Gegensätze
Jetzt
wird es aber höchste Zeit, zu berichten, was Alissandra inzwischen erlebte.
Kehren wir also noch einmal in jene Sturmnacht zurück, in der die drei Freunde
aus der Räuberhöhle geflohen waren…
Alissandra
hatte sich tief an Wirbelwinds Hals angeschmiegt, um dem Sturm, der ihr mit
eisigem Atem scharfe Schneekristalle ins Gesicht blies, möglichst wenig
Angriffsfläche zu bieten. Wirbelwind schritt tapfer durch den verharschten
Schnee, den Kopf tief gesenkt, die Ohren flach angelegt, von Zeit zu Zeit die
eingeatmeten Schneeflocken ausschnaubend.
Nach
wenigen Schritten hatten sie den Waldsaum erreicht. In der grauweißen Düsternis
hinter ihr konnte Alissandra nur undeutlich Peter und Tamina auf Mondenglanz
ausmachen, die sich bemühte mit dem größeren Wirbelwind Schritt zu halten.
Alissandra
wußte, daß es irrsinnig war, in solch einem Wetter zu Pferde durch den Wald zu
reiten. Da sie aber als einzige den Weg kannte, der sie rasch durch den Wald führte,
hoffte sie, nach kurzer Zeit einen geeigneten Ort zum Lagern zu finden, wo sie
geschützt den Morgen abwarten könnten. Erschöpft und mit vor Kälte tauben
Fingern hielt sie die Zügel und kämpfte gegen eine bleierne Müdigkeit an, die
teils durch die Kälte, teils durch die Entbehrungen der letzten Tage
verursacht, von ihr Besitz nahm.
Endlich
mußte sie wohl der Müdigkeit nachgegeben haben, denn auf einmal gewahrte sie
sich zu Wirbelwinds Füßen — will sagen Hufen — bäuchlings im Schnee
liegen. So es ihre schwachen Kräfte erlaubten, rappelte sie sich wieder auf und
klopfte sich den Schnee aus Haar und Kleidung. Sie beruhigte Wirbelwind, der
durch ihren Sturz erschrocken, nervös umhertänzelte.
Das
Schneetreiben hatte ein wenig nachgelassen, und so war die Sicht etwas besser
geworden. Voller dunkler Ahnungen blickte sie zurück in die Richtung aus der
ihre Fährte im Schnee rührte. Doch so weit sie sehen konnte, war nichts von
Mondenglanz oder Peter und Tamina auszumachen.
Voller
Schrecken griff sie nach den Zügeln und zerrte das widerstrebende Pferd, das
sich nur widerwillig wenden ließ, heftig hinter sich her; zurück in die
Richtung, aus welcher sie gekommen waren. Mit jedem Schritt wuchs ihre Sorge.
Nach einigen hundert Metern mußte sie ihre verzweifelte Suche abbrechen, da
sich ihre eigene Spur im heftigen Schneetreiben zu verwischen begann. Immer
wieder rief sie aus Leibeskräften nach den beiden. Aber alles, was sie zu hören
bekam, war das giftige Zischen des Windes und das Ächzen und Knirschen der
gebeutelten Bäume.
Voller
Angst und tiefster Verzweiflung preßte sie ihr Gesicht in das zerzauste
Winterfell ihre geliebten Pferdes. Ihr Weinen und die bitterlichen Vorwürfe,
die sie sich für den Verlust der Gefährten machte, gingen in dem Sturme unter.
Etwas
später begann sich das Wetter zusehends zu bessern; der Sturm hatte bereits
deutlich nachgelassen, als sie ihre Suche fortsetzte. Allein ihre Bemühungen,
die Freunde wieder zu finden, blieben vergebens. Für Alissandra gab es nur noch
eine einzige Hoffnung: Die beiden mögen sich in Sicherheit gebracht haben und
waren vielleicht schon auf dem Weg nach Carlan, dem verabredeten Treffpunkt.
Dorthin wollte sie sich unverzüglich begeben.
Mit
jeder Meile, die sie sich dem Ziele näherte, wuchs ihre Angst, Peter für immer
verloren zu haben. Was, wenn er nicht mehr an dem Treffpunkt ankäme? Warum
hatte ihr letzter gemeinsamer Abend im Streit enden müssen? Von derlei quälenden
Gedanken getrieben, kam sie nach zwei Wochen ratloser Suche und vergeblichem
Fragens und Forschens in Austernthal an, einem winzigen Städtchen, das seinen
ungewöhnlichen Namen einem mystischen Ereignis in grauer Vorzeit zu verdanken
hatte. (Wen die Geschichte interessiert, dem sei die Lektüre des großartigen
Geschichtswerkes »Über das Leben und die Sitten der Alten — Großer Codex
der Arkanischen Geschichte von den allerersten Anfängen bis in unsere heutige
Zeit.« von Aurel Cœlestinus Arkanius, dem berühmten arkanischen Historiker
dringend anempfohlen.)*
Austernthal
war ein ganz gewöhnlicher Ort, der hauptsächlich vom Handwerk und der
Landwirtschaft lebte.
Alissandra
hatte nicht vor, lange zu verweilen. Sie beabsichtigte nur etwas Proviant für
die Weiterreise zu besorgen. Sie hatte Glück, denn es war gerade Markttag; und
so mischte sie sich unter die Leute, die den kleinen aber scher schmucken
Marktplatz in der Mitte des Ortes bevölkerten.
Der
Markt von Austernthal war nicht zu vergleichen mit den großen wohlgeordneten Märkten
von Carlan oder der Hauptstadt. Es herrschte vielmehr ein buntes Durcheinander
von allerlei fliegenden Händlern und Bauern, die ihr erstes Frühjahrsgemüse,
ihre Eier, Federvieh und mannigfaltige in Heimarbeit gefertigten
Gebrauchsgegenstände feilhielten.
Es
gab etwa ein Dutzend kleiner und kleinster Stände — die einfachsten bestanden
aus einem alten Weib oder lautstark ausrufenden Krämer und deren Bauchladen.
Ziellos
schlenderte Alissandra von Stand zu stand; die Auslagen beachtete sie kaum. Sie
kaufte hier und dort einige Äpfel und Brot, etwas harten Käse und Pökelfleisch
und andere haltbare, leicht zu transportierende Lebensmittel. Noch während sie
einige Dörrpflaumen prüfte, schweifte ihr Blick über einen Korb voller süßer
Zuckergebäck. Sehnsüchtig dachte sie an die vielen Leckereien, die sie zu
Hause so selbstverständlich zu naschen gewohnt gewesen, und jetzt würde sie
sich nicht einmal die kleinste unnötige Ausgabe leisten können. Zum Beispiel
einen jener leckeren, süßen Honigkuchen, mit denen sie als kleines Kind ihr
Pferdchen zu füttern pflegte.
Ganz
in diesen süßen Erinnerungen versunken, wurde sie jäh von einem lautstarken
Gezeter und Geschrei aufgeschreckt.
»Mach’
dich fort, du gefräßiges Biest! Willst du wohl meine schönen Äpfel in Ruhe
lassen!« Ein dickes rotwangiges Weib in einem alten Flickenrock stürzte hinter
seinen Körben hervor und vertrieb den genäschigen Wirbelwind mit einem Hieb
auf die Schnauze. Das Tier erschrak heftig und wich mit einem Ausdruck ungerecht
verfolgter Unschuld zurück. Kaum daß sich Alissandra dem Geschehen zuwenden
konnte, da fühlte sie sich bereits heftig am Ärmel gepackt.
»Nu’
schau der mal de Bescherung an, was dein Gaul da ang’richt’ het. Meine
scheene Äppel het er g’fresse. Aber de feine junge Leit glaube ja se kenne
sich alles erlaube. Aber nich met mir!« Schimpfte die Bäuerin in dem
unverwechselbaren Dialekt dieses Landstrichs.
»Ei!
Frau Nachbarin, was gibt’s denn hier?« wandte sich ein anderes Marktweib vom
Stand gegenüber hinzu.
»Die
Äppel bezahlste mer aber nu’. Un’ zwar auf Heller und Penning! Des Viech
het mindestens zwe Dotzend aag’fresse, abg’sehe von dene, die wo’s ganz
aufg’fresse het.« Alissandra stammelte einige Worte des Bedauerns und der
Entschuldigung und stellte sich schützend vor das Pferd, das mit angelegten
Ohren und hoch aufgerichtetem Kopfe vor dem drohend durch die Luft geschwungenen
Besen der Marktfrau zurückwich, mit welchem jene wohl die aufgefressenen Äpfel
aus dem Tier herausprügeln wollte. Furchtsam wich das Tier einige Schritte zurück
und trampelte dabei den Stand der Frau Nachbarin über den Haufen, welche nun
ihrerseits ein lautes Geschrei anstimmte. Körbe stürzten um, Kartoffeln und Äpfel,
Eier und Birnen kollerten über das Pflaster, kamen aber nicht weit, da sich
viele der Schaulustigen, vor allem die Kinder hier gratis bedienten. So entstand
bald ein heftiges Gedränge um die wohlfeile Beute. Alissandra sah sich plötzlich
von einem Dutzend Schaulustiger umringt, die sie teils mit Drohungen und Flüchen
bedachten, teils in schadenfroher Neugier gafften.
