Wiedervereint
Gegen
sechs Uhr in der Frühe erwachte Peter durch ein lautes Summen und Brummen. Es
dauerte eine Weile, bis er begriff, daß das störende Geräusch in seinem
eigenen Kopfe beheimatet war. Mit geschlossenen Augen lauschte er eine Zeitlang
in das kühle Dunkel. Das Brummen in seinem Kopf wurde etwas schwächer. Er
hatte nicht die geringste Lust aufzustehen. Er rollte sich auf die Seite,
lustlos und schlaftrunken. Erschrocken hielt er inne, als er unerwartet auf
Widerstand stieß. Er stieß einen leises Schrei des Erschreckens aus, als er
sich so plötzlich halb auf einem menschlichen Körper liegen sah — oder
vielmehr spürte. Sehen konnte er freilich kaum etwas, da das einzige spärliche
Licht durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln und durch die Bodenluke fiel.
Das
menschliche Wesen war inzwischen seinerseits aus dem Schlafe geschreckt und
wehrte sich mit einem heftigen Hieb gegen den vermeintlichen Angreifer.
Auf
diese Weise kam es zu einem gelinden Handgemenge, in dessen Verlauf Peter seinen
Gegner auf den Rücken zwang und indem er sich auf ihn setzte, jeder Bewegungsmöglichkeit
beraubte. In barschem Tone herrschte er ihn an: »Wer bist du? Was tust du hier?«
— Erstauntes Schweigen. — Dann erklang eine wohlbekannte Stimme: »Peter?
Bist du es etwa?«
Kein
Zweifel. Das war Alissandras Stimme!
»Alissandra!
Wie kommst du hierher? Erschrocken wich er von ihr. Einen Atemzug später lagen
sie sich in den Armen.
»Oh
Lisa! Ich hatte solche Angst, dir könnte etwas schreckliches zugestoßen sein.
In dabei war alles meine Schuld. Wenn ich in jener Nacht auf dich gehört und
weniger ge…«
»Nein!«
unterbrach sie ihn heftig. »Das ist nicht wahr. Du kannst nichts dafür. Ich
habe nicht aufgepaßt und bin für einen Augenblick eingeschlafen.«
»Dann
bist du mir also nicht böse?« fragte Peter zögernd.
»Aber
nein, du Dummer! Wie könnte ich auch.« Er drückte sie noch fester an sich.
Dann besann er sich aber und ließ sie langsam aus. Sein Ungestüm war ihm etwas
peinlich. »Komm mit hinunter und laß’ dich anschauen«, sagte er und nahm
sie sachte bei der Hand und führte sie nach der Öffnung im Boden.
Unten
in der Stallgasse war es hell; die Sonne schien direkt durch die Fensteröffnungen
an der Ostseite.
»Jöh!
Da ist ja auch mein Mondilein!« rief sie entzückt und lief zu dem Schimmel,
der schnuppernd seine Nase nach ihr reckte. Sie drückte und herzte die kleine
Stute, welche nach alter Gewohnheit an ihren Taschen nach Leckerbissen stöberte.
»Gut
siehst du aus. Ich muß sagen, Peter hat gut für dich gesorgt.«
Der
genannte wirkte ein wenig verstimmt. »Ich finde es ja reizend mit welcher
Anteilnahme du dich für das Wohlergehen dieses Tieres interessierst. Mir
geht es übrigens auch gut.«
»Entschuldige,
Peter. Das war nicht so gemeint«, sagte sie und wandte sich ihm zu. »Natürlich
freue ich mich, daß es dir gut geht. Ein wenig blaß schaust du aus; und dünn
bist du auch geworden. Du hast dich recht verändert.«
»Findest
du?«
»Ja,
du wirkst älter — ich meine, nicht wirklich älter, aber irgendwie
ernsthafter.«
»Du
hingegen hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist genau so hübsch wie
immer« erwiderte Peter galant.
»Jetzt
hör’ aber auf, du alter Schmeichler. Laß’ uns lieber ins Haus ‘nüber
gehen. Ich möchte endlich etwas frühstücken. — Da fällt mir ein: Wo ist
eigentlich Tamina. Ich habe sie noch gar nicht gesehen. Es geht ihr hoffentlich
auch gut.«
»Ja,
wir waren die ganze Zeit über zusammen und haben viel erlebt.« Sie gingen über
den Hof ins Wirtshaus, wo bereits einige der Gäste beim Frühstück saßen.
Peter führte Alissandra hinaus in Taminas Zimmer. Er pochte leise an die Tür
und trat hinein. Tamina war bereits aufgestanden und im Begriffe ihr Haar zu bürsten.
»Sag
mal, wo kommst du denn her? erst wolltest du nur einen kleinen Spaziergang
machen und dann bleibst du die ganze Nacht fort«, rief sie. »Hast du etwa im
Stall geschlafen?« Peter sah an sich herab und merkte, daß er einige Halme in
Haar und Kleidung hängen hatte, die er sorgfältig entfernte. »Es tut mir
leid, aber ich war sehr müde und muß auch ein klein wenig über den Durst
getrunken haben. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht, mir könnte etwas
zugestoßen sein.«
»Nein,
ich habe geschlafen — gut geschlafen.«
»Ach?
— Ist ja auch egal. Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Da schau
her!« Er stieß die Tür, die er angelehnt hatte, weit auf und zog Alissandra
herein.
»Das
ist doch…« hauchte Tamina und setzte sich auf das Bett. Sogleich sprang sie
aber in die Höhe und lief Alissandra entgegen. Die beiden Mädchen umarmten
sich und drückten sich die Hände. »Ich bin so froh, daß ich euch hier
antreffe, gesund und wohlbehalten. Hast du gut auf mein Peterchen aufgepaßt?
Hat er sich gut benommen und keinen Unsinn angestellt?« Ein dumpfes Grollen und
aberwitziges Grimassenschneiden seitens des »Peterchens« wurde höflich
ignoriert. Tamina riskierte nur einen lachenden Seitenblick auf den Blitze sprühenden
Peter und sprach: »Eigentlich hat er auf mich aufgepaßt. Du kannst stolz auf
ihn sein. Er hat sich wie ein Held benommen. Ach, es gibt so viel zu erzählen,
ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Warte
damit noch eine Weile bis zum Frühstück. Ich möchte euch übrigens noch
jemanden vorstellen. — Nur Geduld, ihr werdet’s gleich sehen«, sagte
Alissandra als Erwiderung auf zwei fragende Gesichter. Sie führte die beiden
ein Stockwerk höher zu Wilos Zimmer. Sie klopfte energisch an das Holz und stieß
ohne eine Antwort abzuwarten die Tür auf.
Vom
Bette her tönte eine schläfrige Stimme: »Wer stört mich den mitten in der
Nacht? Bist du das etwa Alissandra?« Zwischen Kissen und Laken erschien ein
zerknitterter Wilo. Er rieb sich mit beiden Händen die Augen, um klarer sehen
zu können. Derweil trat Alissandra zum Fenster und stieß die geschlossenen Läden
auf, damit die frische Morgensonne hereinscheine. Wilo hatte Peter und Tamina
entdeckt und fragte: »Wer ist denn das?«
»Das
sind meine Freunde, die ich bei den »Bienenkörben« treffen wollte. Ich habe
dir von ihnen erzählt«, sagte Alissandra.
»Und
wer ist der da?« fragte Peter. Wilo stellte sich vor.
