, er würde vorsichtig sein, so wie bei ihr; und vielleicht hätte das alte Schwert wirklich irgendwelche Kräfte, die Peter beschützen. Am Ende wäre es vielleicht gar nicht einmal so schlecht, wenn er die Folgen seiner Großspurigkeit am eigenen Leib erführe.

Die beiden Kontrahenten standen einander gegenüber. Beide trugen ihre blanken Waffen. Wilo hielt seinen Degen und Peter das große Schwert in beiden Händen.

Normalerweise wäre es ein sehr ungleicher Kampf, da der Degen eine verhältnismäßig leichte und sehr wendige Stichwaffe ist, die vor allem mit dem Unterarm und dem Handgelenk geführt wird; während das Schwert eine sehr wuchtige und zerstörerische Hiebwaffe ist, welche den Einsatz des ganzen Armes verlangt und auf Grund ihres Gewichtes viel langsamere und schwerfälligere Bewegungen erzwang.

Nachdem alles geklärt und die beiden Kämpfer über die regeln aufgeklärt waren, gab Tamina das Zeichen zum Beginn. Peter führte des ersten etwas ungeschickten Streich, dem Wilo leicht auswich. Der Gegenschlag folge unmittelbar, und zwar so schnell, daß Peter ihn kaum sah. Trotzdem parierte er ihn mühelos. Oder richtiger gesagt, parierte ihn das Schwert mühelos, denn Peter hatte den Eindruck, daß nicht er kämpfte, sondern das Schwert von ganz allein und sein Arm nur eine Verlängerung der Schwertklinge war. Von da an wußte Peter kaum noch, wie ihm geschah. Das Zauberschwert führte eine Art von Eigenleben. Wilo war völlig überrascht, um nicht zu sagen, schockiert. So etwas hatte er noch nie erlebt. Was immer er an Geschicklichkeit und Technik aufbot, Peter war im voraus. Einen jeden Hieb, einen jeden Stich Wilos parierte er ohne die mindeste sichtbare Anstrengung. Trotzdem biß er tapfer die Zähne zusammen und versuchte jeden Angriff geschwinder, jeden Streich plötzlicher, jede Finte einfallsreicher zu führen — doch alles vergeblich. Peter parierte mühelos jeden Streich. Auf Wilos Stirn perlten Schweißtropfen, sein Atem ging mühsam und stoßweise. Das siegessichere Grinsen auf seinem Gesichte war einem Ausdruck verbissener Anstrengung gewichen. So sehr er sich auch Mühe gab, es gelang ihm kein einziges Mal, Peters Deckung zu durchbrechen. Schwer atmend setzte er seine Angriffe für zwei, drei Sekunden aus. Überlegen grinsend gewährte Peter ihm die dringend benötigte Verschnaufpause. Dann ging er zum Angriff über. Das Schwert unterlief Wilos Parade und traf ihn mit der Breitseite am linken Arm. Wilo biß sich vor Schmerz auf die Lippen, gab aber keinen Laut von sich. Patsch! Ein weiterer schmerzvoller Treffer ging auf Peters Konto. Wilos Gesicht war völlig verzerrt. Das Haar stand in wirren Strähnen von seinem Kopfe ab. Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade erlebte. Als Peters Klinge zum dritten Male ihr Ziel fand, hätte er beinahe aufgeschrien. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt. Aber Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Das war aber auch nicht nötig, denn Peter beendete gnädig den Kampf — kurz und schmerzlos. Mit einem kurzen, wohlgezielten Hieb des Schwertes entwand er den Degen Wilos Hand. Die Waffe flog durch die Luft und prallte scheppernd an die Wand der Scheune.

Fassungslos und heftig keuchend starrte Wilo auf die blanke Waffe, die zu seinen Füßen lag. Er hatte den Kampf schmachvoll verloren, ohne auch nur einen einzigen Punkt für sich errungen zu haben. Sprachlos waren auch Tamina und Alissandra. Letztere konnte einfach nicht glauben, wessen sie gerade Zeuge geworden war. Mit offenem Munde blickte sie von dem einen zum anderen.

Tamina war begeistert. Grenzenlose Bewunderung lag in den Blicken, die sie Peter zuwarf. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals Gefallen. (Vielleicht hätte sie es sogar getan, wenn nicht Alissandra gerade hinzugetreten wäre.) Peter selbst stand unbeweglich das, das Schwert lässig über die Schulter gelegt. Seine Miene schien unbewegt. Wer genau hinsah, dem blieb das Funkeln in seinen Augen und das rasiermesserscharfe triumphierende Grinsen um die Mundwinkel nicht verborgen.

Wilo war sichtlich bemüht, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »Wer bist du wirklich?« fragte er noch ganz außer Atem und forschte in Peters Gesicht nach einer Antwort. Peter sagte es ihm. Wilo sank auf die Knie und sprach: »Ich hätte es ahnen müssen. Ihr seid wirklich mein Herr und König, mein Schwert und mein Arm gehören Euch. Ich bitte Euch um Vergebung für meine unbedachten und respektlosen Worte.«

»Steh auf! Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Ich war es, der unverschämte Dinge sagte. Ich hatte kein Recht, dich so zu beschimpfen.« Er trat auf Wilo zu und streckte ihm die rechte entgegen. »Laß uns Freunde sein; und nenn’ mich bloß nicht Majestät oder Herr — wenigstens nicht bis ich wirklich auf dem Throne sitze.« Wilo ergriff die ausgestreckte Hand und drückte sie fest.