Wäre
nicht in diesem Augenblick die Stadtwache, welche die Aufsicht über den Markt
hatte, in Gestalt zweier mit Hellebarden bestückter Stadtknechte auf dem Platze
erschienen, wer weiß ob es nicht noch zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre.
Die
unglückliche Alissandra wußte nicht, ob sie sich hierüber freuen oder ärgern
sollte, wurde sie doch vor der aufgebrachten Menge in Sicherheit gebracht, wo
sie sich alsbald der versammelten Staatsmacht ausgeliefert sah.
Während
der eine der beiden Stadtknechte die Schaulustigen vertrieb, versuchte der
andere, die erhitzten Gemüter der Beteiligten zu besänftigen und die
Angelegenheit zu klären.
»Also,
mein Kind. Wie heißt du und was ist dein Geschäft hier in der Stadt?« fragte
er Alissandra.
»Ich
bin Aliss… äh… Selina aus Bärendorf. Ich will meine Oheim in Carlan
besuchen.«
»Ganz
allein? das ist aber höchst ungewöhnlich und unschicklich.«
»Oh!
Ich — ich habe noch einen älteren Bruder, der wurde unterwegs aufgehalten,
weil sein Pferd plötzlich lahmte und so hat er mich vorausgeschickt«, log sie
tapfer.
»Ein
seltsamer Bruder, der seine kleine Schwester in eine fremde Stadt schickt. Wie
dem auch sei. Du wirst den Schaden bezahlen müssen…«
»Jawohl!
drei Taler sind es mindestens. All die scheene Äppel und die Kerb…« heulte
die Marktfrau und rang die Hände, wohl bemerkt habend, daß Alissandra nach
einem guten Fang aussah. Ein Mädchen, das mit so feinen Kleidern angetan war
und einen edlen Braunen mit kostbarem Sattel und Zaumzeug besaß, mußte aus
reichem Hause stammen. Dies hatte auch der Stadtknecht bemerkt, und so war er
darum bemüht, um allfällige Scherereien zu vermeiden, die ganze leidige
Angelegenheit so rasch und unauffällig wie möglich über die Bühne zu
bringen.
»Also
jetzt bezahlst du die drei Taler für die verdorbenen Früchte und die
zerbrochenen Körbe und dazu noch zehn Taler Strafe für die Stadtkasse und
damit hat es sich.« Alissandra wurde es ganz flau im Magen. Sie zückte ihren
Geldbeutel und warf einen besorgten Blick hinein. Sie hatte es geahnt; es waren
keine sieben Taler mehr drin. Den Hauptteil ihrer Reisekasse verwaltete Peter.
»So
viel habe ich nicht bei mir. Und außerdem sind die paar Äpfel nicht drei Taler
wert und die Strafe ist viel zu hoch.«
»So,
jetzt hör mir mal gut zu, Mädchen«, mischte sich der andere Stadtknecht, ein
hochgewachsener flachsblonder Kerl mit sommersprossigem Gesicht und spärlichem
Bartwuchs ein. »Wenn du nicht bezahlen kannst oder willst, dann nehmen wir dein
Pferd als Pfand, bis dein Bruder das Geld bringt oder der Stadtrichter über
deinen Fall entscheidet. Oder willst du etwa an den Pranger?«
Alissandra
kämpfte gegen den in ihr aufsteigenden Ärger an. Wenn der Kerl wüßte, wem er
hier mit dem Pranger drohte. Allein es half alles nichts. Schließlich mußte
sie sich aufs Bitten verlegen. Doch je größer ihre Verzweiflung wuchs, desto kälter
und unfreundlicher würde der Büttel. Schließlich nahm der Dicke Wirbelwinds Zügel
in die Hand und machte Anstalten, ihn abzuführen, während der Lange Alissandra
abschüttelte.
»Halt!
Bitte wartet doch!« reif sie ihnen nach. »Ich will ja alles bezahlen.« Sie
griff sich an den Hals und brachte ein goldenes Kettchen zum Vorschein. Daran
hing ein kleiner siebenzackiger Stern aus reinem Golde; ein arkanischer Glücksbringer,
den sie als kleines Kind von ihrem Oheim, dem Grafen Arlin geschenkt bekommen
hatte. Sie hatte ihn alle die Jahre stets bei sich getragen und legte ihn bei
keiner Gelegenheit ab.
»Ich
habe kein Geld, aber dies hier ist reines Gold und es ist bestimmt viel mehr
wert als dreizehn Taler.« Mit zitternden Händen und blutendem Herzen reichte
sie das teure Kleinod dem gierig danach grabschenden Stoppelbart, der es sorgfältig
in Händen wog.
»Also
gut, nimm deinen Gaul und verlasse sofort die Stadt.«
»Aber
ich…«
»Sofort,
habe ich gesagt«, schnitt ihr der Lange das Wort ab.
Voller
Bitterkeit schwang sich Alissandra auf Wirbelwinds Rücken und ritt langsam und
mit stolz erhobenen Hauptes trotzig über den Marktplatz in Richtung Süden der
Landstraße zu.
Eine
dunkel gekleidete Gestalt, die dem Geschehen aufmerksam zugeschaut hatte, folgte
ihr in einigem Abstand. Wenig später blieb der Unbekannte stehen und schien
sich etwas zu besinnen. Dann machte er rasch kehrt und eilte in
entgegengesetzter Richtung davon.
Unweit
der Stadt hielt Alissandra an und stieg ab; sie ließ Wirbelwind frei und
bereitete sich vor, am Saume eines kleinen Gehölzes zu lagern. Ihre Stimmung
war auf einem Tiefpunkt angelangt. Der Ärger über ihr eigenes Fehlverhalten
mischte sich mit übermächtiger Frustration über die Art ihrer Behandlung
durch die Leute in Austernthal.
»Du
bist an allem Schuld, du blödes verfressenes Vieh!« fuhr sie ihren treuen
Braunen an, der erschrocken vom Grasen abließ und einige schritte auf sie
zukam. »Starre mich nicht so dumm an, mit deinen großen Braunen Augen. Das
hilft dir nichts. Wenn du die Äpfel nicht gefressen hättest, dann hätte ich
noch mein Geld und den Stern.«
Wirbelwind
ließ die Ohren hängen. Er verstand zwar den Sinn ihrer Worte nicht, wohl aber
spürte das sensible Tier aus dem Klang ihrer Stimme, daß sie böse mit ihm
war. Aber nicht lange danach lief sie zu ihm hin und streichelte zärtlich
seinen Hals.
»Ich
hab’s ja nicht so gemeint. Du bist doch alles, was ich noch habe. Für alles
Gold und Silber auf der Welt würde ich dich nicht hergeben.« Wirbelwind, über
diesen unerwarteten Stimmungswandel überrascht, spitzte vorsichtig die Ohren
und rieb seine Nase an Alissandras Schulter.
Am
liebsten wäre sie sogleich weitergeritten, aber sie mußte nicht zuletzt auch
aus Rücksicht auf ihr Pferd eine Rast einlegen und ihm Gelegenheit lassen, sich
an dem jungen Gras, das überall aus der Erde zu sprießen begonnen hatte, satt
zu fressen. Unterwegs war es schwierig, stets das geeignete Futter für ihn zu
bekommen, und bei dem Tempo ihrer Reise blieb nicht immer genug Zeit für einen
ausgiebigen Weidegang. An einigen Stellen konnte man daher auch bereits die
Rippen sich unter dem Fell abzeichnen sehen. Trotzdem war Wirbelwind in bester
Form und einige Tage der Ruhe und des besten Futters würden ihn schöner und kräftiger
denn je erscheinen lassen.
Auch
selber hatte sie sich verändert. War sie noch vor wenigen Wochen das verwöhnte
Prinzeßchen gewesen, das sich ein Vergnügen daraus gemacht hatte, wie ein
Junge in den Wäldern herumzustreifen, zu jagen, reiten und fechten, kurz ihre
Zeit alles andere als auf eine einer jungen Dame ihres Standes geziemenden Weise
zu vertreiben, so mußte sie sich nun den ernsten Seiten des Lebens stellen. Aus
den mutwilligen Spielen der Jugend war bitterer Ernst geworden. Sie befand sich
nicht mehr in den Schloßgärten und den herzoglichen Forsten, sondern in der
rauhen Wildnis; einsam und vogelfrei. Von ihren Fähigkeiten, allein in der
Wildnis zurechtzukommen, hingen ihre Freiheit und ihr Wohlergehen ab. Ihr
Gesicht hatte einen ernsteren Zug angenommen. Ihre Augen blickten etwas schärfer,
ihr Mund war ein wenig härter und trotziger, ihr Gang elastischer und ihre
Bewegungen geschmeidiger geworden. In ihrem tiefsten Innern fühlte sie sich
aber alles andere als stark und mutig. Sie wurde sich plötzlich bewußt, wie
verlassen sie war. Ihre einzigen Freunde waren verschwunden, ihr Bruder weilte
irgendwo in fernen Landen und ob sie ihre Eltern und Verwandten jemals
wiedersehen würde, war höchst ungewiß. Sie verspürte eine nie gekannte
Sehnsucht nach ihrem Zuhause, nach ihrem Zimmer, dem weichen Bett, dem Korb mit
den jungen Hündchen in der Schloßküche; nach ihrer alten Amme, die sie immer
mit Leckereien versorgt und mit einer guten Geschichte zu trösten gewußt hatte
und die stets darum besorgt war, daß sie warm angezogen war und nicht zu lange
in den dunklen Wäldern blieb. Sie dachte an ihre Mutter, die ihr immer wieder
versucht hatte beizubringen, wie man sich als Dame zu benehmen hatte und die
eine unendliche Geduld aufbrachte, um ihr beizubringen, wie man einen
Kissenbezug mit dem Familienwappen bestickte. Ihre Gedanken waren bei ihrem
Vater, der sie heimlich in der Falknerei unterwiesen hatte und er ihr zu ihrem
letzten Geburtstag Wirbelwind, das schönste und schnellste Tier des
herzoglichen Gestüts geschenkt hatte; und bei ihrem Bruder, der ihr beigebracht
hatte, wie man mit dem Degen focht, wie man den Speer warf und mit dem Bogen
schoß. Alle diese Erinnerungen kamen ihr zur gleichen Zeit in den Sinn. Sie
waren alle so frisch und jung, als hätte sie alles eben erst erlebt; und doch
hatte sie zugleich das Gefühl, als sein alles über hundert Jahre her.