»Ich
nenne ihn Wilo. Er wollte mich dem Gouverneur von Carlan abliefern, um die
tausend Goldtaler, die Regent auf mich ausgesetzt hat, einzukassieren«, sagte
Alissandra fröhlich. Wilo schien von dieser Formulierung des Sachverhaltes
nicht sonderlich erbaut. Noch weniger war es Peter, der mit grimmiger Miene
sagte: »Ach einer von dieser Sorte. Und was hast du mit so einem Schnapphahn zu
schaffen?«
»Nein,
Peter. Wilo ist kein Schnapphahn. Er hat es ja nur vorgehabt und nicht getan. Er
war halt in ziemlichen Schwierigkeiten und brauchte dringend das Geld.«
»Alissandra!
Was redest du da? Wie kannst du ein solches Subjekt in Schutz nehmen; einen
gemeinen Straßenräuber. So einer gehört doch eingesperrt.« Peter war außer
sich. Wilo der bei Peters nicht gerade freundlichen Worten aus dem Bette
gesprungen war, hatte sich drohend vor ihm aufgestellt. Bei Wilos Anblick wurde
Peters Zorn gleich merklich abgekühlt. Wilo war fast einen Kopf größer als
Peter und auch ein gutes Stück breiter.
»Jetzt
hör mal zu, mein Junge. Ich mag vielleicht nicht gerade ein Vorbild an
Tugendhaftigkeit sein und ich habe auch den einen oder anderen Fehler begangen,
aber das gibt dir nicht das Recht, in diesem Tone von mir zu sprechen. Für wen
hältst du dich eigentlich? Wenn jemand über meine Tat urteilen kann, dann ist
das am ehesten Alissandra. Von dir lasse ich mir schon gar nichts sagen, du Grünschnabel.
Ich sage dir eins: Wenn du nicht Alissandras Freund wärst, dann würde ich dir
den Hosenboden stramm ziehen.«
Das
war zu viel für Peters Geduld. Rot vor Zorn rief er: »Wer ich bin? Ich bin der
designierte Herrscher von Arkanien. Und du bist mir Respekt und Subordination
schuldig.«
»Was?
Der Kleine ist wohl übergeschnappt. Ich muß sagen, du hast aber seltsame
Freunde, Alissandra.«
»Was
fällt dir ein? Ich — oh — ich verlange Satisfaktion! Sofort, hier auf der
Stelle. Alissandra, wo ist mein Schwert?«
»Peter!
Sei doch vernünftig. Du weißt nicht, was du tust…« vergeblich versuchte
Alissandra den Zürnenden zu beschwichtigen.
»Ein
Schwert verlangt er!« spottete Wilo laut auflachend. »Das ist zu komisch. Da wäre
ja das Schwert größer als der ganze Kerl. Nein, ich schlage mich nicht mit
Kindern.« Die beiden Mädchen hatten alle Hände voll zu tun, Peter davon
abzuhalten, Wilo an die Gurgel zu springen.
»Du
hast wohl Angst, gegen mich anzutreten? Bist am Ende gar ein Hasenfuß? Viel große
Worte und nichts dahinter?« Mit derlei Sprüchen geriet Peter an die falsche
Adresse.
»Na
schön, wie du willst. Wir treffen uns in zehn Minuten hinter der Scheune.« Zu
Alissandra sagte er: »Es ist besser du bestellst schon mal den Arzt und
besorgst Verbandszeug für den Spinner.«
Mit
Engelszungen redeten die Mädchen auf die beiden Kontrahenten ein, allein es
half alles nichts. Peter bestand auf dem Duell und Wilo dachte nicht daran, die
Herausforderung abzulehnen. Nicht einmal die eindringliche Warnung vor Wilos
Fechtkünsten und das abschreckende Beispiel von Alissandras eigenen
schmerzhaften Erfahrung damit, brachte Peter von seinem wahnsinnigen Plan ab. Er
blieb starrköpfig und unbelehrbar. Alissandra begann ernsthaft um sein Leben
und seine Gesundheit zu fürchten. Nur Tamina war davon überzeugt, daß Peter
siegreich aus der Begegnung hervorgehen werde. Wilo würde schon sehen, was er
davon habe, sich mit Peter anzulegen. Alissandra blieb also nichts anderes übrig,
als Peter widerstrebend das goldene Schwert auszuhändigen.
»Hier
ist es. Tu, was du nicht lassen kannst.« Sie wandte sich abrupt ab und lief
hinaus. Tamina blieb bei Peter und redete ihm zu.
Als
die beiden über den Hof zu Scheune gingen, stand die Sonne bereits hoch am
Himmel. Bald würden die anderen Gäste herauskommen, um ihren Geschäften
nachzugehen, ihre Pferde zu holen usw. Wenn sie also unnötiges Aufsehen
vermeiden wollten, würden sich die beiden Streithähne beeilen müssen. Noch
war es recht kühl, doch hiervon bemerkte Peter nichts. Innerlich glühte er vor
Spannung. Dies würde sein erster richtiger Kampf werden. Ein wenig flau im
Magen war ihm schon, denn bislang hatte er das Zauberschwert — wenn es denn
wirklich eins war — noch nie ausprobieren können. Würde er damit wirklich
unbesiegbar sein, oder würde ihn dieser Kerl einfach in Stücke hauen?
Als
er aber die golden schimmernde Klinge aus der Scheide zog, und sah, wie sich das
Sonnenlicht gleißend in ihr brach, als er den hellen Klang des Metalls vernahm,
da war ihm als führe ein Blitz neuen Mutes, von Kraft und Energie durch seinen
Leib. Fasziniert starrte er auf das blitzende Funkeln des polierten Metalls. Es
schien ihm fast, als leuchte das Schwert heller als die am Himmel stehende
Sonne. Mit einem Ausdruck von Scheu und sprachloser Bewunderung stand Tamina
neben ihm. Sie wagte kein Wort zu sprechen. Unbeweglich verharrte sie den Blick
auf Peter fixiert. Jener machte einen unauslöschlichen Eindruck auf sie. In
diesem Augenblick, als er den Arm mit dem Schwert in die Höhe streckte und sich
die Glut der Morgensonne mit der seines Antlitzes mischte, sah er aus wie ein
wunderschöner, unbesiegbarer Held. Das Leuchten in seinen Augen schien mit dem
Glanze des Schwertes zu wetteifern. Tamina konnte förmlich sehen, wie die Kraft
des Schwertes auf ihn überging. Das alles dauerte nur einen Augenblick. Dann
war der Zauber gebrochen. Peter, das Schwert, alles sah aus wie vorher. Ihr
Blick fiel auf Alissandra, die in einiger Entfernung von ihnen stehen geblieben
war. Ihre Augen verrieten, daß sie das selbe gesehen und gedacht haben mußte,
wie sie.
Noch
ehe eine der beiden etwas sagen konnte, vernahmen sie bereits die Schritte
Wilos, der sich ihnen im Laufschritt näherte. Wilo machte einen forschen,
zuversichtlichen Eindruck. Er warf im Vorübergehen eine kurzen Blick auf
Alissandra, die mit zusammengepreßten Lippen an der Ecke der Scheune stand und
keine Anstalten machte, näher zu kommen. Sie hatte große Angst, daß Peter
etwas zustoßen könnte, daß er verletzt würde, vielleicht sogar getötet. —
Nein, das durfte einfach nicht geschehen. Sie schob diesen Gedanken beiseite.
Wilo war ein guter Fechter, er würde vorsichtig sein, so wie bei ihr; und
vielleicht hätte das alte Schwert wirklich irgendwelche Kräfte, die Peter
beschützen. Am Ende wäre es vielleicht gar nicht einmal so schlecht, wenn er
die Folgen seiner Großspurigkeit am eigenen Leib erführe.
Die
beiden Kontrahenten standen einander gegenüber. Beide trugen ihre blanken
Waffen. Wilo hielt seinen Degen und Peter das große Schwert in beiden Händen.