»Na, dann wär’ ja alles abgemacht. Laßt uns jetzt endlich zum Frühstücken gehen. Ich sterbe fast vor Hunger«, rief Tamina lachend. Alissandra schnaubte und warf den Kopf in den Nacken zurück, wie ein unwilliges Füllen. Wortlos lief sie zurück ins Haus, ohne sich nach den anderen umzudrehen.

»Was hat die denn?« fragte Tamina erschrocken. Peter meinte mit einem Blick auf Wilo: »Laß nur. Ich glaub’ ich weiß, was ihr fehlt.«

Wenig später saßen die vier vor einem randvoll gedeckten Frühstückstisch. Der Kampf hatte nicht nur die beiden Streithähne sondern auch die Zuschauer hungrig gemacht; und so langten alle kräftig zu, bis von dem leckeren essen nur noch einige Krumen auf der Tischdecke übrig waren.

Nachdem sie sich gestärkt hatten, beschlossen sie, ohne weitere Verzögerung die Weiterreise anzutreten. Das sie nur über drei Pferde verfügten und ihre Mittel es nicht gestatteten, ein weiteres zu erstehen, würden sie nicht sehr rasch vorwärts kommen, da immer einer von ihnen abwechselnd zu Fuß gehen mußte. Das war aber nicht so wichtig, denn zunächst mußten sie erst einmal in Erfahrung bringen, wohin die reise zu führen hatte. Alissandra hatte ihren ehemaligen Hofmeister seit über eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen, noch etwas von ihm gehört. Sie wußte nur, daß er irgendwo in der Nähe von Carlan wohnte. Wo genau sich sein Haus befand, war allerdings ein Rätsel. Eine vage Hoffnung bestand aber darin, daß ein Verwandter von ihr etwa eine Tagesreise von Carlan entfernt lebte und vielleicht etwas über Callidons Aufenthaltsort sagen könnte. Falls nicht, so würde es ein schier aussichtsloses Unterfangen werden, in dem ziemlich dicht besiedelten Umland von Carlan einen zurückgezogen lebenden alten Mann zu finden, der sich überdies noch wegen seiner kritischen Gesinnung vor der Obrigkeit zu verbergen hatte.

»Ich bin sicher, daß mein Onkel Arlin weiß, wo Callidon sich versteckt hält. Die beiden haben sich immer gut verstanden und haben einander oft lange Briefe geschrieben«, meinte Alissandra zuversichtlich.

Peter war eher skeptisch: »Na hoffentlich hast du recht, sonst können wir eine Nadel im Heuhaufen suchen!«

Die Reise schien endlos zu dauern, so kam es Peter vor. Während sie marschierten oder abwechselnd ritten, sprachen sie wenig miteinander. Irgend etwas war anders, seit Wilo zu ihnen gestoßen war. Peter konnte es nicht genau beschreiben, aber er fühlte deutlich, daß das Verhältnis zwischen ihm und Alissandra gespannter war als zuvor. Gewiß, sie hatten sich eigentlich von Anfang an fast immer gestritten. Aber das war nicht so ernst gemeint und hatte auch andere Ursachen. Jetzt aber hatte er den Eindruck, als habe sich ein unbekanntes, unbestimmbares Etwas zwischen sie geschoben. Dieses Etwas brauchte nicht unbedingt Wilo zu heißen. Zwar war Peter schon den ganzen Tag über aufgefallen, mit welchen Blicken er nach ihm starrte. Die eigentliche Ursache seines Mißbehagens schien jedoch eher in Alissandra selber zu liegen. Wilo bemühte sich, Peter gegenüber freundlich und hilfsbereit zu sein, obgleich ihn das zuweilen recht schwer fiel. Peter machte es ihm aber auch nicht besonders leicht, höflich zu sein, denn er würdigte den jungen Mann kaum eines Blickes, geschweige daß er während der ganzen Zeit mehr als drei, vier Sätze mit ihm gewechselt hätte. Peter sagte nichts gegen Wilo, aber seine Blicke ließen ihn deutlich seine Mißbilligung spüren.

Tamina wiederum konnte es den ganzen Tag über keinem recht machen. Sie merkte wohl, daß etwas in der Luft lag. So sehr sie sich aber bemühte, durch harmlose Gespräche und kleine Scherze die Stimmung aufzulockern, half es doch alles nichts: Peter blieb einsilbig und Alissandra war verschlossener denn je.

Am späteren Nachmittag tauchte auf einer Bergkuppe einige Meilen voraus eine düster wirkende Burg auf, die inmitten eines kleinen bewaldeten Hügels zu liegen schien. Beim Herannahen entpuppte sich der »kleine Hügel« allerdings als ein ziemlich steiler Berg, den es auf einem schmalen, zu Teil schlecht befestigten Pfad in unzähligen Windungen zu erklimmen galt.

Kaum berührte die Sonne den westlichen Horizont, das waren sie auch schon an ihrem Ziel angelangt. Hinter einer Biegung des Weges hörte der Mischwald unvermittelt auf, und direkt vor ihnen präsentierten sich die ersten Häuser, die zum Schlo0 gehörten. Es handelte sich um eine ganze Anzahl mehr oder minder großer, strohgedeckter Wirtschaftsgebäude mit dahinter liegenden Obst- und Weingärten. Letztere erstreckten sich über einen großen Teil des Ost- und den ganzen Südhang, die ein gutes Stück steiler waren, als der westliche, den sie erklimmen mußten. Jedoch wurde die Steilheit des Geländes durch mehrere terrassenförmig übereinander angeordnete Ebenen gemildert, was besonders zu der Zeit der großen Regenfälle — die im südlichen Arkanien zwar eher selten, dafür aber um so heftiger sind — die Bodenerosion stark verminderte.