Sie
stand auf und rieb sich verschämt eine kleine Träne aus dem Auge. Nein, sie
wollte nicht weinen sondern tapfer und männlich alle Ungemach ertragen, die ihr
das Schicksal bereiten würde. Sie würde ihre Freunde suchen gehen und wenn sie
noch am Leben waren, so würde sie sie finden; und sollte es den Rest ihres
Lebens dauern.
Wirbelwind
hatte sich grasend einige Meter entfernt und Alissandra wollte gerade nach ihm
schauen gehen, als sie ein leises Geräusch hinter ihrem Rücken vernahm. Sie
hielt den Atem an, um besser horchen zu können. Erneut vernahm sie ein leises
Rascheln. Es mußte aus dem Gestrüpp am Waldrand kommen.
Aber
noch ehe sie sich umdrehen konnte, da wurde ihr auf einmal von hinten etwas über
den Kopf gestülpt. Ihr wurde schwarz vor Augen. Kräftige Arme packten sie und
hielten sie eisern umklammert. Im Nu waren ihr die Hände mit Stricken
zusammengebunden. Der Überfall war gut vorbereitet. Sie schrie und strampelte
mit den Beinen, aber es half alles nichts. Sie spürte, wie sie emporgehoben und
über den Hals eines Pferdes gelegt wurde. Gleich darauf stieg ihr Entführer
ebenfalls in den Sattel und im Trab ging es davon.
Der
Ritt dauerte zwar nicht lange, aber für die arme Alissandra war es die reinste
Tortur. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Pferd endlich anhielt. Bäuchlings
über einem Pferderücken zu hängen wie ein Sack Kartoffeln und im Trab
durcheinandergeschüttelt zu werden, ist wahrlich kein Vergnügen; ist es doch
auf manchen Pferden schon anstrengend genug den Trab auszusitzen. Alissandra mußte
einsehen, daß Schreien und Zappeln sinnlos waren. Zum Schreien fehlte ihr der
Atem und außerdem lief sie Gefahr, kopfüber hinunter zu stürzen und sich
schwer zu verletzten. So gab sie Ruhe und versuchte so gut es ging die Balance
zu halten. Obgleich ihr bald speiübel war und ihr Bauch fürchterlich weh tat,
versuchte sie die Fesseln zu lockern, was ihr unter Schmerzen nur mit mäßigem
Erfolg gelang. Die Stricke gaben zwar ein wenig nach, aber frei bekam sie ihre Hände
nicht.
Bald
darauf hielt ihr Entführer sein Pferd an. Wahrscheinlich war es ihm auf die
Dauer zu beschwerlich, sich im Trab fortzubewegen — was nicht verwunderte, so
wie das Pferd warf — und zugleich Alissandra, die Zügel des eigenen und die
von Alissandras Pferd festzuhalten. Alissandra schloß daraus, daß ihr Entführer
kein besonders geschickter Reiter sein müsse. Ihr Entführer glitt aus dem
Sattel. Sie fühlte sich von starken Armen herabgezogen und auf den Boden
gestellt werden. Taumelnd versuchte sie ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Vor
ihren Augen kreisten bunte Farben und in ihrem Kopf hörte sie das Blut
rauschen. Sie bekam kaum Luft, und als sie versuchte sich zu strecken, da tat
ihr der Bauch so weh, daß sie fast zusammenklappte. Keuchend verharrte sie mit
vorüber gebeugtem Oberkörper.
»Wenn
du versprichst, nicht zu schreien, dann nehme ich dir den Sack ab«, sagte eine
männliche Stimme. Alissandra nickte. Der Unbekannte löste umständlich die
Kordel, mit welcher der schwarze Sack um Alissandras Kopf verschnürt war. Vom
Licht geblendet, mußte sie die Augen zusammenkneifen. Sie erkannte einen jungen
Mann, in dunkler Kleidung, die zwar vornehm wirkte, aber schon deutlich bessere
Tage gesehen hatte. Sein Gesicht vermochte sie nicht zu erkennen, da er sein
Gesicht von ihr abgewandt hielt.
»Wer
bist du? Was willst du von mir?« fragte sie zornig als der Fremde noch immer
keine Anstalten machte, mit ihr zu sprechen und die Situation zu erklären. Da
wandte er den Kopf zu ihr. Sie erschrak als sie sein Gesicht erblickte. Der Mann
war blutjung, fast noch ein junger Bursche, und auf seinem Gesicht konnte man
deutlich lesen, daß ihm die ganze Situation höchst unangenehm war. Er schien
fast ängstlich ob dem was er im Begriffe war zu tun.
»Ich
weiß, wer du bist«, sagte er und griff mit der Hand in die Tasche seines schäbigen
Rockes. »Hier.« Er hatte etwas glitzerndes, goldenes zum Vorschein gebracht
und hielt es Alissandra vor die Nase. Sie erschrak heftig und wurde blasser. Was
da vor ihren weit geöffneten Augen an einer dünnen goldenen Kette baumelte,
war ein kleiner flacher siebenzackiger Stern — ihr eigener Anhänger. Auf der
einen Seite trug er ein altes magisches Glückszeichen, auf der anderen war in
zierlichen in einander verschlungenen Buchstaben ihr Name eingeritzt.
»Na,
erkennst du das wieder?« fragte der Fremde mit einem triumphierenden Grinsen.
Alissandra ließ den Kopf hängen. Jetzt war alles aus. Ihr Verschwinden war
entdeckt worden und auf sie hatte man bestimmt eine hohe Belohnung ausgesetzt.
»Weißt
du eigentlich, wieviel Geld du einer gewissen Person wert bist, meine Kleine.?
— Eintausend neue Golddukaten. Das ist ‘ne Menge Geld«, sagte der
Unbekannte und seine Augen verengten sich. Er schien in Gedanken bereits die
schweren Goldstücke in Händen zu wiegen. Alissandra schnappte nach Luft. Für
ein Zehntel dieser ungeheuren Summe würden viele bereits rauben und morden.
Gleichzeitig erlosch in ihr jede Hoffnung auf ein Entkommen.
»Was
hast du jetzt mit mir vor?« fragte sie, obgleich sie sich die Antwort selber
denken konnte. Ihr Schicksal schien besiegelt. Sie malte sich ihre Zukunft
bereits in den düstersten Farben.
»Ich
werde dich nach Carlan schaffen. Dort werde ich dich dem Statthalter des
Regenten übergeben, der mir die Belohnung aushändigen wird.« Er kam auf sie
zu und kniete vor ihr nieder.
»Lasse
dir das sagen, Mädchen. Ich mache das nicht gerne, aber es gibt Gründe, die
mich dazu zwingen. Man kann sich die Umstände nicht aussuchen, und das Geld des
Regenten ist ebensogut wie jedes andere.« Er schwieg einen Augenblick; dann
fragte er: »Ist der Prinzregent denn wirklich so schlimm, wie die Leute erzählen?«
»Das
kann dir doch gleich sein!« rief Alissandra verbittert. »Du bekommst dein Geld
und wirst ein reicher Mann; reich und am Hof geehrt. Aber die Menschen auf der
Straße werden mit Dreck nach dir werfen und dich anspucken. Sie werden sagen:
›Das ist der Kerl, der Prinzessin Alissandra verraten hat. Holt die Kinder von
der Straße; sie sollen nicht die gleiche Luft atmen wie dieses…‹« Er
unterbrach sie heftig.
»Ich
kann verstehen, daß du mich haßt und ich nehme dir deine Worte nicht übel.«
»Ich
hasse dich nicht. Für dich empfinde ich bloß Verachtung, obwohl ich besser
Mitleid haben sollte.« Der junge Mann ballte die Fäuste bis die Knöchel der
Hand weiß hervortraten. Er hatte sichtlich Mühe sich zu beherrschen.
»Hör’
zu. Ich kann verstehen, wie dir zu Mute ist«, sagte er zornig. »Aber ich rate
dir, mich nicht unnötig zu reizen. Ich hatte mir vorgenommen, dir die letzten
Tage noch so angenehm wie möglich zu machen, aber ich kann auch anders. Wenn
wir erst in Carlan sind, dann wird dir dein vorlautes Mundwerk schon gestopft
werden.«
»Pah!