Normalerweise
wäre es ein sehr ungleicher Kampf, da der Degen eine verhältnismäßig leichte
und sehr wendige Stichwaffe ist, die vor allem mit dem Unterarm und dem
Handgelenk geführt wird; während das Schwert eine sehr wuchtige und zerstörerische
Hiebwaffe ist, welche den Einsatz des ganzen Armes verlangt und auf Grund ihres
Gewichtes viel langsamere und schwerfälligere Bewegungen erzwang.
Nachdem
alles geklärt und die beiden Kämpfer über die regeln aufgeklärt waren, gab
Tamina das Zeichen zum Beginn. Peter führte des ersten etwas ungeschickten
Streich, dem Wilo leicht auswich. Der Gegenschlag folge unmittelbar, und zwar so
schnell, daß Peter ihn kaum sah. Trotzdem parierte er ihn mühelos. Oder
richtiger gesagt, parierte ihn das Schwert mühelos, denn Peter hatte den
Eindruck, daß nicht er kämpfte, sondern das Schwert von ganz allein und sein Arm nur
eine Verlängerung der Schwertklinge war. Von da an wußte Peter kaum noch, wie
ihm geschah. Das Zauberschwert führte eine Art von Eigenleben. Wilo war völlig
überrascht, um nicht zu sagen, schockiert. So etwas hatte er noch nie erlebt.
Was immer er an Geschicklichkeit und Technik aufbot, Peter war im voraus. Einen
jeden Hieb, einen jeden Stich Wilos parierte er ohne die mindeste sichtbare
Anstrengung. Trotzdem biß er tapfer die Zähne zusammen und versuchte jeden
Angriff geschwinder, jeden Streich plötzlicher, jede Finte einfallsreicher zu führen
— doch alles vergeblich. Peter parierte mühelos jeden Streich. Auf Wilos
Stirn perlten Schweißtropfen, sein Atem ging mühsam und stoßweise. Das
siegessichere Grinsen auf seinem Gesichte war einem Ausdruck verbissener
Anstrengung gewichen. So sehr er sich auch Mühe gab, es gelang ihm kein
einziges Mal, Peters Deckung zu durchbrechen. Schwer atmend setzte er seine
Angriffe für zwei, drei Sekunden aus. Überlegen grinsend gewährte Peter ihm
die dringend benötigte Verschnaufpause. Dann ging er zum Angriff über. Das
Schwert unterlief Wilos Parade und traf ihn mit der Breitseite am linken Arm.
Wilo biß sich vor Schmerz auf die Lippen, gab aber keinen Laut von sich.
Patsch! Ein weiterer schmerzvoller Treffer ging auf Peters Konto. Wilos Gesicht
war völlig verzerrt. Das Haar stand in wirren Strähnen von seinem Kopfe ab. Er
konnte einfach nicht glauben, was er gerade erlebte. Als Peters Klinge zum
dritten Male ihr Ziel fand, hätte er beinahe aufgeschrien. Er war am Ende
seiner Kräfte angelangt. Aber Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Das war
aber auch nicht nötig, denn Peter beendete gnädig den Kampf — kurz und
schmerzlos. Mit einem kurzen, wohlgezielten Hieb des Schwertes entwand er den
Degen Wilos Hand. Die Waffe flog durch die Luft und prallte scheppernd an die
Wand der Scheune.
Fassungslos
und heftig keuchend starrte Wilo auf die blanke Waffe, die zu seinen Füßen
lag. Er hatte den Kampf schmachvoll verloren, ohne auch nur einen einzigen Punkt
für sich errungen zu haben. Sprachlos waren auch Tamina und Alissandra.
Letztere konnte einfach nicht glauben, wessen sie gerade Zeuge geworden war. Mit
offenem Munde blickte sie von dem einen zum anderen.
Tamina
war begeistert. Grenzenlose Bewunderung lag in den Blicken, die sie Peter
zuwarf. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals Gefallen. (Vielleicht hätte sie
es sogar getan, wenn nicht Alissandra gerade hinzugetreten wäre.) Peter selbst
stand unbeweglich das, das Schwert lässig über die Schulter gelegt. Seine
Miene schien unbewegt. Wer genau hinsah, dem blieb das Funkeln in seinen Augen
und das rasiermesserscharfe triumphierende Grinsen um die Mundwinkel nicht
verborgen.
Wilo
war sichtlich bemüht, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »Wer bist du
wirklich?« fragte er noch ganz außer Atem und forschte in Peters Gesicht nach
einer Antwort. Peter sagte es ihm. Wilo sank auf die Knie und sprach: »Ich hätte
es ahnen müssen. Ihr seid wirklich mein Herr und König, mein Schwert und mein
Arm gehören Euch. Ich bitte Euch um Vergebung für meine unbedachten und
respektlosen Worte.«
»Steh
auf! Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen. Ich war es, der unverschämte
Dinge sagte. Ich hatte kein Recht, dich so zu beschimpfen.« Er trat auf Wilo zu
und streckte ihm die rechte entgegen. »Laß uns Freunde sein; und nenn’ mich
bloß nicht Majestät oder Herr — wenigstens nicht bis ich wirklich auf dem
Throne sitze.« Wilo ergriff die ausgestreckte Hand und drückte sie fest.
»Na,
dann wär’ ja alles abgemacht. Laßt uns jetzt endlich zum Frühstücken
gehen. Ich sterbe fast vor Hunger«, rief Tamina lachend. Alissandra schnaubte
und warf den Kopf in den Nacken zurück, wie ein unwilliges Füllen. Wortlos
lief sie zurück ins Haus, ohne sich nach den anderen umzudrehen.
»Was
hat die denn?« fragte Tamina erschrocken. Peter meinte mit einem Blick auf
Wilo: »Laß nur. Ich glaub’ ich weiß, was ihr fehlt.«
Wenig
später saßen die vier vor einem randvoll gedeckten Frühstückstisch. Der
Kampf hatte nicht nur die beiden Streithähne sondern auch die Zuschauer hungrig
gemacht; und so langten alle kräftig zu, bis von dem leckeren essen nur noch
einige Krumen auf der Tischdecke übrig waren.
Nachdem
sie sich gestärkt hatten, beschlossen sie, ohne weitere Verzögerung die
Weiterreise anzutreten. Das sie nur über drei Pferde verfügten und ihre Mittel
es nicht gestatteten, ein weiteres zu erstehen, würden sie nicht sehr rasch
vorwärts kommen, da immer einer von ihnen abwechselnd zu Fuß gehen mußte. Das
war aber nicht so wichtig, denn zunächst mußten sie erst einmal in Erfahrung
bringen, wohin die reise zu führen hatte. Alissandra hatte ihren ehemaligen
Hofmeister seit über eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen, noch etwas von ihm
gehört. Sie wußte nur, daß er irgendwo in der Nähe von Carlan wohnte. Wo
genau sich sein Haus befand, war allerdings ein Rätsel. Eine vage Hoffnung
bestand aber darin, daß ein Verwandter von ihr etwa eine Tagesreise von Carlan
entfernt lebte und vielleicht etwas über Callidons Aufenthaltsort sagen könnte.
Falls nicht, so würde es ein schier aussichtsloses Unterfangen werden, in dem
ziemlich dicht besiedelten Umland von Carlan einen zurückgezogen lebenden alten
Mann zu finden, der sich überdies noch wegen seiner kritischen Gesinnung vor
der Obrigkeit zu verbergen hatte.
»Ich
bin sicher, daß mein Onkel Arlin weiß, wo Callidon sich versteckt hält. Die
beiden haben sich immer gut verstanden und haben einander oft lange Briefe
geschrieben«, meinte Alissandra zuversichtlich.