Die Gebäude lagen noch außerhalb der Burganlage, die in einiger Entfernung steil und schroff emporragten. Die Burg selber machte aus der Nähe betrachtet keinen sehr bedrohlichen Eindruck mehr. Aus der Entfernung und bei entsprechendem Licht aber wirkte der graue Fels, aus welchem die meterdicken Mauern bestanden, sehr düster und unheimlich.

Das Burgtor stand weit offen, die Zugbrücke, die den von allerlei Unkraut überwucherten Graben überspannte, schien seit vielen Jahren nicht mehr hochgezogen worden zu sein. Die Schilderhäuschen zu beiden Seiten des Tores waren leer. Der Zwinger glich mehr einem Blumengarten und mußte im Sommer bestimmt ein sehr angenehmer Aufenthaltsort sein.

Als die Reisenden in den Hof kamen, liefen ihnen sogleich einige Knaben entgegen, die ihnen die Pferde abnahmen, um sie nach den nahe gelegenen Stallungen zu führen.

Der Burghof war sind besonders groß und sah etwa so aus, wie man sich einen solchen Ort vorzustellen pflegt. Auffallend war einzig, daß die Burg im Laufe der Zeit mehrmals umgebaut und modernisiert worden war. So führten jetzt zahlreiche Fenster und Balkone auf den Hof, was bestimmt nicht der Absicht der ursprünglichen erbauen entsprochen hatte. Auch waren die Mauern auf der Hofseite verputzt und weiß getüncht, was dem Ganzen ein sauberes und fast heiteres Aussehen verlieh.

In diesem Augenblick tat sich eine Tür auf und heraus trat ein alter weißhaariger Bedienter in einer Art von rot-brauner Uniform, die mit dem Gräflichen Wappen der Herren von Waldenfels geschmückt war; so nämlich hieß auch die Burg von Alissandras Oheim, dem Grafen Arlin von Waldenfels.

Kaum hatte der Alte Alissandra erblickt, da hellte sich sein gefurchtes Gesicht freudig auf und er rief mit dünner Stimme: »Ist es die Möglichkeit! das Fräulein Alissandra. Das wird eine frohe Überraschung werden, für die Herrschaft.« Es folgte eine ganze Reihe von freudig-erregten Begrüßungen und herzlichen Willkommensbezeugungen. Hierauf führte er sie in die Empfangshalle der Burg. Während sich die jungen Leute in dem weitläufigen, holzverkleideten Saale mit den zahlreichen Portraits der Ahnen und den verblichenen Wappenschildern vergangener Generationen an den Wänden, umsahen, eilte der Diener seine Herrschaft zu unterrichten.

Bald darauf konnte man eilige Fußtritte vernehmen, die sich rasch näherten.

Herein traten ein älterer Herr mit silbergrauem Haar und Schnurrbart. An seiner Kleidung erkannte man den Schloßherren. Aus seinem strahlenden Antlitz sprach die Verwandtschaft zu Alissandras Vater. Peter wußte sofort, daß es sich um den älteren Bruder handelte.

Der Mann lief auf Alissandra zu und schloß sie in seine Arme. Sie schlang die ihren um seinen Hals und küßte ihn auf beide Wangen. Hinter dem Hausherrn drängte sich eine schlanke, gut aussehende, elegant gekleidete Dame hervor, gefolgt von einer Schar Diener und Lakaien. Die schöne Dame, der man die fünfzig Jahre keineswegs ansah, war die Tante Jolina. Auch mit ihr vollzog sich die bekannte herzliche Begrüßungszeremonie. Man sah gleich, daß die beiden für Alissandra mehr als nur entfernte Verwandte waren, denen man gelegentlich einen Höflichkeitsbesuch abzustatten pflegte.

Nach der ersten Begrüßung, mit ihren tausend Fragen nach dem gegenseitigen Befinden und Wohlergehen, wurden Tamina, Wilo und Peter der reihe nach vorgestellt.

Es zeigte sich, daß Onkel Arlin über alles bestens unterrichtet war. Trotz der scheinbaren Weltabgeschiedenheit seiner Burg, verfügte er über ausgezeichnete Verbindungen im ganzen Lande.

»Alissandra, Liebes! Du brauchst vor dem Tyrannen keine Angst mehr zu haben. Hier bist du sicher. Aus meiner Burg bekommt dich niemand gegen deinen Willen heraus. Ich werde gleich dafür sorgen, daß man sich hier für eine Belagerung wappnet. — Mag der Regent nur kommen, mit allen seinen schwarzen Schatten; an diesen Mauern wird er sich die Zähne ausbeißen.« Zu Peter gewandt sprach er: »Und Ihr, junger Prinz! Seid standhaft, tapfer und entschlossen! Ich fühle — nein, ich weiß, das du Erfolg haben wirst. — Frage mich nicht nach dem wie? und warum? — Ich weiß es einfach. Ach, wäre ich doch noch einmal so jung! Man brächte mir Roß und Schwert, so zöge ich selber nach der Hauptstadt. — —« In seinen Augen funkelte eine wilde, jugendliche Entschlossenheit. Peter mußte im Stillen lächeln. Solche Temperamentsausbrüche kannte er von Alissandra. Nachdem er ihren Vater als einen ruhigen, besonnenen, zuweilen auch ein wenig zaghaften Mann hatte kennen lernen, wußte er jetzt, von welcher Seite der Verwandtschaft Alissandra ihr heißes Blut geerbt hatte.