Noch sind wir nicht in Carlan. Mich überrumpelt man nur einmal. Du mußt mich
erst einmal dorthin schaffen«, sagte Alissandra stolz. Der junge Mann grinste
leicht amüsiert.
»Könnte
ich jetzt bitte meinen Stern wiederbekommen?« fragte Alissandra ganz sanft und
lächelte den Fremden unschuldig an.
»Er
hat mich über zehn Silbertaler gekostet, aber ich denke doch, daß sich die
Ausgabe gelohnt hat. Die beiden Spitzbuben hätten ja auch nie und nimmer
geahnt, welch einen Fisch sie da im Netzt gehabt hatten. Warte, ich mache ihn
dir wieder um.« Vorsichtig streifte er ihr die goldene Kette über den Kopf,
sorgfältig beachtend, daß sie sich nicht in dem langen braunen Haar verfing.
Kaum
war er damit fertig, als Alissandra auf die Füße sprang. Mit der Schnelligkeit
einer Raubkatze rammte sie ihrem Entführer den Kopf in den Magen. Der andere
Klappte zusammen wie ein Taschenmesser und fiel nach hinten ins Gras. Alissandra
rannte mit den auf dem Rücken verbundenen Händen ins Unterholz. Kaum war sie
außer Sichtweite, da blieb sie stehen. Und duckte sich. Es gelang ihr, mit den
Füßen durch die Arme zu steigen. Dadurch bekam sie die Hände vor den Leib.
Jetzt konnte sie ihr Schwert aus der Scheide ziehen. Mit den Zähnen hielt sie
den Griff der Waffe fest, während sie die Stricke an der scharfen Klinge
zerschnitt. Das alles dauerte nur wenige Augenblicke. Der Fremde hatte sich kaum
aufgerappelt, als Alissandra vor wieder ihm stand und ihm die Klinge auf die
Brust setzte. Ganz außer Atem rief sie keck: So, so, ich glaube, auf die
Belohnung wirst du wohl verzichten müssen.« Der andere lachte ihr laut ins
Gesicht und schenkte der Stahlspitze, die sich in den Stoff seines Wams bohrte,
keine Beachtung.
»Mädel,
steck doch das Ding weg. Das ist gefährlich. Am Ende könntest du noch jemanden
verletzten. Ein Schwert ist kein Spielzeug für kleine Mädchen.« Der Ausdruck
»kleine Mädchen« war nicht dazu angetan, auf ein gewisses sehr wütendes Mädchen
besänftigend zu wirken, im Gegenteil. Alissandra Gesicht nahm eine noch
dunklere Farbe an und mit lauter Stimme rief sie: »Wenn hier einer verletzt
wird, dann du! Mal sehen, wer hier der bessere Fechter ist.«
»Also
gut, du willst es nicht anders. Dann mach dich jetzt auf die Lektion deines
Lebens gefaßt«, rief Bursche und zog gleichfalls seinen Degen. »Gewinnst du,
dann magst du frei und unbehelligt deiner Wege ziehen. Gewinne ich, dann bist du
mein und gibst jeglichen Widerstand auf, bis wir in Carlan sind. Darauf hast du
mein Wort.«
»Das
Wort eines Spitzbuben, der hinterrücks allein reisende Damen überfällt, weil
er sich von vorne nicht herantraut. — Aber bitte. Ich gehe auf dein Angebot
ein.« Alissandra war sich ihrer Sache sicher, und wer sie jemals hatte fechten
sehen, der wußte, daß es kaum jemanden geben konnte, der es an
Geschicklichkeit und Einfallsreichtum mit ihr hätte aufnehmen können. Was ihr
Gegner ihr an Kraft und Reichweite voraus hatte, das glich sie durch ihre
Behendigkeit aus.
Sie
kreuzten die Klingen. »Du wirst ja doch verlieren. Ich will zwar versuchen,
dein Leben zu schonen, aber ich kann für nichts garantieren. Und ehrlich gesagt
täte es mir sehr leid, wenn ich dem Regenten eine tote Braut abliefern müßte.
Dafür gibt’s bestimmt kein Geld und das Ganze wäre umsonst gewesen. Willst
du es dir nicht noch einmal überlegen?« fragte er.
»Pah!
Vorher trinke ich dein Blut.« Alissandra wollte es wissen. Sie würde es dem
großspurigen Dummschwätzer schon zeigen. Blitzgeschwind parierte sie seinen
ersten Angriff. Ihr Gegner war vorsichtig. Bevor man an den Gegner herangeht,
ist es besser, erst einmal zu sehen, wieviel er draufhat.
»Ist
das alles, was du zu bieten hast?« Beim nächsten Angriff hatte sie mehr Mühe.
Spe parierte seinen Hieb und ging selber zum Angriff über.
»Nicht
übel«, meinte der andere. »Ich meine, für ein Mädchen.«
Das wirkte auf Alissandra wie ein rotes Tuch auf den Stier. Sie machte einen
Ausfall und wollte seine Deckung unterlaufen, aber der Kerl war einen
Sekundenbruchteil schneller; er parierte ihren Stoß mit einem Lächeln, was
ihre Angriffslust noch zusätzlich steigerte.
Alissandras
Angriffe wurden immer heftiger und unvorsichtiger. Der junge Mann verzichtete
selber aufs Angreifen und verlegte sich darauf, ihre Angriffe zu parieren. Das
war auch besser für sie. Je länger das Gefecht dauerte und je verbissener das
Mädchen kämpfte, desto ruhiger und gelöster schien ihr Gegner zu werden. Er
war sich seines Sieges so sicher, daß er sich einen kleinen Spaß daraus
machte, ab und zu einen Ausfall Alissandras ungeschickt zu parieren, um sie aus
der Reserve zu locken und ihr dann im Gegenzug einen schmerzhaften Hieb mit der
flachen Klinge zu versetzen. Der Schmerz und die furchtbare Enttäuschung, gegen
jenen arroganten Widerling mit all ihrer Fechtkunst nichts ausrichten zu können,
trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie begann sich selber zu hassen für ihre
Unzulänglichkeit. Doch so sehr sie versuchte, sich zu beherrschen und ihre
letzten Reserven zu mobilisieren, half doch alles nichts. Am Ende war sie
soweit, daß sie sich beinahe wünschte, der Kerl möge sie endlich aufspießen
und dem unwürdigen Schauspiel ein Ende bereiten.
Das
Ende kam bald. In einen kurzen unkonzentrierten Augenblick verfehlte sie die
Klinge ihres Gegners und lief in sie hinein. Die Spitze seines Degens traf sie
am rechten Oberarm. Sie zerfetzte den Ärmel und riß eine häßliche Wunde. Von
dem scharfen Schmerz gelähmt fiel ihr die Waffe aus der Hand. Sie sank auf die
Knie, heiße Tränen der Enttäuschung und des Schmerzes liefen über ihre heißen,
rot gefleckten Wangen. Der Kampf war zu Ende. Sie, die beste Fechterin von Tobal
hatte in dem geheimnisvollen jungen Mann mit dem schwarzen, leicht gelockten
Haar und der Kummerfalte über der Nasenwurzel ihren Meister gefunden.
Der
junge Mann senkte seinen Degen und trat auf das am Boden kniende Mädchen hin.
»Bist du verletzt?« fragte er und griff sanft nach ihrem Arm. Sie aber zog ihn
zurück, wandte das Gesicht ab und biß sich auf die Lippen. Sie schämte sich
ihrer Tränen und fühlte eine unbezwingbare Wut auf sich selbst. Es geschah ihr
ganz recht. Sie hätte mit Wirbelwind fliehen können. Ihn hätte so schnell
kein anderes Pferd eingeholt, bestimmt nicht der graue Wallach des Unbekannten,
der seine beste Zeit bereits hinter sich hatte. Aber nein, sie hatte unbedingt
ihre Überlegenheit auskosten und den Kerl im Zweikampf besiegen wollen.
»Ich
hatte dich ja gewarnt«, sagte der Fremde und hob ihren Degen von der erde auf.
»Geht
es wieder? Warte, ich helfe dir beim Aufstehen.«Er nahm erneut ihren verletzten
Arm.
»Du
blutest ja«, rief er erschrocken und sah auf seine blutverschmierte Hand. »Das
habe ich nicht gewollt«, sagte er unglücklich.
»Es
ist nur ein Kratzer«, erwiderte Alissandra tapfer und vermied es, ihren rechten
Arm anzusehen, an dem ein dünnes Rinnsal hellen Blutes herab rann. Der junge
Mann streifte behutsam ihren Ärmel zurück, um sich die Wunde anzuschauen.
Diesmal ließ sie es geschehen. Zum Glück war die Wunde nicht tief. Es war nur
ein langer und schmerzhafter Kratzer, der nur mäßig blutete. Der junge Mann
war froh, daß ihn seine Nachlässigkeit daran gehindert hatte, die stumpf
gewordene Spitze seines alten Degens nachschärfen zu lassen. Ein guter neuer
Degen hätte eine böse Wunde reißen können, vielleicht sogar eine Hauptader
durchtrennen, woran das Mädchen bestimmt verblutet wäre. Mit wenigen
geschickten Handgriffen des jungen Mannes war die Wunde sauber verbunden. In
wenigen Tagen würde alles verheilt sein. Sie ließ die Prozedur teilnahmslos an
sich geschehen. Ihre Gedanken waren weit weg.