Peter
war eher skeptisch: »Na hoffentlich hast du recht, sonst können wir eine Nadel
im Heuhaufen suchen!«
Die
Reise schien endlos zu dauern, so kam es Peter vor. Während sie marschierten
oder abwechselnd ritten, sprachen sie wenig miteinander. Irgend etwas war
anders, seit Wilo zu ihnen gestoßen war. Peter konnte es nicht genau
beschreiben, aber er fühlte deutlich, daß das Verhältnis zwischen ihm und
Alissandra gespannter war als zuvor. Gewiß, sie hatten sich eigentlich von
Anfang an fast immer gestritten. Aber das war nicht so ernst gemeint und hatte
auch andere Ursachen. Jetzt aber hatte er den Eindruck, als habe sich ein
unbekanntes, unbestimmbares Etwas zwischen sie geschoben. Dieses Etwas brauchte
nicht unbedingt Wilo zu heißen. Zwar war Peter schon den ganzen Tag über
aufgefallen, mit welchen Blicken er nach ihm starrte. Die eigentliche Ursache
seines Mißbehagens schien jedoch eher in Alissandra selber zu liegen. Wilo bemühte
sich, Peter gegenüber freundlich und hilfsbereit zu sein, obgleich ihn das
zuweilen recht schwer fiel. Peter machte es ihm aber auch nicht besonders
leicht, höflich zu sein, denn er würdigte den jungen Mann kaum eines Blickes,
geschweige daß er während der ganzen Zeit mehr als drei, vier Sätze mit ihm
gewechselt hätte. Peter sagte nichts gegen Wilo, aber seine Blicke ließen ihn
deutlich seine Mißbilligung spüren.
Tamina
wiederum konnte es den ganzen Tag über keinem recht machen. Sie merkte wohl, daß
etwas in der Luft lag. So sehr sie sich aber bemühte, durch harmlose Gespräche
und kleine Scherze die Stimmung aufzulockern, half es doch alles nichts: Peter
blieb einsilbig und Alissandra war verschlossener denn je.
Am
späteren Nachmittag tauchte auf einer Bergkuppe einige Meilen voraus eine düster
wirkende Burg auf, die inmitten eines kleinen bewaldeten Hügels zu liegen
schien. Beim Herannahen entpuppte sich der »kleine Hügel« allerdings als ein
ziemlich steiler Berg, den es auf einem schmalen, zu Teil schlecht befestigten
Pfad in unzähligen Windungen zu erklimmen galt.
Kaum
berührte die Sonne den westlichen Horizont, das waren sie auch schon an ihrem
Ziel angelangt. Hinter einer Biegung des Weges hörte der Mischwald unvermittelt
auf, und direkt vor ihnen präsentierten sich die ersten Häuser, die zum Schlo0
gehörten. Es handelte sich um eine ganze Anzahl mehr oder minder großer,
strohgedeckter Wirtschaftsgebäude mit dahinter liegenden Obst- und Weingärten.
Letztere erstreckten sich über einen großen Teil des Ost- und den ganzen Südhang,
die ein gutes Stück steiler waren, als der westliche, den sie erklimmen mußten.
Jedoch wurde die Steilheit des Geländes durch mehrere terrassenförmig übereinander
angeordnete Ebenen gemildert, was besonders zu der Zeit der großen Regenfälle
— die im südlichen Arkanien zwar eher selten, dafür aber um so heftiger sind
— die Bodenerosion stark verminderte.
Die
Gebäude lagen noch außerhalb der Burganlage, die in einiger Entfernung steil
und schroff emporragten. Die Burg selber machte aus der Nähe betrachtet keinen
sehr bedrohlichen Eindruck mehr. Aus der Entfernung und bei entsprechendem Licht
aber wirkte der graue Fels, aus welchem die meterdicken Mauern bestanden, sehr düster
und unheimlich.
Das
Burgtor stand weit offen, die Zugbrücke, die den von allerlei Unkraut überwucherten
Graben überspannte, schien seit vielen Jahren nicht mehr hochgezogen worden zu
sein. Die Schilderhäuschen zu beiden Seiten des Tores waren leer. Der Zwinger
glich mehr einem Blumengarten und mußte im Sommer bestimmt ein sehr angenehmer
Aufenthaltsort sein.
Als
die Reisenden in den Hof kamen, liefen ihnen sogleich einige Knaben entgegen,
die ihnen die Pferde abnahmen, um sie nach den nahe gelegenen Stallungen zu führen.
Der
Burghof war sind besonders groß und sah etwa so aus, wie man sich einen solchen
Ort vorzustellen pflegt. Auffallend war einzig, daß die Burg im Laufe der Zeit
mehrmals umgebaut und modernisiert worden war. So führten jetzt zahlreiche
Fenster und Balkone auf den Hof, was bestimmt nicht der Absicht der ursprünglichen
erbauen entsprochen hatte. Auch waren die Mauern auf der Hofseite verputzt und
weiß getüncht, was dem Ganzen ein sauberes und fast heiteres Aussehen verlieh.
In
diesem Augenblick tat sich eine Tür auf und heraus trat ein alter weißhaariger
Bedienter in einer Art von rot-brauner Uniform, die mit dem Gräflichen Wappen
der Herren von Waldenfels geschmückt war; so nämlich hieß auch die Burg von
Alissandras Oheim, dem Grafen Arlin von Waldenfels.
Kaum
hatte der Alte Alissandra erblickt, da hellte sich sein gefurchtes Gesicht
freudig auf und er rief mit dünner Stimme: »Ist es die Möglichkeit! das Fräulein
Alissandra. Das wird eine frohe Überraschung werden, für die Herrschaft.« Es
folgte eine ganze Reihe von freudig-erregten Begrüßungen und herzlichen
Willkommensbezeugungen. Hierauf führte er sie in die Empfangshalle der Burg. Während
sich die jungen Leute in dem weitläufigen, holzverkleideten Saale mit den
zahlreichen Portraits der Ahnen und den verblichenen Wappenschildern vergangener
Generationen an den Wänden, umsahen, eilte der Diener seine Herrschaft zu
unterrichten.
Bald
darauf konnte man eilige Fußtritte vernehmen, die sich rasch näherten.
Herein
traten ein älterer Herr mit silbergrauem Haar und Schnurrbart. An seiner
Kleidung erkannte man den Schloßherren. Aus seinem strahlenden Antlitz sprach
die Verwandtschaft zu Alissandras Vater. Peter wußte sofort, daß es sich um
den älteren Bruder handelte.
Der
Mann lief auf Alissandra zu und schloß sie in seine Arme. Sie schlang die ihren
um seinen Hals und küßte ihn auf beide Wangen. Hinter dem Hausherrn drängte
sich eine schlanke, gut aussehende, elegant gekleidete Dame hervor, gefolgt von
einer Schar Diener und Lakaien. Die schöne Dame, der man die fünfzig Jahre
keineswegs ansah, war die Tante Jolina. Auch mit ihr vollzog sich die bekannte
herzliche Begrüßungszeremonie. Man sah gleich, daß die beiden für Alissandra
mehr als nur entfernte Verwandte waren, denen man gelegentlich einen Höflichkeitsbesuch
abzustatten pflegte.
Nach
der ersten Begrüßung, mit ihren tausend Fragen nach dem gegenseitigen Befinden
und Wohlergehen, wurden Tamina, Wilo und Peter der reihe nach vorgestellt.
Es
zeigte sich, daß Onkel Arlin über alles bestens unterrichtet war. Trotz der
scheinbaren Weltabgeschiedenheit seiner Burg, verfügte er über ausgezeichnete
Verbindungen im ganzen Lande.