»Arlin, beruhige dich. Du sollst dich nicht so aufregen. Du weißt, das schlägt dir immer auf den Magen.« Jolina versuchte ihren Mann zu beruhigen. Dieser aber schüttelte sie unwirsch ab: »Ihr Frauen könnt einfach nicht begreifen, daß es Dinge gibt, die wichtiger sind, als das bißchen Magenbrennen und über die man sich einfach aufregen muß. Oder findest du es nicht aufregend, wenn ein hergelaufener Emporkömmling unser schönes Land verheert und überall mit seinen Soldaten und anderem Gesindel Furcht und Schrecken verbreitet. Wenn den Bauern das Vieh und die Ernte geraubt wird; wenn ein jeder von Steuern und Abgaben gedrückt wird, daß es kaum für sein täglich’ Brot langt. Handel und Gewerbe liegen darnieder. In den Lagerhäusern verhungern sogar die Mäuse. Aber einer wird immer reicher. Seine Truhen füllen sich zusehends mit unserem Geld. In seinen Speichern türmen sich die Vorräte. An seiner Tafel speisen Hunderte von Handlangern und Schmarotzern. Wagt es aber einer, zu widerstehen, sich dem Druck von Herrschaft und Gewalt nicht zu beugen, wehe ihm! Nachts brennt sein Haus, stirbt sein Vieh im Stall, ziehen schwarze Reiter und Mordbrenner durch das Land, Tod und Zerstörung hinter sich zurück lassend. Niemand weiß, woher sie kommen; niemand weiß, wohin sie gehen. Keiner kennt ihre Gesichter — falls sie überhaupt welche haben. Es ist, als öffneten sich die Tore zur Unterwelt, ja manche glauben sogar, daß der Teufel selber mit ihnen reitet. — Du wirst es nicht leicht haben, mein junger Freund. Aber denke stets daran: Wo immer sich finstre Mächte zum Bösen Zwecke verschwören, gibt es irgendwo auch gute Mächte, die sich schützend zum Trutze vereinigen. — So, jetzt habe ich tatsächlich Magenschmerzen. Ich muß mich ein wenig entspannen gehen.«

»Ja, und ich darf ihn dann wieder gesund pflegen«, meinte Jolina mit einem vorwurfsvollen Lächeln. Sie nahm ihren Mann bei der Hand und führte ihn nach seinen Gemächern. Bevor sie den Saal verließ, gab sie den Dienern die Anweisung, ihre jungen Gäste wohl unterzubringen und sie mit allem zu versorgen.

Die Burg Waldenfels war, was die Zahl der Räume betraf, nicht so groß wie das Schloß von Alissandras Eltern. Sie wirkte aber im Innern viel weitläufiger, da sie bedeutend älter und verwinkelter war. Unzählige Treppen, Stiegen, Gänge und Gemächer bildeten für den Unkundigen ein wahres Labyrinth.

Die Räume selber strahlten eine Atmosphäre behäbiger Gemütlichkeit aus. Es gab viel Holz und Schnitzwerk, antike Wandteppiche und kunstreich bemalte Decken und Wandleisten. Die Fenster waren klein und bestanden zum Teil aus schönen, buntfarbigen in Blei gefaßten Bildern. Geheizt wurde fast ausschließlich mittels offener Kamine. Das war aber angesichts des milden Klimas in der Provinz Carlan kein Problem. So hatte Peter sich schon immer eine richtige Ritterburg vorgestellt. Das Parkschloß von Antal war natürlich viel moderner, weitläufiger, heller und eleganter. Es gab große Fenster, die viel Licht hereinließen, feine Tapeten, Teppiche und saubere Kachelöfen. Jenen Komfort konnte die Burg Waldenfels freilich nicht bieten. Dies mochte nicht zuletzt an der Mentalität des Hausherrn liegen.

Wie Peter einigen Andeutungen Alissandras entnehmen konnte, war das Verhältnis zwischen den Brüdern nicht gut. Vor vielen Jahren hatten sie sich im streite getrennt, worauf Arlin in das alte Stammhaus nach Waldenfels zurückgekehrt war, während Alissandras Vater in Antal ein neues modernes Schloß errichten ließ, welches gänzlich dem aktuellen Zeitgeschmack entsprach. Worüber sich die Brüder entzweit hatten, hatte Peter nicht in Erfahrung bringen können. Über dieses Thema schien man in der Familie nicht gern zu sprechen und Peter wollte nicht weiter in Alissandra dringen. Er sollte ohnehin bald alles erfahren.

Nachdem sich die vier jungen Leute erfrischt und ausgeruht hatten, blieb noch etwas Zeit bis zum Abendessen, welche ein jeder für sich allein verbrachte. Alissandra saß bei der Tante, die sehr neugierig war, die Erlebnisse und Abenteuer ihrer Nichte zu erfahren.

Wilo interessierte mehr die Waffensammlung und ein ganz besonderes Interesse brachte er dem Weinkeller entgegen.

Peter und Tamina schließlich zog es in die Bibliothek. Letztere war besonders erpicht darauf, jenen geheimnisvollen Ort, den sie nur vom Hörensagen kannte, mit eigenen Augen zu bestaunen. Es waren weniger die Bücher selber, welche sie interessierten, als vielmehr der Gedanke, daß es einen Ort gäbe, wo man das Wissen und die Erfahrung vieler Generationen gleichsam mit Händen greifen konnte.

Die Bibliothek befand sich in einem großen hohen Saale, der zugleich auch den Zweck eines Bilderkabinetts erfüllte. Tagsüber mußte der Raum einen hellen, freundlichen Eindruck machen, denn die Fenster waren nachträglich vergrößert worden und reichten bis fast an die Decke. Jetzt am Abend freilich wirkte der Raum eher unheimlich. Das Licht der wenigen Kerzen verlor sich in der Weite des Landes und der flackernde Schein eines kleinen Kaminfeuers tat ein Weiteres zur Förderung jener Atmosphäre. Was die Bücher anbelangt, so mußte Peter enttäuscht feststellen, daß diese Bücherei nur einen Bruchteil dessen darstellte, was er in Antal gesehen hatte. Es mochten insgesamt nicht einmal tausend Bände sein, die in drei hohen Schränken untergebracht waren.