»Wer
bist du überhaupt?« fragte Alissandra. »Nachdem du meinen Namen kennst, ist
es nur billig, auch deinen zu erfahren.«
»Gewiß.
Entschuldige bitte, daß ich mich nicht gleich vorgestellt habe. Mein Name ist
Wilibald Wilbur von Ragunow-Wald; aber alle meine Freunde nennen mich Wilo.« Er
legte seinen Arm um Alissandra und half ihr auf die Beine bei seiner Berührung
zuckte sich schmerzhaft zusammen.
»Armes
Mädchen, du mußt voller blauer Flecke sein«, sagte Wilo leise, dem es
inzwischen ziemlich leid tat, wie rauh er das Mädchen angefaßt hatte. Bei
einem jungen Burschen ihres Alters wäre seine Behandlung vielleicht noch
angegangen. »ich vergaß, daß du ein Mädchen bist.«
»Macht
nichts«, sagte Alissandra matt.
»Magst
du etwas essen?« fragte Wilo, der bemüht war, sein rüdes Verhalten wieder gut
zu machen. »Ich habe frischen Kuchen; erst heute Morgen in Austernthal gekauft.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Bringe
mich so schnell wie möglich nach Carlan«, sagte sie ohne ihn anzusehen.
»Was
ist denn mit dir los. Das muß doch nicht gleich sein. Oder hast du es etwa
eilig, zum Regenten zu kommen?«
»Ich
gab dir mein Wort, keine Schwierigkeiten zu machen. Und was geschehen muß, soll
rasch geschehen..« Sie streckte ihm die gekreuzten Hände entgegen, damit er
sie bände.
»Was
soll denn das?« fragte er unwillig. »Ich vertraue dir. Ich brauche dich nicht
mehr zu fesseln.« Überrascht sah sie ihn an. Sie versuchte in seinem Gesicht
zu lesen, was ihm sichtlich unangenehm war. Irgendwie schien er sich über
seinen Triumph nicht zu freuen, im Gegenteil. Etwas mußte ihm sehr bedrücken.
Man sah, daß es ihm keinen Spaß machte, das zu Ende zu bringen, was er
begonnen hatte.
Was
mag wohl sein Geheimnis sein, fragte sich Alissandra. Er ist zwar ein Windhund,
aber ein wirklicher Bösewicht, scheint er nicht zu sein. Vielmehr machte er den
Eindruck, als wäre er selber auf der Fluch vor irgend etwas, vielleicht vor
sich selber.
An
diesem Tage erfuhr sich aber nichts mehr von ihm. Bis zum Abend ritten sie
schweigend nebeneinander. Jeder war mit sich selber beschäftigt und hatte keine
Lust, sich um den andern zu kümmern, so daß außer wenigen einsilbigen
Bemerkungen, kein rechtes Gespräch aufkeimen wollte. Sie waren jetzt nur noch
zwei Tagesreisen von Carlan entfernt. Anstatt Peter und Tamina wieder zu sehen,
würde sie ihrem Erzfeind ausgeliefert werden. Es ist schwierig, den Zustand zu
beschreiben, in dem sich Alissandra. Alles in ihr war kalt und leer. Das Bewußtsein,
ihre letzten Stunden in Freiheit zu verbringen — falls man diese Situation überhaupt
so nennen durfte — ließ sie ihre Umwelt intensiver erleben. Sie sog sich wie
ein Schwamm voll mit allem Eindrücken jener klaren milden Frühlingstage.
Auf
den Feldern pickten große schwarze Vögel nach der frischen Aussaat. Sie sahen
aus wie dunkle Rosinen in einem gelben Eierkuchen. In zarten Grün zeigte sich
das erste Laub des Jahres an Bäumen und Sträuchern. Allenthalben war die Luft
mit dem Gesang der Vögel erfüllt.
An
diesem Abend war die Luft klar und licht. Am glühenden Horizont war eine halbe
Sonne ihre letzten Strahlen wärmend über das Land. In Augenblicken wie diesen
konnte man für kurze Zeit vergessen, in welch traurigem Zustande Arkanien war.
Jahrelange Kriege, Plünderungen und Brandschatzungen marodierender Truppen
hatten das Land verheert und Furcht und Mißtrauen in die Herzen der Bewohner
gesät. Diese schöne Gegend mit den frisch bestellten Feldern war von den berüchtigten
»Säuberungs-Aktionen« des Regenten noch halbwegs verschon geblieben, welche
einen einzigen Zweck hatten: die Bevölkerung gefügig zu machen und jeden
Widerstand im Keime zu ersticken.
Carlan,
an der südlichen Grenze des Landes gelegen, lag so weit von der Hauptstadt
Tirania, dem eigentlichen Machtzentrum, entfernt, daß man hier wenig von dem
Leid und den Entbehrungen der Menschen in den nördlichen Ländern und Provinzen
mitbekam. Die Menschen atmeten in Carlan noch freiere Luft. In der Stadt und dem
Umland und auf der Landstraße herrsche Ruhe und Ordnung.
Die
beiden ungleichen Reisenden kamen an den halbverfallenen Mauern eines
aufgegebenen Gehöfts vorbei. Hier war ein guter Platz, um die Nacht zu
verbringen. Es gab Wasser um dir Pferde zu tränken und die Mauern boten Schutz
vor dem Wind und der nächtlichen Kälte. Mit einem wärmenden Lagerfeuer ließ
es sich gut aushalten.
Alissandra
ließ Wirbelwind anhalten und stieg ab. Während sie das Pferd versorgte, machte
sich Wilo daran, trockenes Holz und Reisig für ein Feuer zu sammeln. In der
Nacht konnte es trotz der südlichen Lage der Gegend empfindlich kühl werden.
So richtig heiß würde es erst in drei Monaten werden. Alissandra hüllte sich
finster brütend in ihren Mantel. Warum blieb sie bloß hier? Was hinderte sie
daran, die günstige Gelegenheit zu ergreifen und sich jetzt, da ihr Wärter
beschäftigt war, einfach mit Wirbelwind aus dem Staube zu machen. Noch ehe Wilo
etwas merken würde, könnte sie bereits einige Meilen weit fort sein. War sie
wirklich durch ihr Wort an diesen Kopfgeldjäger gebunden? Sie hatte ihr Wort
bislang noch nie gebrochen und darauf war sie sehr stolz. Man konnte einem
Menschen alles nehmen, die Ehre nicht. Hier aber ging es weniger um ihre Ehre,
als vielmehr um ihr Leben. Schließlich obsiegte ihr Freiheitswille. Sie schlich
lautlos um die Ecke des morschen Gemäuers. Im Hofe vor dem Häuschen, der völlig
von Gras und Unkraut überwuchert wurde, sah sie Wilo einen abgestorbenen
Strauch zerkleinern. Durch das laute Geräusch der brechenden Zweige würde er
keinen Laut vernehmen, wenn sie mit Wirbelwind davon galoppierte.
Sie
kehrte um und machte sich auf die Suche nach ihrem Pferd, als sie in einiger
Entfernung aus dem fast mannshohen Gesträuch hinter dem kleinen Stall, dessen
Dach längst eingestürzt war, ein beunruhigendes Geräusch vernahm. Erschrocken
rannte sie den Lauten nach. Es war Wirbelwind, der unruhig mit dem Kopfe schlug
und verzweifelt mit den Hufen scharrte. Er gab herzzerreißend klägliche Laute
von sich. Als Alissandra bei ihm anlangte, sah sie sogleich den Grund für sein
unruhiges Scharren: dem Pferd waren die Beine mit ledernen Riemen
zusammengebunden worden. Das Band war lang genug, um dem Tier eine einigermaßen
langsame Fortbewegung im Schritt zu ermöglichen, aber an eine schnelle Flucht
im Trab oder Galopp war nicht zu denken. Das Fesseln der eines Pferdes war hier
im Süden an sich nichts ungewöhnliches. Wenn man das Tier im Freien grasen
lassen wollte und keinen Pferch zur Hand hatte, war dies eine geeignete, wenn
auch nicht ganz ungefährliche Methode, das Pferd am weglaufen zu hindern.
Allerdings waren die hiesigen Pferde an diese Prozedur gewohnt und sträubten
sich gegen die Fessel genau so wenig wie gegen Sattel oder Halfter. Wirbelwind
hingegen reagierte auf das ungewohnte Hindernis mit Schrecken und Furcht. Er
versuchte verzweifelt frei zu kommen.
Rot
vor Wut eilte Alissandra auf ihren vierbeinigen Freund zu, legte ihren Arm um
seinen Hals und sprach beruhigend auf das Pferd ein. Als Wirbelwind ihre Stimme
vernahm, spitzte er die Ohren und wurde sogleich ruhiger. Er hörte auf, mit den
Beinen zu scharren. Alissandra fühlte an seinen Gelenken und merkte, daß sie
heiß und ein wenig geschwollen waren. Das arme Tier hatte bei seinen
erfolglosen Versuchen, die Fesseln abzustreifen heftig an den unnachgiebigen
Riemen gezerrt und diese noch weiter angezogen. Sie versuchte die Knoten zu lösen,
aber sie hatten sich so festgezogen, daß ohne Messer nichts auszurichten war.