»Alissandra,
Liebes! Du brauchst vor dem Tyrannen keine Angst mehr zu haben. Hier bist du
sicher. Aus meiner Burg bekommt dich niemand gegen deinen Willen heraus. Ich
werde gleich dafür sorgen, daß man sich hier für eine Belagerung wappnet. —
Mag der Regent nur kommen, mit allen seinen schwarzen Schatten; an diesen Mauern
wird er sich die Zähne ausbeißen.« Zu Peter gewandt sprach er: »Und Ihr,
junger Prinz! Seid standhaft, tapfer und entschlossen! Ich fühle — nein, ich
weiß, das du Erfolg haben wirst. — Frage mich nicht nach dem wie? und warum?
— Ich weiß es einfach. Ach, wäre ich doch noch einmal so jung! Man brächte
mir Roß und Schwert, so zöge ich selber nach der Hauptstadt. — —« In
seinen Augen funkelte eine wilde, jugendliche Entschlossenheit. Peter mußte im
Stillen lächeln. Solche Temperamentsausbrüche kannte er von Alissandra.
Nachdem er ihren Vater als einen ruhigen, besonnenen, zuweilen auch ein wenig
zaghaften Mann hatte kennen lernen, wußte er jetzt, von welcher Seite der
Verwandtschaft Alissandra ihr heißes Blut geerbt hatte.
»Arlin,
beruhige dich. Du sollst dich nicht so aufregen. Du weißt, das schlägt dir
immer auf den Magen.« Jolina versuchte ihren Mann zu beruhigen. Dieser aber schüttelte
sie unwirsch ab: »Ihr Frauen könnt einfach nicht begreifen, daß es Dinge
gibt, die wichtiger sind, als das bißchen Magenbrennen und über die man sich
einfach aufregen muß. Oder findest du
es nicht aufregend, wenn ein hergelaufener Emporkömmling unser schönes Land
verheert und überall mit seinen Soldaten und anderem Gesindel Furcht und
Schrecken verbreitet. Wenn den Bauern das Vieh und die Ernte geraubt wird; wenn
ein jeder von Steuern und Abgaben gedrückt wird, daß es kaum für sein täglich’
Brot langt. Handel und Gewerbe liegen darnieder. In den Lagerhäusern verhungern
sogar die Mäuse. Aber einer wird immer reicher. Seine
Truhen füllen sich zusehends mit unserem Geld. In seinen Speichern türmen sich
die Vorräte. An seiner Tafel speisen Hunderte von Handlangern und Schmarotzern.
Wagt es aber einer, zu widerstehen, sich dem Druck von Herrschaft und Gewalt
nicht zu beugen, wehe ihm! Nachts brennt sein Haus, stirbt sein Vieh im Stall,
ziehen schwarze Reiter und Mordbrenner durch das Land, Tod und Zerstörung
hinter sich zurück lassend. Niemand weiß, woher sie kommen; niemand weiß,
wohin sie gehen. Keiner kennt ihre Gesichter — falls sie überhaupt welche
haben. Es ist, als öffneten sich die Tore zur Unterwelt, ja manche glauben
sogar, daß der Teufel selber mit ihnen reitet. — Du wirst es nicht leicht
haben, mein junger Freund. Aber denke stets daran: Wo immer sich finstre Mächte
zum Bösen Zwecke verschwören, gibt es irgendwo auch gute Mächte, die sich schützend
zum Trutze vereinigen. — So, jetzt habe ich tatsächlich Magenschmerzen. Ich
muß mich ein wenig entspannen gehen.«
»Ja,
und ich darf ihn dann wieder gesund pflegen«, meinte Jolina mit einem
vorwurfsvollen Lächeln. Sie nahm ihren Mann bei der Hand und führte ihn nach
seinen Gemächern. Bevor sie den Saal verließ, gab sie den Dienern die
Anweisung, ihre jungen Gäste wohl unterzubringen und sie mit allem zu
versorgen.
Die
Burg Waldenfels war, was die Zahl der Räume betraf, nicht so groß wie das
Schloß von Alissandras Eltern. Sie wirkte aber im Innern viel weitläufiger, da
sie bedeutend älter und verwinkelter war. Unzählige Treppen, Stiegen, Gänge
und Gemächer bildeten für den Unkundigen ein wahres Labyrinth.
Die
Räume selber strahlten eine Atmosphäre behäbiger Gemütlichkeit aus. Es gab
viel Holz und Schnitzwerk, antike Wandteppiche und kunstreich bemalte Decken und
Wandleisten. Die Fenster waren klein und bestanden zum Teil aus schönen,
buntfarbigen in Blei gefaßten Bildern. Geheizt wurde fast ausschließlich
mittels offener Kamine. Das war aber angesichts des milden Klimas in der Provinz
Carlan kein Problem. So hatte Peter sich schon immer eine richtige Ritterburg
vorgestellt. Das Parkschloß von Antal war natürlich viel moderner, weitläufiger,
heller und eleganter. Es gab große Fenster, die viel Licht hereinließen, feine
Tapeten, Teppiche und saubere Kachelöfen. Jenen Komfort konnte die Burg
Waldenfels freilich nicht bieten. Dies mochte nicht zuletzt an der Mentalität
des Hausherrn liegen.
Wie
Peter einigen Andeutungen Alissandras entnehmen konnte, war das Verhältnis
zwischen den Brüdern nicht gut. Vor vielen Jahren hatten sie sich im streite
getrennt, worauf Arlin in das alte Stammhaus nach Waldenfels zurückgekehrt war,
während Alissandras Vater in Antal ein neues modernes Schloß errichten ließ,
welches gänzlich dem aktuellen Zeitgeschmack entsprach. Worüber sich die Brüder
entzweit hatten, hatte Peter nicht in Erfahrung bringen können. Über dieses
Thema schien man in der Familie nicht gern zu sprechen und Peter wollte nicht
weiter in Alissandra dringen. Er sollte ohnehin bald alles erfahren.
Nachdem
sich die vier jungen Leute erfrischt und ausgeruht hatten, blieb noch etwas Zeit
bis zum Abendessen, welche ein jeder für sich allein verbrachte. Alissandra saß
bei der Tante, die sehr neugierig war, die Erlebnisse und Abenteuer ihrer Nichte
zu erfahren.
Wilo
interessierte mehr die Waffensammlung und ein ganz besonderes Interesse brachte
er dem Weinkeller entgegen.
Peter
und Tamina schließlich zog es in die Bibliothek. Letztere war besonders erpicht
darauf, jenen geheimnisvollen Ort, den sie nur vom Hörensagen kannte, mit
eigenen Augen zu bestaunen. Es waren weniger die Bücher selber, welche sie
interessierten, als vielmehr der Gedanke, daß es einen Ort gäbe, wo man das
Wissen und die Erfahrung vieler Generationen gleichsam mit Händen greifen
konnte.
Die
Bibliothek befand sich in einem großen hohen Saale, der zugleich auch den Zweck
eines Bilderkabinetts erfüllte. Tagsüber mußte der Raum einen hellen,
freundlichen Eindruck machen, denn die Fenster waren nachträglich vergrößert
worden und reichten bis fast an die Decke. Jetzt am Abend freilich wirkte der
Raum eher unheimlich. Das Licht der wenigen Kerzen verlor sich in der Weite des
Landes und der flackernde Schein eines kleinen Kaminfeuers tat ein Weiteres zur
Förderung jener Atmosphäre. Was die Bücher anbelangt, so mußte Peter enttäuscht
feststellen, daß diese Bücherei nur einen Bruchteil dessen darstellte, was er
in Antal gesehen hatte. Es mochten insgesamt nicht einmal tausend Bände sein,
die in drei hohen Schränken untergebracht waren.