Es waren hohe Eichenschränke mit kleinen runden und eckigen, bleigefaßten Glasscheiben, in den Türen. Die Bände, welche sich hinter den schweren Türen verbargen, waren ziemlich alt und dick. Peter versuchte die verblaßten Titel auf den vom Alter brüchig gewordenen Lederrücken zu entziffern. Aber kaum einer der Bände konnte sein Interesse wecken.

Ganz anders bei Tamina. Sie war von dem Anblick der Bücher geradezu verzückt und verlangte, daß Peter die Schränke öffnete. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viele Bücher gesehen. Sie kannte vielleicht ein gutes Dutzend Bücher aus der Schule und von Zuhause. Das lag allerdings nicht etwa daran, daß sie nicht richtig lesen konnte — im Gegenteil. Das Schulsystem in Arkanien war vielleicht nicht so gut, wie bei uns, doch gab es kaum Kinder, die wenigstens die Ausbildung einer Grundschule genossen. Auch kannte man die Druckerpresse. Aber ohne die Hilfe der Elektrizität oder Dampfkraft war die Herstellung von Büchern sehr aufwendig und kostspielig, und ihr Besitz somit nur einer relativ kleinen Schichte vorbehalten.

Einen um den anderen der staubichten Bände mußte Peter aus den Regalen ziehen und nicht selten waren gerade die auf den obersten Brettern stehenden Folianten für Tamina die interessantesten. Ehrfürchtig schlug sie die vergilbten Seiten auf, schnupperte vorsichtig den Duft vergangener Tage und betrachtete fasziniert die kunstvollen Holzschnitte und farbigen Illuminationen.

»Peter, sie dir nur das hier an! Ist das nicht märchenhaft? So habe ich es mir immer vorgestellt. Und — Oh! — Diese Bücherei ist ja hundertmal größer, als diese hier.« Peter wunderte sich. »Was hast du denn da aufgestöbert?« Er beugte sich über ihre Schulter. Tamina hatte eine reich bebilderte Chronik der arkanischen Könige und Herrscher entdeckt. Sie hielt gerade das Kapitel aufgeschlagen, welches dem Königspalaste in Caliban, der alten Hauptstadt Arkaniens, gewidmet war. Wie gebannt starrte Peter auf die Zeichnungen des weitläufigen, vieltürmigen Palastes mit der mächtigen goldenen Kuppel und der gewaltigen Eingangstreppe, die von zwei riesigen steinernen Löwen eingesäumt wurde, welche als ewige Wächter das Hauptportal hüteten. Er sah die prächtigen Säle mit den Spiegeln und funkelnden Leuchtern, die Bibliothek, die so groß war, das sich zwei Galerien an ihren Wänden entlang zogen. Bangen Herzens fragte er sich, ob er tatsächlich eines Tages in dem prächtigen Palaste wohnen und herrschen würde.

Tamina blätterte weiter, was ihr gar nicht leicht fiel, denn das Buch war riesengroß und schwer und ließ sich kaum mit einer Hand festhalten. »Was ist das?« fragte Peter, dem ein Bild besonders aufgefallen war. Er beugte sich weiter nach vorn über Taminens Schulter und deutete mit dem Zeigefinger auf ein herausstechendes Gebäude in der Nähe des Palastes.

»Meinst du die Marställe?«

»Nein, dies hier.« Er versuchte mit der linken Hand Taminens üppiges blondes Haar etwas zu bändigen, welches ihm nicht nur in der Nase kitzelte, sondern auch die Sicht behinderte.

»Das ist die Gruft, wo König Brunnar der Starke…« Ein Schnauben hinter ihrem Rücken unterbrach sie.

Alissandra stand in der Tür. »Ich wollte euch nicht stören. Wie ich sehe seid ihr gerade beschäftigt. Ich sollte euch nur bestellen, daß im kleinen Speisesaal angerichtet ist.« — Rumms! flog die Tür ins Schloß. Peter und Tamina starrten einander entgeistert an. Was hatte Alissandra jetzt wieder?

»Sie wird doch nicht etwa gedacht haben, daß…« Peter schüttelte den Kopf. Ein roter Schimmer flog über Taminens Gesicht. Dann wandte sie rasch den Blick ab und verstaute das Buch an seinem Platze, während Peter sie Kerzen löschte.

Der kleine Speisesaal war nicht besonders klein, wie Peter fand. Eine lange Tafel, an welcher gut ein Dutzend Personen Platz fanden, stand in der Mitte des Raumes. An der Längsseite verstrahlte ein gewaltiges Kaminfeuer wohlige Wärme. Der Tisch war mit schweren weißen Tüchern gedeckt. Teller aus Zinn und silbernes Besteckt und Kelche, sowie kunstvoll gestaltete Platten und Leuchter bildeten das rustikale Gedeck. Bunte Sträuße der ersten Frühjahrsblumen lobten die tüchtige Hausfrau. An den Enden der Tafel nahmen die Gastgerber Platz. An der einen Seite saßen Alissandra, Peter, Tamina und Wilo, sowie ein bleiches, hochgewachsenes Mädchen, das sich als eine entfernte Cousine Alissandras, die auf Besuch weilte, herausstellte. Ihnen gegenüber nahmen einige Herrschaften des Hofstaates, darunter ein schlanker junger Mann mit fuchsrotem Haar und einer runden Zwickerbrille auf der Nase. Er war der Privatsekretär des Grafen; ein talentierter, vielversprechender Bursche, dem gewiß eine glänzende Zukunft bevorstand, wie Onkel Arlin mit einem Blick auf die Base vergnügt bemerkte.