Vorsichtig führte sie Wirbelwind am Halfter zurück zum Lager. Das würde Wilo
zu büßen haben. Was er ihr angetan hatte, das hatte sie sich selber und ihrem
Hochmut zuzuschreiben gehabt, aber daß diesem wehrlosen freundlichen Tier eine
grausame Behandlung widerfuhr, daß wollte sie nicht ungesühnt hinnehmen.
»Heda!
Holla! Du Strolch! Wo bist du?« rief sie mit Donnerstimme. Wilo war nirgends
auszumachen. Weder hinter dem Haus, wo sich das Lager befand, noch in dem Gebäude
selbst, das zum Aufenthalt zu baufällig und gefährlich war. Sie band
Wirbelwind an einen noch fest stehenden Zaunpfahl, damit er nicht unnötig herum
liefe und machte sich auf die Suche nach dem Übeltäter. Womöglich versteckt
er sich noch, dachte sie, zornig.
»Wilo,
du Schwein! Wo bist du? Sie dir an, was du mit meinem armen Wirbelwind gemacht
hast.«
Wilos
Antwort hallte dumpf vom dem Hof herüber. Dort angelangt, konnte sie ihn
nirgends entdecken.
»Zu
Hülfe! Alissandra, bitte hilf mir doch!« erscholl es kläglich. Wilos Stimme
klang dumpf und hohl, als spräche er in einen Eimer. Alissandra hielt verdutzt
inne. Was mochte der Kerl jetzt wieder ausgeheckt haben?
»Wo
zum Teufel bist du denn?«
»Hier
unten!«
Unten?
Alissandra senkte den Blick und ließ ihn über den zugewachsenen Hof schweifen.
Die Sonne war bereits hinter dem Horizonte verschwunden, und so lag alles in ein
rötlich violettes Dämmerlicht getaucht.
»Bitte,
komm doch her. Ich bin in den Brunnen gefallen. Links neben dem Haus.«
Alissandra ging vorsichtig in die angegebene Richtung.
»Paß
ja auf, daß du nicht auch noch hinein fällst«, warnte Wilo aus der Tiefe. Sie
blieb stehen. In einer Ecke des Hofes, neben einem alten vertrockneten Strauch,
dort, wo das Gras am dichtesten und längsten wucherte, klaffte ein schwarzes,
kreisrundes Loch im Boden. Es maß weniger als einen Meter im Durchmesser.
»Hier
steckst du also«, stellte sie gelassen fest. »Was machst du nur da unten? Hast
du etwa vor, da die Nacht zu verbringen?«
»Alissandra,
ich bitte dich, hilf mir heraus. Du kannst mich nicht einfach in dem Loch
verschmachten lassen.«
»Kann
ich nicht?« fragte sie zynisch. »Was hast du mit Wirbelwind gemacht, du …,
du ….« (Es folgten einige Begriffe, die in einem solchen Buch nicht
wiedergegeben werden sollten.) »Er hat dir nichts getan; und habe ich dir nicht
mein Wort gegeben, nicht wegzulaufen?«
»Es
tut mir leid. Ich dachte nicht, daß er sich verletzen würde. Ich wollte nur…«
»Das
ist mir gleich«, brüllte sie. »Morgen früh werde ich allein weiter reiten.
Ich werde dein Pferd nehmen, um Wirbelwind zu schonen. Du wirst ohnehin keine
Verwendung mehr dafür haben. Also dann, mach’s gut. Und schreib mal.« Sie
machte Anstalten, sich zu entfernen, indem sie mit lauten Schritten davon ging.
Nach wenigen Metern machte sie kehrt und schlich auf Zehenspitzen zurück. Aus
dem Loch drang Wilos Stimme voller Entsetzen zu ihr herauf. »Alissandra! Um
Himmels Willen! Du kannst mich hier drinnen nicht sterben lassen. Ich gebe dir
die Freiheit. Du kannst mein ganzes Geld haben, alles was ich dabei habe, aber
hilf mir bitte heraus.«
»Wenn
mich dein Geld interessieren würde, könnte ich es mir auch so nehmen«, meinte
Alissandra spitz. Wilo schwieg. Sie hörte ihn seufzen und schwer atmen. Sie
setzte sich neben den Rand des Brunnens ins Gras und gab keinen Laut von sich.
Es verging eine Weile, dann vernahm sie Wilos Stimme von Neuem. Er rief zaghaft
ihren Namen. Seine Stimme hallte mit einem dumpfen Echo von den steinernen Wänden
des Schachtes wider. Er rief mehrmals nach ihr. Sie hörte ein kratzendes Geräusch,
wie es entsteht, wenn jemand versucht, an einer glatten Wand empor zu klettern,
aber jedesmal nach wenigen Zentimetern den Halt verliert und zurück rutscht.
Natürlich
hätte die gute Alissandra niemanden in einem Loch seinem grausamen Schicksal überlassen
und wäre er ein noch so großer Bösewicht. Allerdings gedachte sie ihn ein
wenig schmoren lassen, um sich für Wirbelwind zu rächen.
Sie
lief zum Lager zurück und suchte nach einem Schneidewerkzeug um Wirbelwinds
Fesseln zu durchtrennen. Aber sie konnte nichts geeignetes finden. Ihr Schwert
hatte Wilo an sich genommen, weil es mehr taugte als sein alter Armeedegen. Mit
dem konnte sie aber nichts anfangen, denn er war nur an der Spitze scharf und
geschliffen. Die Klinge selber war schmal und gewölbt und zum Schneiden nicht
brauchbar. Trotzdem nahm sie ihn an sich; als Ersatz für ihren eigenen. Leider
erwies er sich als zu lang und sie hatte Mühe, nicht bei jedem Schritt über
das Ding zu stolpern.
Da
fiel ihr plötzlich ein, daß sie Thalidon, Peters Zauberschwert bei sich hatte.
Es war sorgfältig in einer Wolldecke verschnürt, bei dem übrigen Gepäck
verstaut. Peter würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie in einem Notfall
davon Gebrauch machte. Sie wühlte in dem Haufen von Bündeln und Satteltaschen,
die sie vorhin ungeordnet auf dem Boden gelegt hatte, bis sie endlich das
Gesuchte fand.
Sie
zögerte einen Augenblick lang, das schwere Eisen aus der Scheide zu ziehen, was
würde wohl geschehen, wenn ein anderer als der Auserwählte versuchte, es zu
gebrauchen? Bestimmt war es durch einen Zauber geschützt. Sie hielt den Atem an
und zog das Schwert mit einer raschen Bewegung aus seiner Scheide. Ein
unbeschreibliches Kribbeln fuhr durch ihren Arm. Es fühlte sich an wie ein
Schwarm von Bienen, der über ihren Körper lief. Im ersten Moment fürchtete
sie sich ein wenig vor dieser unbekannten Kraft. Dann aber spürte sie, wie ein
Teil dieser Kraft auf sie überging. Sie fühlte sich stark und sicher. Trotz
seiner Größe und seines Gewichtes lag es gut in der Hand, ließ sich leicht
und wendig führen.
Sie
lief damit so rasch sie konnte, zu ihrem Pferd und ohne den geringsten
Widerstand zu spüren, zerteilte sie mit dem Schwert die dicken Lederriemen. Zärtlich
massierte sie die etwas geschwollenen Fesselgelenke des Pferdes. Sie würde späte
kühlende Umschlage auflegen. Nach eine Nacht der Ruhe würde die Schwellung
abgeklungen sein. Sie erinnerte sich, bei Wilos Gepäck ein aufgerolltes Seil
gesehen zu haben. Sie suchte nach Wilos Grauschimmel, den sie unweit des Hauses
beim Fressen fand. Er ließ sich nicht gerne einfangen. Aber da er ebenfalls
gefesselt war, kam er nicht weit. Seine Riemen waren mit Schnallen befestigt,
die sich leicht lösen ließen. Alissandra führte ihn auf den Hof, hin zu dem
Brunnenschacht, wo der unglückliche Wilo schmachtete.
Beim
Geräusch der Hufe auf dem verwitterten Steinpflaster, horchte er auf. »Hallo!
Ist da jemand? Ich bin hier unten im Brunnen. Könnt Ihr mir helfen?« schrie er
aus voller Kehle.
»Ja,
ja. Ist schon gut. Du brauchst nicht so zu brüllen«, rief Alissandra und knüpfte
aus dem einen Ende des Seiles eine große Schlinge, die sie um den Hals des
Pferdes legte, das andere Ende trug sie zum Rand des Schachtes.
»Wie
tief unten steckst du?« fragte sie und hoffte, daß das Seil lang genug sei.
»Nicht
sehr tief etwa dreieinhalb Meter. Der Brunnen ist zu Glück halb zugeschüttet.
Ach Alissandra! Wie bin ich froh, daß du es dir anders überlegt hast«, sagte
er mit belegter Stimme, der man seine Erleichterung wirklich anhörte.
Alissandra
warf das Seilende hinab. Wilo fing es geschickt auf.
»Halte
dich gut fest.« Auf ein Zeichen Wilos, daß er bereit sei, führte sie das
Pferd Schritt für Schritt von dem Brunnen weg, bis sie spürte wie sich das
Seil straffte. Sie sprach aufmunternd auf das Tier ein und ließ es noch
langsamer einige Schritte weiter machen. Nach wenigen Metern sah sie wie Wilos
Kopf aus dem Loch zum Vorschein kam. Sie ließ das Pferd anhalten und half Wilo
ganz heraus. Sie sahen einander an.