Es
waren hohe Eichenschränke mit kleinen runden und eckigen, bleigefaßten
Glasscheiben, in den Türen. Die Bände, welche sich hinter den schweren Türen
verbargen, waren ziemlich alt und dick. Peter versuchte die verblaßten Titel
auf den vom Alter brüchig gewordenen Lederrücken zu entziffern. Aber kaum
einer der Bände konnte sein Interesse wecken.
Ganz
anders bei Tamina. Sie war von dem Anblick der Bücher geradezu verzückt und
verlangte, daß Peter die Schränke öffnete. In ihrem ganzen Leben hatte sie
noch nie so viele Bücher gesehen. Sie kannte vielleicht ein gutes Dutzend Bücher
aus der Schule und von Zuhause. Das lag allerdings nicht etwa daran, daß sie
nicht richtig lesen konnte — im Gegenteil. Das Schulsystem in Arkanien war
vielleicht nicht so gut, wie bei uns, doch gab es kaum Kinder, die wenigstens
die Ausbildung einer Grundschule genossen. Auch kannte man die Druckerpresse.
Aber ohne die Hilfe der Elektrizität oder Dampfkraft war die Herstellung von Büchern
sehr aufwendig und kostspielig, und ihr Besitz somit nur einer relativ kleinen
Schichte vorbehalten.
Einen
um den anderen der staubichten Bände mußte Peter aus den Regalen ziehen und
nicht selten waren gerade die auf den obersten Brettern stehenden Folianten für
Tamina die interessantesten. Ehrfürchtig schlug sie die vergilbten Seiten auf,
schnupperte vorsichtig den Duft vergangener Tage und betrachtete fasziniert die
kunstvollen Holzschnitte und farbigen Illuminationen.
»Peter,
sie dir nur das hier an! Ist das nicht märchenhaft? So habe ich es mir immer
vorgestellt. Und — Oh! — Diese Bücherei ist ja hundertmal größer, als
diese hier.« Peter wunderte sich. »Was hast du denn da aufgestöbert?« Er
beugte sich über ihre Schulter. Tamina hatte eine reich bebilderte Chronik der
arkanischen Könige und Herrscher entdeckt. Sie hielt gerade das Kapitel
aufgeschlagen, welches dem Königspalaste in Caliban, der alten Hauptstadt
Arkaniens, gewidmet war. Wie gebannt starrte Peter auf die Zeichnungen des weitläufigen,
vieltürmigen Palastes mit der mächtigen goldenen Kuppel und der gewaltigen
Eingangstreppe, die von zwei riesigen steinernen Löwen eingesäumt wurde,
welche als ewige Wächter das Hauptportal hüteten. Er sah die prächtigen Säle
mit den Spiegeln und funkelnden Leuchtern, die Bibliothek, die so groß war, das
sich zwei Galerien an ihren Wänden entlang zogen. Bangen Herzens fragte er
sich, ob er tatsächlich eines Tages in dem prächtigen Palaste wohnen und
herrschen würde.
Tamina
blätterte weiter, was ihr gar nicht leicht fiel, denn das Buch war riesengroß
und schwer und ließ sich kaum mit einer Hand festhalten. »Was ist das?«
fragte Peter, dem ein Bild besonders aufgefallen war. Er beugte sich weiter nach
vorn über Taminens Schulter und deutete mit dem Zeigefinger auf ein
herausstechendes Gebäude in der Nähe des Palastes.
»Meinst
du die Marställe?«
»Nein,
dies hier.« Er versuchte mit der linken Hand Taminens üppiges blondes Haar
etwas zu bändigen, welches ihm nicht nur in der Nase kitzelte, sondern auch die
Sicht behinderte.
»Das
ist die Gruft, wo König Brunnar der Starke…« Ein Schnauben hinter ihrem Rücken
unterbrach sie.
Alissandra
stand in der Tür. »Ich wollte euch nicht stören. Wie ich sehe seid ihr gerade
beschäftigt. Ich sollte euch nur bestellen, daß im kleinen Speisesaal
angerichtet ist.« — Rumms! flog die Tür ins Schloß. Peter und Tamina
starrten einander entgeistert an. Was hatte Alissandra jetzt wieder?
»Sie
wird doch nicht etwa gedacht haben, daß…« Peter schüttelte den Kopf. Ein
roter Schimmer flog über Taminens Gesicht. Dann wandte sie rasch den Blick ab
und verstaute das Buch an seinem Platze, während Peter sie Kerzen löschte.
Der
kleine Speisesaal war nicht besonders klein, wie Peter fand. Eine lange Tafel,
an welcher gut ein Dutzend Personen Platz fanden, stand in der Mitte des Raumes.
An der Längsseite verstrahlte ein gewaltiges Kaminfeuer wohlige Wärme. Der
Tisch war mit schweren weißen Tüchern gedeckt. Teller aus Zinn und silbernes
Besteckt und Kelche, sowie kunstvoll gestaltete Platten und Leuchter bildeten
das rustikale Gedeck. Bunte Sträuße der ersten Frühjahrsblumen lobten die tüchtige
Hausfrau. An den Enden der Tafel nahmen die Gastgerber Platz. An der einen Seite
saßen Alissandra, Peter, Tamina und Wilo, sowie ein bleiches, hochgewachsenes Mädchen,
das sich als eine entfernte Cousine Alissandras, die auf Besuch weilte,
herausstellte. Ihnen gegenüber nahmen einige Herrschaften des Hofstaates,
darunter ein schlanker junger Mann mit fuchsrotem Haar und einer runden
Zwickerbrille auf der Nase. Er war der Privatsekretär des Grafen; ein
talentierter, vielversprechender Bursche, dem gewiß eine glänzende Zukunft
bevorstand, wie Onkel Arlin mit einem Blick auf die Base vergnügt bemerkte.
Der
junge Mann, der die Base die ganze Zeit schon über den Rand seiner Brille
angeschaut hatte, errötete und griff rasch nach dem Weinkrug.
Die
Unterhaltung lief leicht und flüssig. Ein jeder bemühte sich, brisante Themen,
wie Politik, den Regenten, die Gefahr eines bevorstehenden Krieges und ähnliches,
nicht anzuschneiden, und so genoß ein jeder der köstlichen Speisen und würzigen
Weine, welche auf silbernen Platten und fein verzierten Porzellanschüsseln
dargereicht wurden.
Man
konnte sehen, daß Graf Arlin eine weitaus glücklichere Hand in
Geldangelegenheiten hatte, als sein jüngerer Bruder. Aber vielleicht lag das
auch daran, daß Waldenfels weiter von der Hauptstadt entfernt lag, und man hier
der Willkür des Regenten und dessen Steuereintreibern weniger unmittelbar
ausgeliefert war, als in Alt-Arkanien.
Die
Mahlzeit dauerte der Förmlichkeiten und der Vielzahl der aufgetragen Gänge
wegen fast zwei Stunden. Für Peter, der zwischen Tamina und Alissandra saß,
waren es die längsten zwei Stunden seines Lebens.
Er
wagte kaum, den Blick nach links oder nach recht zu wenden. Nur aus dem
Augenwinkel schielte er mal nach der einen, mal nach der anderen Seite; und
immer wenn sich zwei verstohlene Blicke trafen, wandten sie sich rasch nach der
gegenüberliegenden Seite, als wären sie voneinander abgeprallt.
Gegen
elf Uhr schließlich teilte sich die Gesellschaft in kleine Gruppen auf, die
dich in die umliegenden Räume und Salons verstreuten. Alissandra wollte den
Oheim nach Callidon befragen. Peter zauderte einen Augenblick, sich ihr
anzuschließen, ließ diesen Gedanken jedoch fast im nämlichen Augenblick
fallen, als er sah, daß sie ihm einen giftigen Blick zuwarf, sich dann bei Wilo
einhakte und mit ihm in Richtung der Bibliothek abzog. Wilo, der nicht wußte,
wie ihm geschah, ließ sich leicht verwirrt beiseite ziehen. Peter fiel nichts
anderes ein, als ihnen mit offenem Munde hinterher zu starren, was von
Alissandra mit einem hämischen Grinsen zur Kenntnis genommen wurde.