Der junge Mann, der die Base die ganze Zeit schon über den Rand seiner Brille angeschaut hatte, errötete und griff rasch nach dem Weinkrug.

Die Unterhaltung lief leicht und flüssig. Ein jeder bemühte sich, brisante Themen, wie Politik, den Regenten, die Gefahr eines bevorstehenden Krieges und ähnliches, nicht anzuschneiden, und so genoß ein jeder der köstlichen Speisen und würzigen Weine, welche auf silbernen Platten und fein verzierten Porzellanschüsseln dargereicht wurden.

Man konnte sehen, daß Graf Arlin eine weitaus glücklichere Hand in Geldangelegenheiten hatte, als sein jüngerer Bruder. Aber vielleicht lag das auch daran, daß Waldenfels weiter von der Hauptstadt entfernt lag, und man hier der Willkür des Regenten und dessen Steuereintreibern weniger unmittelbar ausgeliefert war, als in Alt-Arkanien.

Die Mahlzeit dauerte der Förmlichkeiten und der Vielzahl der aufgetragen Gänge wegen fast zwei Stunden. Für Peter, der zwischen Tamina und Alissandra saß, waren es die längsten zwei Stunden seines Lebens.

Er wagte kaum, den Blick nach links oder nach recht zu wenden. Nur aus dem Augenwinkel schielte er mal nach der einen, mal nach der anderen Seite; und immer wenn sich zwei verstohlene Blicke trafen, wandten sie sich rasch nach der gegenüberliegenden Seite, als wären sie voneinander abgeprallt.

Gegen elf Uhr schließlich teilte sich die Gesellschaft in kleine Gruppen auf, die dich in die umliegenden Räume und Salons verstreuten. Alissandra wollte den Oheim nach Callidon befragen. Peter zauderte einen Augenblick, sich ihr anzuschließen, ließ diesen Gedanken jedoch fast im nämlichen Augenblick fallen, als er sah, daß sie ihm einen giftigen Blick zuwarf, sich dann bei Wilo einhakte und mit ihm in Richtung der Bibliothek abzog. Wilo, der nicht wußte, wie ihm geschah, ließ sich leicht verwirrt beiseite ziehen. Peter fiel nichts anderes ein, als ihnen mit offenem Munde hinterher zu starren, was von Alissandra mit einem hämischen Grinsen zur Kenntnis genommen wurde.

Peter konnte nicht mehr drinnen bleiben, bei allen anderen, denen die kleine Szene nicht verborgen geblieben war. Er wollte hinaus an die frische kühle Nachtluft. Er empfahl sich höflich und lief rasch nach der Halle, wo eine kleine Tür in den seitlichen Teil des Gartens führte.

Die klare, reine, nach Blüten duftende Luft, die ihm umfing, brachte ihm angenehme Erfrischung nach der dumpfichten Wärme, des Speisesaales mit dem für die Jahreszeit viel zu großen Kaminfeuer. Voller Unrast schritt er auf den kiesbestreuten Wegen auf und ab.

Wie er ihn haßte, diesen Wilo! Was war nur in Alissandra gefahren, daß sie sich diesem Windhund förmlich an den Hals warf. Was hatte jener, was er nicht besaß? er war groß, schlank, kräftig, sah gut aus, hatte eine widerliche schleimige Art. Stets höflich und zuvorkommend. Beherrschte alle höfischen Sitten und Gepflogenheiten. Peter sah ein, daß er bei diesem Vergleich den kürzeren ziehen mußte. Aber kam es denn wirklich nur auf derlei Dinge an? Warum sind Frauen nur so oberflächliche Geschöpfe? dachte er. Eine schöne Maske, ein paar flattierende Worte, und schon verschwindet der Wolf und verwandelt sich in ein unschuldiges Lamm, und alle Herzen fliegen ihm zu.

Vor einem der erleuchteten Fenster blieb Peter stehen. Leise pirschte er sich heran, sorgsam darauf bedacht, auf dem knirschenden Kies so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Es war das Fenster zur Bibliothek. Dahinter befanden sich Alissandra, ihr Onkel und Wilo. Die drei saßen an einem Tisch und tranken Glühwein und aßen dazu eine Art süßer Lebkuchen-Pläzchen. Der Schlo0herr hatte einen Stapel Papiere vor sich ausgebreitet, aus welchen er zuweilen laut vorlas. Peter vermochte zwar nicht hören, was drinnen gesprochen wurde, doch interessierte ihn dies im Augenblick auch weniger. Er sah nur Alissandra, verfolgte jede ihrer Bewegungen und Gebärden. Und jedes Mal, wenn sie lächelte und er die entzückenden Grübchen auf ihren Wangen sah, spürte er einen Stich im Herzen. Merkte sie denn nicht, wie er für sie empfand? Sprach denn nicht ein jeder seiner Blicke eine deutlichere Sprache, als tausend Worte? Oder war er ihr wirklich so gleichgültig?

Ein leises Geräusch hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren. »Erwischt! Na, na, das gehört sich aber nicht«, ließ sich eine helle Stimme in gespielter Strenge vernehmen. Schuldbewußt fuhr er herum; es war Tamina. Diese Begegnung kam ihm wirklich mehr als nur ungelegen.

»Ich — äh — Was machst du hier, mitten in der Nacht? Schleichst dich von hinten an.« Angriff war jetzt die beste Verteidigung.