Alissandra
empfand keinen Groll mehr gegen ihn. Wilo wußte nicht recht, was er sagen
sollte. Voller Reue sah er sie an.
»Es
tut mir leid«, sprach er. »Ich stehe tief in deiner Schuld. Du hast mir das
Leben gerettet, trotz allem, was ich dir angetan habe. Du bist frei.« er ließ
den Kopf hängen und wandte sich seinem Pferde zu.
»Ich
denke, wir sollten jetzt erst einmal ein Feuer anzünden. Es ist mir kalt und außerdem
habe ich einen ziemlichen Hunger«, sagte Alissandra. Sie half ihm das Seil
aufrollen. Wenig später saßen die beiden dicht vor den wärmenden Flammen
eines prächtigen Lagerfeuers und aßen hungrig ihr Abendbrot auf, das sie am
Morgen in Austernthal besorgt hatten. Wilo hatte einen wirklich vorzüglichen
Kuchen erstanden.
Nach
dem Essen saßen sie eine Weile schweigend in ihre Decken gehüllt vor dem
Feuer, mit vor Wärme glühenden Gesichtern blinzelten sie mit glänzenden Augen
in die wild züngelnden Flammen. Als sie schon beinahe gar waren, rückten sie
etwas zurück und Wilo hub an zu sprechen: «Da sich unsere Wege morgen trennen
werden, möchte ich dir zuvor noch etwas erzählen. Vielleicht wirst du mich
dann ein wenig verstehen, obzwar es für mein Verhalten keine Entschuldigung
gibt. Aber ich glaube, ich bin dir wenigstens eine Erklärung schuldig.«
Alissandras
Neugier war geweckt. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, daß sie auf
diesen Moment gewartet hatte. Was für eine Erzählung würde er ihr nun
auftischen? Von Anfang an hatte Wilo einen ungewöhnlichen Eindruck auf sie
gemacht. Er wirkte nicht wie ein gewöhnlicher Verbrecher. Sein Benehmen, seine
Worte und Gebärden, waren die eines vornehmen, wohlerzogenen jungen Mannes,
nicht die eines Räubers und Schnapphahns, wie es deren vieler gab, die einsamen
Reisenden auf der Landstraße auflauerten. Ihn umgab vielmehr eine Aura von
Geheimnis und Schwermut. Er wirkte fast, als sei er
auf der Flucht, und nicht sie; als habe er
etwas zu verbergen.
»Ich
entstamme einem alten, aber mittlerweile stark heruntergekommenen
Adelsgeschlecht; mein Vater war der Baron von Waldenfels. In den vergangenen
Jahrhunderten besaß meine Familie mehrere Burgen und große fruchtbare Ländereien.
Der Gründer unseres Geschlechtes hatte an der Seite Brunnars des Starken gekämpft
und so den Adelstitel erworben. Aber jene heldenhaften Tage sind endgültig
vorbei. Meine Vorfahren waren vielleicht gute Krieger, aber schlechte
Wirtschafter und so geschah es, daß solange reiche Kriegsbeute gemacht wurde,
unsere Familie stets im Überfluß leben konnte. Die Zeiten der großen Feldzüge
ging vorüber. Es gab keinen König mehr und so wurde unser ganzer Besitz nach
und nach bei vielen Händeln und Fehden aufgezehrt. Zuletzt besaßen wir nur
noch unser Stammhaus. Aber aus das werden wir wahrscheinlich nicht mehr lange
halten können, seitdem sich mein Vater gegen den Regenten gewandt hatte. Durch
dessen Rache büßten wir alle Pfründe ein. Mein armer Vater konnte diese Demütigung
nicht mehr ertragen; er wurde immer verschlossener und tiefsinniger. Schließlich
verlor er gänzlich den Verstand; er sprach immer von den guten alten Zeiten,
was aber im Augenblick geschah, bekam er nicht mehr mit.
Als
er vor zwei Jahren starb, blieb von dem einst riesigen Besitz nicht einmal mehr
genug übrig, um alle Schulden zu bezahlen. So blieb mir nichts anderes übrig,
als mein Bündel zu schnüren und mich auf die Wanderschaft zu machen. Ich mußte
mir eine Beschäftigung suchen, die meinen Fähigkeiten entsprach: Ich ging also
zum Militär. Ich wurde einer Einheit im Süden zugeteilt, was mir sehr genehm
war. Das Klima ist mild, das Essen gut, und wir hatten nicht viel zu tun. Ich
wurde bald zum Leutnant befördert und hätte es bestimmt auch zum Hauptmann
oder Major gebracht. Aber die Rebellion im Norden machte meiner Karriere einen
Strich durch die Rechnung. Wir wurden zur Verstärkung nach Tobal abkommandiert.
Es gelang uns, die Rebellen vernichtend zu schlagen. Die übriggebliebenen zogen
sich in die Berge zurück, wo sie uns überlegen waren. Nach der Niederschlagung
der Revolte, mußten wir viele Dörfer dem Erdboden gleichmachen. Unschuldige
Menschen wurden gequält und vertrieben. Das war zuviel für mich. Ich nahm
meinen Abschied. Eine Weile spielte ich sogar mit dem Gedanken, mich den
Rebellen anzuschließen. Aber das wäre zu jenem Zeitpunkt nicht ratsam gewesen.
Ich mußte mir also eine andere Arbeit suchen — und das obgleich ich nun gar
nicht zum Arbeiten geschaffen bin.« Er lächelte verlegen, als suche er eine
Rechtfertigung. Alissandra verzog nur den Mund und ging nicht auf seine
Bemerkung ein. Er fuhr fort: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig
es ist, in diesen Zeiten eine auch nur einigermaßen standesgemäße Stellung zu
finden. Ich war zu stolz, mich in den Dienst anderer Herren zu begeben, hatte
aber keine Mittel, ein selbständiges Geschäft aufzubauen. Am Ende war ich
gezwungen, auch die niedrigste Arbeit zu verrichten. Ich verdang mich als
Jagdaufseher, Kurier, als Fechtlehrer, sogar als — ich schäme mich fast es
auszusprechen — Kutscher. Aber an keinem Ort hielt ich mich länger als ein
paar Wochen, oft nur wenige Tage. Ich entwickelte eine verhängnisvolle Vorliebe
für Wirtshäuser und das Kartenspiel. Ich darf durchaus behaupten — ohne mich
besonders rühmen zu wollen — ein hervorragender Spieler zu sein. Nur selten
verließ mich das Glück…«
»Dem
du wohl auch gelegentlich ungeniert auf die Sprünge zu helfen weißt«, warf
Alissandra halb verächtlich, halb belustigt ein. Wilo wurde ein wenig verlegen
— wohl mehr aus Scham, so leicht durchschaubar zu sein, denn aus Reue über
seine Taten. Er sagte: »Nun, wie dem auch sei. Ich konnte mich auf diese Art
ganz recht über Wasser halten — bis vor zwei Monaten.«
»Was
geschah da?« Alissandra wurde neugierig.
»Wie
du weißt pflegen die Leute in den Wirtshäusern beim Spiele gerne zu trinken.
Und wer genug trinkt, der spielt schlecht. — Es war gerade Markttag in einem
kleinen Flecken etwa fünfzig Meile nördlich von Austernthal. Ich dachte, das
sei der richtige Ort, um einige gut betuchte Händler um ein wenig ihres
Profites zu erleichtern. Um es kurz zu machen: Ich dachte, wenn ich die Herren
ein wenig mit Branntwein abfüllte…«
»Pfui!
wie schändlich.« rief Alissandra empört.
»Augenblick,
ich bin noch nicht fertig. — Die Nacht wurde spät, das Glück war mit beiden
Seiten etwa gleich. Mit jedem Glas Schnaps wurden die Einsätze höher. Am Ende
mußte ich wohl doch etwas zu viel abgekriegt haben, oder die freundlichen
Herren aus Nerwant kannten einige Extrakniffe; ich war nicht nur pleite, sondern
hatte auch meinen Rock, meinen Gaul und zweitausend Taler verwettet, die ich
nicht einmal besaß und mich so genötigt sah, einen Schuldschein auszustellen.
Als mir dann die Rechnung präsentiert wurde, bin ich schlagartig wieder nüchtern
geworden und habe es vorgezogen, mich unauffällig aus dem Staube zu machen.
Seitdem sind mir die beiden auf der Spur und ich kann mich in keinem Wirtshaus
mehr blicken lassen. Du verstehst also, daß mir die Belohnung von tausend
Gulden recht gelegen kam. Trotzdem schäme ich mich jetzt, daß ich versucht
habe, dich meiner Spielschulden wegen zu verkaufen.«
»Alissandra,
der dieser ungeschickte Kerl fast ein wenig leid tat, verkniff sich die
Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Statt dessen fragte sie: »Was hast du
jetzt vor?« Wilo zuckte mit den Schultern. »Ich werde nach Carlan reiten. Dort
bin ich vor den Gläubigern sicher. Und wohin willst du gehen?« Sie berichtete
ihm in wenigen Worten, was sie bisher erlebt hatte und wie sie hoffte, ihre
Freunde in Carlan zu treffen.
»Wenn
es dir nichts ausmacht, könnten wir zusammen reisen«, schlug Wilo vor. Sie
schien seine Gedanken erraten zu haben, denn sie sah ihn mit hochgezogenen
Brauen an. Endlich nickte sie stumm.