Peter
konnte nicht mehr drinnen bleiben, bei allen anderen, denen die kleine Szene
nicht verborgen geblieben war. Er wollte hinaus an die frische kühle Nachtluft.
Er empfahl sich höflich und lief rasch nach der Halle, wo eine kleine Tür in
den seitlichen Teil des Gartens führte.
Die
klare, reine, nach Blüten duftende Luft, die ihm umfing, brachte ihm angenehme
Erfrischung nach der dumpfichten Wärme, des Speisesaales mit dem für die
Jahreszeit viel zu großen Kaminfeuer. Voller Unrast schritt er auf den
kiesbestreuten Wegen auf und ab.
Wie
er ihn haßte, diesen Wilo! Was war nur in Alissandra gefahren, daß sie sich
diesem Windhund förmlich an den Hals warf. Was hatte jener, was er nicht besaß?
er war groß, schlank, kräftig, sah gut aus, hatte eine widerliche schleimige
Art. Stets höflich und zuvorkommend. Beherrschte alle höfischen Sitten und
Gepflogenheiten. Peter sah ein, daß er bei diesem Vergleich den kürzeren
ziehen mußte. Aber kam es denn wirklich nur auf derlei Dinge an? Warum sind
Frauen nur so oberflächliche Geschöpfe? dachte er. Eine schöne Maske, ein
paar flattierende Worte, und schon verschwindet der Wolf und verwandelt sich in
ein unschuldiges Lamm, und alle Herzen fliegen ihm zu.
Vor
einem der erleuchteten Fenster blieb Peter stehen. Leise pirschte er sich heran,
sorgsam darauf bedacht, auf dem knirschenden Kies so wenig Geräusch wie möglich
zu machen. Es war das Fenster zur Bibliothek. Dahinter befanden sich Alissandra,
ihr Onkel und Wilo. Die drei saßen an einem Tisch und tranken Glühwein und aßen
dazu eine Art süßer Lebkuchen-Pläzchen. Der Schlo0herr hatte einen Stapel
Papiere vor sich ausgebreitet, aus welchen er zuweilen laut vorlas. Peter
vermochte zwar nicht hören, was drinnen gesprochen wurde, doch interessierte
ihn dies im Augenblick auch weniger. Er sah nur Alissandra, verfolgte jede ihrer
Bewegungen und Gebärden. Und jedes Mal, wenn sie lächelte und er die entzückenden
Grübchen auf ihren Wangen sah, spürte er einen Stich im Herzen. Merkte sie
denn nicht, wie er für sie empfand? Sprach denn nicht ein jeder seiner Blicke
eine deutlichere Sprache, als tausend Worte? Oder war er ihr wirklich so gleichgültig?
Ein
leises Geräusch hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren. »Erwischt! Na,
na, das gehört sich aber nicht«, ließ sich eine helle Stimme in gespielter
Strenge vernehmen. Schuldbewußt fuhr er herum; es war Tamina. Diese Begegnung
kam ihm wirklich mehr als nur ungelegen.
»Ich
— äh — Was machst du hier, mitten in der Nacht? Schleichst dich von hinten
an.« Angriff war jetzt die beste Verteidigung.
»Ich
habe dich ‘nausgehen gesehen. Und weil du dir keinen Mantel übergezogen hast,
hab ich mir gedacht, dir würde vielleicht kalt sein. Deshalb habe ich dir einen
Becher Glühwein mitgebracht.« Sie streckte ihm einen Becher des dampfenden, würzigen
Getränkes entgegen. Die gute Tamina! Es war wirklich rührend, wie sie ihn
umsorgte. Er nahm den Becher und kostete ein wenig von der Süßen duftenden Flüssigkeit.
Gemeinsam gingen sie ein Stück des Weges, bis sie zu einer hölzernen Bank
kamen. Sie setzten sich nebeneinander hin. Eine Weile blickten sie einander nur
stumm an. Keiner wußte recht, was sagen. Die Nacht war hell und sternklar.
Peter fragte sich, ob die gleichen Sterne über Arkanien leuchteten, wie über
seiner eigenen, verschwundenen Heimat.
Zu
Hause hatte er sich nie die Mühe gemacht, sich den Sternenhimmel genauer
anzusehen. Hier aber schienen diese winzigen, funkelnden Nadelspitzen am
Firmament plötzlich eine besondere Faszination auf ihn auszuüben. Vielleicht
lag es daran, daß er vor seiner Ankunft in Arkanien niemals im Freien übernachtet
hatte.
»Sind
die Sterne auch so unendlich schön, da wo du herkommst?« fragte Tamina leise,
wie um den Zauber des Augenblicks nicht zu stören. Peter sah sie an. In ihren
Augen spiegelte sich das diamantene Sternenlicht. Ihrer großen dunklen Pupillen
waren ein verkleinertes Abbild des Sternenhimmels.
»Ich
weiß nicht. Vielleicht. Irgendwie sehen die Sterne in Arkanien anders aus,
irgendwie geheimnisvoller, schöner. Aber ich weiß nicht, woran das liegt.«
»Manchmal
frage ich mich, wie es dort oben auf einem Stern wohl aussehen mag. Vielleicht
liegt dort eine ganz andere Welt, ein Ort, wo es schön und licht ist, wo Liebe
und Gerechtigkeit herrschen, wo nie ein böses Wort fällt, nie eine Träne
quillt.« Lag es an dem Licht, lag es an der besonderen Stimmung dieses
Augenblickes, daß Peter mit einem Male gewahr wurde, daß das schüchterne,
geduldige, in sich gekehrte Mädchen an seiner Seite mehr war, als nur die
Tochter eines Räuberwirtes aus dem Waldstedter Wald. Zum ersten Male seit der
Nacht im Räuberlager fiel ihm bewußt auf, daß Tamina schön war. Es war nicht
jene anmutige, unnahbare Schönheit, die sogleich alle Blicke an sich zieht, wie
bei Alissandra. Taminens Schönheit rührte vielmehr von innen. Bedurfte es der
dunklen Nacht, der Abwesenheit von Sonne und Mond, um die Gestirne in ihrer
vollen Pracht sichtbar werden und richtig funkeln zu lassen, so bedurfte es
vielleicht auch nur eines besonderen Augenblicks, einer unbeschreiblichen
Konstellation, um das Funkeln und den Zauber in Taminens Augen sichtbar werden
zu lassen.
Peter
war von diesem Zauber ganz berückt. Später konnte er nicht erklären, was
genau mit ihm geschehen war. Tamina wandte langsam ihr Antlitz zu ihm. Ihr
Gesicht, erschien ihm wie das eines Engels. Der Blick ihrer tiefblauen Augen,
der tief in sein Innerstes drang, tat ihm wehe. Peter legte sanft seinen Arm um
ihre Schultern. Dann küßte er sie sachte. Er spürte noch, wie eine zärtliche
Hand sich um seinen Hals legte; dann blieb die Zeit stehen.
Er
schloß die Augen. Er fühlte sich leicht und frei. Sein Herz wurde weit. Dann
schienen sie beide zu schweben. Das strenge Gesetz von Zeit und Raum schien
aufgehoben. Sie flogen empor durch die Luft, die Wolken, den schwingenden Äther.