»Ich habe dich ‘nausgehen gesehen. Und weil du dir keinen Mantel übergezogen hast, hab ich mir gedacht, dir würde vielleicht kalt sein. Deshalb habe ich dir einen Becher Glühwein mitgebracht.« Sie streckte ihm einen Becher des dampfenden, würzigen Getränkes entgegen. Die gute Tamina! Es war wirklich rührend, wie sie ihn umsorgte. Er nahm den Becher und kostete ein wenig von der Süßen duftenden Flüssigkeit. Gemeinsam gingen sie ein Stück des Weges, bis sie zu einer hölzernen Bank kamen. Sie setzten sich nebeneinander hin. Eine Weile blickten sie einander nur stumm an. Keiner wußte recht, was sagen. Die Nacht war hell und sternklar. Peter fragte sich, ob die gleichen Sterne über Arkanien leuchteten, wie über seiner eigenen, verschwundenen Heimat.

Zu Hause hatte er sich nie die Mühe gemacht, sich den Sternenhimmel genauer anzusehen. Hier aber schienen diese winzigen, funkelnden Nadelspitzen am Firmament plötzlich eine besondere Faszination auf ihn auszuüben. Vielleicht lag es daran, daß er vor seiner Ankunft in Arkanien niemals im Freien übernachtet hatte.

»Sind die Sterne auch so unendlich schön, da wo du herkommst?« fragte Tamina leise, wie um den Zauber des Augenblicks nicht zu stören. Peter sah sie an. In ihren Augen spiegelte sich das diamantene Sternenlicht. Ihrer großen dunklen Pupillen waren ein verkleinertes Abbild des Sternenhimmels.

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Irgendwie sehen die Sterne in Arkanien anders aus, irgendwie geheimnisvoller, schöner. Aber ich weiß nicht, woran das liegt.«

»Manchmal frage ich mich, wie es dort oben auf einem Stern wohl aussehen mag. Vielleicht liegt dort eine ganz andere Welt, ein Ort, wo es schön und licht ist, wo Liebe und Gerechtigkeit herrschen, wo nie ein böses Wort fällt, nie eine Träne quillt.« Lag es an dem Licht, lag es an der besonderen Stimmung dieses Augenblickes, daß Peter mit einem Male gewahr wurde, daß das schüchterne, geduldige, in sich gekehrte Mädchen an seiner Seite mehr war, als nur die Tochter eines Räuberwirtes aus dem Waldstedter Wald. Zum ersten Male seit der Nacht im Räuberlager fiel ihm bewußt auf, daß Tamina schön war. Es war nicht jene anmutige, unnahbare Schönheit, die sogleich alle Blicke an sich zieht, wie bei Alissandra. Taminens Schönheit rührte vielmehr von innen. Bedurfte es der dunklen Nacht, der Abwesenheit von Sonne und Mond, um die Gestirne in ihrer vollen Pracht sichtbar werden und richtig funkeln zu lassen, so bedurfte es vielleicht auch nur eines besonderen Augenblicks, einer unbeschreiblichen Konstellation, um das Funkeln und den Zauber in Taminens Augen sichtbar werden zu lassen.

Peter war von diesem Zauber ganz berückt. Später konnte er nicht erklären, was genau mit ihm geschehen war. Tamina wandte langsam ihr Antlitz zu ihm. Ihr Gesicht, erschien ihm wie das eines Engels. Der Blick ihrer tiefblauen Augen, der tief in sein Innerstes drang, tat ihm wehe. Peter legte sanft seinen Arm um ihre Schultern. Dann küßte er sie sachte. Er spürte noch, wie eine zärtliche Hand sich um seinen Hals legte; dann blieb die Zeit stehen.

Er schloß die Augen. Er fühlte sich leicht und frei. Sein Herz wurde weit. Dann schienen sie beide zu schweben. Das strenge Gesetz von Zeit und Raum schien aufgehoben. Sie flogen empor durch die Luft, die Wolken, den schwingenden Äther. Die Erde verschwand. Ein Licht kam näher, wurde größer und heller. Bald war es so groß, daß man den Rest des Himmels nicht mehr sehen konnte. Das Licht wurde hell wie der Mond, hell wie die Sonne, hell wie tausend Sonnen. Aber es blendete nicht, noch war es glühend heiß. Nun waren sie dem Lichte so nahe, daß es in Millionen kleiner Lichte zerfiel. Wie ein unendlich großer geschliffener Diamant das Licht in seinen unzähligen Facetten reflektiert, so schien dies ein Diamant zu sein, der von innen her in Millionen Farben funkelte und strahlte. Das Licht war jetzt so hell und allumfassend, daß es alles durchdrang und alles erfüllte. Sie waren am Ziele angelangt. Ein millionenfaches Funkeln und Gleißen. Eine Myriade winziger Flächen strahlte ein Licht aus, das dem Innern des Körpers zu entspringen schien. Eine jede der kleinen glatten Flächen gab den Blick auf ein anderes Bild frei. Wie durch ein Vergrößerungsglas blickten sie hinein in den unendlichen Kristallkörper. In ihm und durch ihn sahen sie in die andere Welt. Sie waren auf einem Stern. Was sie in diesem winzigen Augenblick sahen, würden sie niemals beschreiben können und doch sollten sie das Erfahrene nimmer mehr vergessen können.

Peter schlug die Augen auf. Sie befanden sich wieder — oder immer noch — im Garten. Taminens Antlitz zeigte Freude und Verklärung. Die Tränen liefen ihr über die farblosen Wangen. Sie ließ Peters goldnen Anhänger, den sie fest umklammert hatte, los und sprang auf und rannte ungestüm in die Nacht davon.