Bald
darauf legten sie sich schlafen, denn wenn sie Carlan noch bis zum Abend des
kommenden Tages erreichen wollten, würden sie früh aufstehen und eine weite
Strecke zurücklegen müssen.
Noch
bevor die Morgensonne, ihre ersten Strahlen über die neblichten Felder senden
konnte, machten sich die beiden ungleichen Reisegefährten auf den Weg. Sie
beabsichtigten, die ersten Morgenstunden zu nutzen, um auf der Landstraße
einige Dörfer zu passieren, bevor zu viele Menschen unterwegs wären. Später würden
sie wieder auf den gewöhnlichen Feldwegen und über Land reiten, um möglichst
jedes Risiko einer Entdeckung zu vermeiden.
»Ich
bin davon überzeugt, daß dein Steckbrief bereits bis nach Carlan in allen Dörfern
und Herbergen an der Landstraße aushängt«, meinte Wilo. »Wir könnten uns
vielleicht etwas verkleiden. Ich gäbe bestimmt gut einen Edelmann aus dem
Norden, vielleicht aus Tobal, ab und du könntest als mein Knappe auftreten.
Wenn du dein Haar kurz schneiden würdest, sähest du in deinen Kleidern wie ein
Junge aus.« Alissandra war entsetzt bei dem Gedanken, ihre meterlange
Haarpracht zu verlieren. »Ich soll mein Haar abschneiden? Spinnst du? Das kommt
nicht in Frage.« Sie strich mit der Hand durch die Wogen braun glänzender
Seidenpracht.
»Naja,
es wäre schon schade drum, aber das wächst doch wieder nach.«
»Ja,
in drei bis vier Jahren vielleicht.« Sie schüttelte den Kopf, daß die Haare
wie ein Pferdeschweif herum schwangen. »Aber ich könnte es immerhin
zusammenbinden und unter einem Hut oder einer Mütze verstecken.« Wilo gefiel
diese Idee nicht so gut. Allein er konnte nichts dagegen einwenden, und ein
Blick aus Alissandra funkensprühenden Augen gab ihm zu verstehen , daß dieses
Thema erschöpft sei und jede weitere Diskussion müßig wäre. Daher sagte er:
»Wenn du acht gibst, daß dich die Leute nicht so genau anschauen, dann könnte
die Täuschung durchaus gelingen.«
»Du
hast recht. Wer sieht sich schon den Knappen genauer an, wenn ein so stattlicher
Edelmann wie du des Weges daher kommt«, pflichtete sie ihm bei, und dies
Kompliment schmeichelte ihm so, daß er die Ironie in ihren Worten nicht
wahrnahm.
So
geschah es: Wilo erstand bei passender Gelegenheit einige gebrauchte aber gut
erhaltene Kleidungsstücke —die Reisekasse wurde hierdurch erheblich geschmälert—,
womit sich die beiden entsprechend ihren Rollen ausstaffierten. Ein wenig
Schminke und Dreck sorgten dafür, daß Alissandras vornehm blasse Haut ein
etwas dunklere Züge annahm. Anfänglich war sie skeptisch, daß ihre
Verkleidung funktionieren würde, endlich aber fand sie sogar Gefallen daran, in
eine fremde Rolle schlüpfen zu können.
Die
restliche Strecke bis nach Carlan legten sie ohne Schwierigkeiten zurück. Die
Stunden vergingen wie im Fluge, so beschäftigt waren sie damit, ihr neues
Inkognito einzustudieren und zu präparieren.
Im
letzten Abendlicht tauchten vor ihnen die ersten Hügel der Ebene von Carlan
auf. In weniger als einer halben Stunde, konnten sie bereits das Weichbild der
Stadt ausmachen. Wilo schlug vor, nicht in der Stadt selber Quartier zu
beziehen, sondern in einer der zahlreichen Herbergen außerhalb der Stadtmauern
zu nächtigen. »Es gibt eine Anzahl guter Wirtshäuser an der Landstraße vor
der Stadt. Dort können wir unterkommen, ohne daß man uns das letzte Hemd
auszieht«, schlug Wilo vor. Alissandra wäre zwar am liebsten sofort zu den »Bienenkörben«
geritten, aber sie mußte sich von Wilo überzeugen lassen, daß es keinen Sinn
machte, nach Einbruch der Nacht auf dem unübersichtlichen Gelände nach den
beiden vermißten zu suchen, die selber gewiß ebenfalls irgendwo ein Quartier
bezogen hätten. Es wäre auch schwierig geworden, mitten in der Nacht noch ein
Bett in einer Herberge zu finden. Späte Gäste werden immer mit besonderer
Vorsicht gemustert.
Sie
kehrte also wenig später im »Goldenen Bären« ein, einem gemütlich wirkenden
Fachwerkhaus von beachtlichem Umfang. Der Wirt war freundlich und trotz der
prallvollen Gaststube waren noch Betten frei. Wilo trat mit der selbstsicheren
Art eines jungen Herrn auf, der gewohnt war, daß seinen Anordnungen und Wünschen
nicht widersprochen wurde. Er verlangte nach einem Zimmer mit Kamin und Blick
auf die Stadt für sich und ein einfaches Strohlager für seinen Knappen. Jener
machte Anstalten zu protestieren, aber ein diskreter Tritt wider das Schienbein
brachte den Blitze versprühenden zur Räson.
Als
die beiden allein in einem schönen und gemütlich eingerichteten Zimmer im
ersten Stock waren, platzte Alissandra zornig heraus: »Was fällt dir ein? Du
spielst den großen Herrn dem das Feinste gerade gut genug ist und ich soll bei
dem Vieh im Stall schlafen, und das erst noch auf meine Kosten?« Wilo versuchte
sie zu beschwichtigen: »Wir dürfen nicht aus der Rolle fallen. Ich kann nicht
mit dir in einem Zimmer schlafen und ein separates Zimmer für einen Knappen?
das können wir uns nicht leisten. Einen so
reichen Herrn kann ich in diesem Aufzuge und mit der kleinen Börse nicht
spielen. Aber immerhin darfst zu an meinem Tische speisen.«
»Besten
Dank! Zu gütig von Euch, mein Herr!« Alissandras Miene verhieß nichts Gutes
und so zog Wilo es vor, zu schweigen und nach dem Gepäck zu sehen. Aber
Alissandra war zum Streiten ohnedies viel zu müde. Den ganzen Tag waren sie
fast ohne Pause geritten. Und das war selbst für sie als geübte Reiterin ganz
schön anstrengend. Sie spürte jeden Knochen im Leibe. Hinzu kam, daß sie alle
gewöhnlichen Arbeiten, wie etwa die Pferde zu versorgen, Brennholz fürs
Lagerfeuer sammeln, Gepäck zu schleppen, usw. Erledigen durfte. Schließlich
hat ein nobler Herr für derlei Verrichtungen seinen Diener. Das schönste wäre
jetzt ein heißes duftendes Kräuterbad. Aber davon konnte sie nur träumen.
Als
es endlich Zeit war, sich zum Essen hinunter zu begeben, da konnte sie sich kaum
noch auf den Beinen halten. Wilo hatte geschickterweise einen Tisch in der Ecke
bestellt, so daß Alissandra mit dem Rücken zu den übrigen Gästen saß —
eine weitere Vorsichtsmaßnahme.
»Ich
glaub’, ich bin sogar zum Essen zu müde«, seufzte sie und stützte den
schweren Kopf mit den Händen am Tisch auf, was zwar nicht sehr vornehm war,
aber niemanden störte. »Du wirst deinen Knappen für den Rest des Abends
entbehren müssen.«
»Ja, du siehst wirklich sehr müde aus. Geh’ ruhig früh schlafen. Ich werde
auch nicht mehr lange hier bleiben.«
Nach
dem Essen nahm sich Alissandra zwei Decken aus Wilos Zimmer. »Der Kerl hat’s
gut. Ein weiches Bett mit Kissen, ein prasselndes Kaminfeuer; und ich muß auf
den eiskalten Heuboden« schimpfte sie.
Im
Stall brannten zwei kleine Laternen. Sie gaben gerade genug Licht, damit sie die
Leiter zum Heuboden finden konnte. Oben war es stockfinster und kühl. Außer
ihr schien niemand das Schlafgemach zu beanspruchen. Wahrscheinlich hatten die
anderen Diener und Burschen großzügigere Herrschaft und konnten im Hause übernachten.
Es
dauerte nicht lange, das hatte sie genügend weiches Heu und Stroh zu einem
einigermaßen komfortablen Lager aufeinandergeschichtet. Trotz der bleiernen Müdigkeit,
die auf ihren Gliedern lastete, hatte sie etwas Mühe mit dem Einschlafen. Man
kann auch zum Schlafen zu müde sein. Sie dachte an Peter, an Tamina, die »Bienenkörbe«
— wie immer sie aussehen mochten —, an Carlan, Wilo…
Eine
Menge seltsamer Bilder erschien vor ihren Augen, dann glitt sie immer tiefer in
das phantastische Reich der Träume, wo Peter auf Mondenglanz durch die Lüfte
flog, Wirbelwind die Bienenkörbe, die aus Gugelhupfteig bestanden, anknabberte
und Wilo auf einem Berg von Goldmünzen saß, die er unaufhörlich aus einem nie
versiegenden Beutel schüttelte…
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