Die Erde verschwand. Ein Licht kam näher, wurde größer und heller. Bald war
es so groß, daß man den Rest des Himmels nicht mehr sehen konnte. Das Licht
wurde hell wie der Mond, hell wie die Sonne, hell wie tausend Sonnen. Aber es
blendete nicht, noch war es glühend heiß. Nun waren sie dem Lichte so nahe, daß
es in Millionen kleiner Lichte zerfiel. Wie ein unendlich großer geschliffener
Diamant das Licht in seinen unzähligen Facetten reflektiert, so schien dies ein
Diamant zu sein, der von innen her in Millionen Farben funkelte und strahlte.
Das Licht war jetzt so hell und allumfassend, daß es alles durchdrang und alles
erfüllte. Sie waren am Ziele angelangt. Ein millionenfaches Funkeln und Gleißen.
Eine Myriade winziger Flächen strahlte ein Licht aus, das dem Innern des Körpers
zu entspringen schien. Eine jede der kleinen glatten Flächen gab den Blick auf
ein anderes Bild frei. Wie durch ein Vergrößerungsglas blickten sie hinein in
den unendlichen Kristallkörper. In ihm und durch ihn sahen sie in die andere
Welt. Sie waren auf einem Stern. Was sie in diesem winzigen Augenblick sahen, würden
sie niemals beschreiben können und doch sollten sie das Erfahrene nimmer mehr
vergessen können.
Peter
schlug die Augen auf. Sie befanden sich wieder — oder immer noch — im
Garten. Taminens Antlitz zeigte Freude und Verklärung. Die Tränen liefen ihr
über die farblosen Wangen. Sie ließ Peters goldnen Anhänger, den sie fest
umklammert hatte, los und sprang auf und rannte ungestüm in die Nacht davon.
Wie
lange Peter noch auf der Bank gesessen war, und was in seinem Kopfe geschehen
war, vermochte er nicht zusagen. Später stand er auf, um Tamina zu suchen. Er
fand sie am Rande eines Seerosen-Teiches im feuchten Grase sitzend. Sie hatte
die Knie angewinkelt und die Arme um die Beine geschlungen. Schon von weitem
vernahm Peter ihr Bitterliches Weinen und Schluchzen. Er trat zu ihr hin,
kauerte sich neben sie und legte etwas unbeholfen Seinen Arm um ihre Schultern.
Er wußte nicht, was er sagen sollte; wie er helfen konnte. Er versuchte sie
dazu zu bewegen, vom feuchtkalten Boden aufzustehen. Noch immer weinend vergrub
sie ihr Gesicht in seiner Brust und ließ sich von ihm zu einer nahe gelegenen
Laube führen.
»Bitte
nicht weinen. Ich ertrage das nicht. Was ist dir denn nur?« Peter war ganz
verstört. Es fehlte nicht viel, daß ihm selber die tränen in die Augen
schossen beim Anblick des herzzerreißend weinenden Mädchens. Tamina versuchte
zu lächeln und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Peter wühlte
in seiner Hosentasche — und hatte Glück. Er reichte ihr ein etwas
zerknittertes, aber sauberes Taschentuch. Nachdem sie sich kräftig geschneuzt
und ihr aufgelöstes Haar wieder ein wenig zurechtgemacht hatte, hub sie mit
leiser noch etwas zitternder Stimme an zu sprechen: »Als wir uns… — ich
meine, als wir auf dem Stern waren, da habe ich etwas gesehen…«
»Ich
weiß. Auch ich habe Dinge gesehen, die ich nicht erklären noch beschreiben
kann, und die mir Angst machen. Ich habe mein ganzes bisheriges Leben gesehen.
Alles, woran ich mich nicht mehr erinnern konnte — oder wollte…«
»Bei
mir war es anders«, sagte Tamina leise. »Ich habe meine Mutter gesehen. Ich
sah unser Haus, wie es in den alten Tagen noch schön und gepflegt war. Ich sah,
wie Mutter am Sonntag Kuchen buk und Vater kleine Holzfiguren schnitzte. Das war
bevor er zu trinken anfing. Er hatte ein kleines Holzpferdchen für mich
geschnitzt und Mama hat es mit echtem Haar beklebt und bemalt. Ich besitze es
heute noch. Es ist alles, was mir von ihnen geblieben ist. — Dann sah ich, wie
es immer schlimmer wurde. Vater konnte die hohen Steuern und die Schulden nicht
mehr bezahlen. Mutter wurde krank. Und dann — sah ich sie, wie sie auf dem
Bett lag; bleich und unendlich fern, und überall Kerzen und Blumen. Und heute
— heute habe ich sie wieder gesehen, dort oben. Sie hat gelächelt und gesagt,
es würde alles gut werden und aß wir eines Tages alle wieder beisammen wären
— .« Erneut kämpfte sie gegen das Weinen an. Peter strich ihr zärtlich über
das Haar. Dann fuhr sie fort: »In diesem Augenblick erst habe ich gespürt, daß
ich ganz allein auf der Welt bin. Auf einmal habe ich furchtbare Angst bekommen.
Ich hatte kein Zuhause mehr, keine Freunde, niemand, der sich um mich kümmert.
Ich war immer allein. Nachts lag ich allein in meinem Bett und konnte nicht
schlafen. Dann mußte ich immer an Mama denken, die mir früher Geschichten erzählt
hatte. Mit ihr konnte ich über alles sprechen. Sie hat mich immer verstanden.
Wenn ich nachts Angst vor bösen Geistern hatte und nicht einschlafen wollte,
hat sie mich in ihren Armen gewiegt und in den Schlaf gesungen. — Und dann mußte
ich plötzlich an dich denken. Wie du immer so freundlich und gut zu mir bist.
Und vorhin auf der Bank, als wir und geküßt haben, da glaubte ich für einen
Augenblick… — —
Aber
ich weiß, daß du Alissandra liebst; das sieht man. Und es ist nicht recht,
wenn ich… — weil, sie liebt dich doch auch. — Ihr werdet bestimmt sehr glücklich
werden….«
Peter
zog sie an sich heran und küßte sie sanft auf die Wange. Er sagte: »Du
brauchst keine Angst zu haben, Tamina. Und du brauchst dich auch nicht einsam zu
fühlen oder vor der Zukunft zu fürchten. Ich verspreche dir, daß ich immer für
dich da sein werde. Ich — es fällt mir nicht leicht, das richtig auszudrücken
— habe dich auch sehr gerne und… — — « Er konnte nicht mehr
weitersprechen. Statt dessen drückte er sie fest an sich. Er fühlte, wie sie
seine Umarmung erwiderte. In dieser engen Verbundenheit verharrten sie
minutenlang.
Nach
einer Weile sagte Peter dann: Jetzt wollen wir uns aber schleunigst wieder in
die warme Stube begeben, bevor wir uns noch erkälten.« Sie betraten das Haus
durch die kleine Seitenpforte. Peter warf einen Blick auf die Leuchtziffern
seiner Uhr: Sie hatten über zwei Stunden im Garten verbracht. Im Hause war es
dunkel und stille. Die Bewohner lagen bereits in ihren Betten. Peter brachte
Tamina bis zur Tür ihres Schlafgemachs. Bald darauf lag auch er in den weichen
Daunenkissen seines Bettes. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die
Gesichte, die er auf dem kristallenen Stern gehabt hatte. Er hatte nicht nur —
wie Tamina gegenüber erwähnt — Bilder aus seiner Vergangenheit, sondern auch
aus seiner Zukunft gesehen. Bei dem Gedanken daran, was er noch alles würde
erleben und bestehen müssen, wurde ihm Angst. So dauerte es lange, bis er
Schlaf fand.
Die
Gesichte aber sollte er ebenso wie Tamina bereits am nächsten Morgen vergessen
haben.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:34 |