Wie lange Peter noch auf der Bank gesessen war, und was in seinem Kopfe geschehen war, vermochte er nicht zusagen. Später stand er auf, um Tamina zu suchen. Er fand sie am Rande eines Seerosen-Teiches im feuchten Grase sitzend. Sie hatte die Knie angewinkelt und die Arme um die Beine geschlungen. Schon von weitem vernahm Peter ihr Bitterliches Weinen und Schluchzen. Er trat zu ihr hin, kauerte sich neben sie und legte etwas unbeholfen Seinen Arm um ihre Schultern. Er wußte nicht, was er sagen sollte; wie er helfen konnte. Er versuchte sie dazu zu bewegen, vom feuchtkalten Boden aufzustehen. Noch immer weinend vergrub sie ihr Gesicht in seiner Brust und ließ sich von ihm zu einer nahe gelegenen Laube führen.

»Bitte nicht weinen. Ich ertrage das nicht. Was ist dir denn nur?« Peter war ganz verstört. Es fehlte nicht viel, daß ihm selber die tränen in die Augen schossen beim Anblick des herzzerreißend weinenden Mädchens. Tamina versuchte zu lächeln und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Peter wühlte in seiner Hosentasche — und hatte Glück. Er reichte ihr ein etwas zerknittertes, aber sauberes Taschentuch. Nachdem sie sich kräftig geschneuzt und ihr aufgelöstes Haar wieder ein wenig zurechtgemacht hatte, hub sie mit leiser noch etwas zitternder Stimme an zu sprechen: »Als wir uns… — ich meine, als wir auf dem Stern waren, da habe ich etwas gesehen…«

»Ich weiß. Auch ich habe Dinge gesehen, die ich nicht erklären noch beschreiben kann, und die mir Angst machen. Ich habe mein ganzes bisheriges Leben gesehen. Alles, woran ich mich nicht mehr erinnern konnte — oder wollte…«

»Bei mir war es anders«, sagte Tamina leise. »Ich habe meine Mutter gesehen. Ich sah unser Haus, wie es in den alten Tagen noch schön und gepflegt war. Ich sah, wie Mutter am Sonntag Kuchen buk und Vater kleine Holzfiguren schnitzte. Das war bevor er zu trinken anfing. Er hatte ein kleines Holzpferdchen für mich geschnitzt und Mama hat es mit echtem Haar beklebt und bemalt. Ich besitze es heute noch. Es ist alles, was mir von ihnen geblieben ist. — Dann sah ich, wie es immer schlimmer wurde. Vater konnte die hohen Steuern und die Schulden nicht mehr bezahlen. Mutter wurde krank. Und dann — sah ich sie, wie sie auf dem Bett lag; bleich und unendlich fern, und überall Kerzen und Blumen. Und heute — heute habe ich sie wieder gesehen, dort oben. Sie hat gelächelt und gesagt, es würde alles gut werden und aß wir eines Tages alle wieder beisammen wären — .« Erneut kämpfte sie gegen das Weinen an. Peter strich ihr zärtlich über das Haar. Dann fuhr sie fort: »In diesem Augenblick erst habe ich gespürt, daß ich ganz allein auf der Welt bin. Auf einmal habe ich furchtbare Angst bekommen. Ich hatte kein Zuhause mehr, keine Freunde, niemand, der sich um mich kümmert. Ich war immer allein. Nachts lag ich allein in meinem Bett und konnte nicht schlafen. Dann mußte ich immer an Mama denken, die mir früher Geschichten erzählt hatte. Mit ihr konnte ich über alles sprechen. Sie hat mich immer verstanden. Wenn ich nachts Angst vor bösen Geistern hatte und nicht einschlafen wollte, hat sie mich in ihren Armen gewiegt und in den Schlaf gesungen. — Und dann mußte ich plötzlich an dich denken. Wie du immer so freundlich und gut zu mir bist. Und vorhin auf der Bank, als wir und geküßt haben, da glaubte ich für einen Augenblick… — —

Aber ich weiß, daß du Alissandra liebst; das sieht man. Und es ist nicht recht, wenn ich… — weil, sie liebt dich doch auch. — Ihr werdet bestimmt sehr glücklich werden….«

Peter zog sie an sich heran und küßte sie sanft auf die Wange. Er sagte: »Du brauchst keine Angst zu haben, Tamina. Und du brauchst dich auch nicht einsam zu fühlen oder vor der Zukunft zu fürchten. Ich verspreche dir, daß ich immer für dich da sein werde. Ich — es fällt mir nicht leicht, das richtig auszudrücken — habe dich auch sehr gerne und… — — « Er konnte nicht mehr weitersprechen. Statt dessen drückte er sie fest an sich. Er fühlte, wie sie seine Umarmung erwiderte. In dieser engen Verbundenheit verharrten sie minutenlang.

Nach einer Weile sagte Peter dann: Jetzt wollen wir uns aber schleunigst wieder in die warme Stube begeben, bevor wir uns noch erkälten.« Sie betraten das Haus durch die kleine Seitenpforte. Peter warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Uhr: Sie hatten über zwei Stunden im Garten verbracht. Im Hause war es dunkel und stille. Die Bewohner lagen bereits in ihren Betten. Peter brachte Tamina bis zur Tür ihres Schlafgemachs. Bald darauf lag auch er in den weichen Daunenkissen seines Bettes. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Gesichte, die er auf dem kristallenen Stern gehabt hatte. Er hatte nicht nur — wie Tamina gegenüber erwähnt — Bilder aus seiner Vergangenheit, sondern auch aus seiner Zukunft gesehen. Bei dem Gedanken daran, was er noch alles würde erleben und bestehen müssen, wurde ihm Angst. So dauerte es lange, bis er Schlaf fand.

Die Gesichte aber sollte er ebenso wie Tamina bereits am nächsten Morgen vergessen haben.

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