VIII. KAPITEL

Carlan

 

Carlan war eine Kleinstadt nach unseren Massstäben bemessen. Für arkanische Verhältnisse aber bedeuteten fünfzigtausend Einwohner fast schon eine Metropole, was diese alte und bedeutende Handelsstadt in gewissem Sinne auch war. Schließlich zählte selbst die Hauptstadt des Landes, die zugleich die größte war, nicht mehr als zweihunderttausend Einwohner.

Carlan war die südlichste Stadt Arkaniens. Sie lag am Ufer eines kleinen, für die Flußschiffahrt aber völlig ungeeigneten Flusses, der zweihundert Meilen nordwestlich in den Großen Strom mündete. Südlich der Stadt erstreckte sich ein weites, ödes kaum besiedeltes hügeliges Land, das zu keiner Kultur taugte und hauptsächlich von Schafherden bevölkert war, die sich von der trockenen Vegetation mehr schlecht als recht ernährten. Die Ufergebiete des Flusses waren sumpficht und wurden von der Bevölkerung gemieden. Wenn es einst gelänge, das Land trocken zu legen, so wäre vielleicht eine der fruchtbarsten Kulturlandschaft gewonnen; und demjenigen, der dies Wunder vollbrächte wären die größten Lorbeeren sicher.

Nach Südosten erhoben sich die ersten Vorgebirge, die westlichen Ausläufer eines gewaltigen Alpenmassivs, das seine Fortsetzung in dem östlichen Riesengebirge nahm, welches die äußerste, unüberwindliche Grenze des Reiches bildete. Im Südwesten verliefen sich die Berge in einer öden, dürren, baumlosen Steppenlandschaft. Dahinter erstreckte sich die große Wüste, welche die Südländer von Arkanien trennte. Diese Wüste war bislang noch von keinem Menschen durchquert worden; und so konnte niemand sagen, wie groß ihre Ausdehnung war. Wer in jene geheimnisvollen Länder im Süden reisen wollte, mußte sich in Altara, der großen Seefahrerstadt hundertfünfzig Meilen im Südwesten gelegen, auf ein Schiff begeben und die Küste entlang segeln. Die Reise war lang und gefährlich, weil die Küstengewässer von unzähligen Riffen und Sandbänken und winzigen unbewohnten Inseln wimmelten. Nur wenige unerschrockene Kapitäne wagten die gefährliche Überfahrt; und so war es nicht verwunderlich, daß die Waren aus jenen Ländern — meist seltene Spezereien, Seidenstoffe und kunstvoll gepunzte Gefäße und Gerätschaften aus Silber- und Goldblech — zu den teuersten Luxusgütern des Landes gehörten.

Die Stadt Carlan bildete ein gleichmäßiges Oval von kleinen und mittleren Bürgerhäusern, einer Trutzburg für den Stadtkommandanten und den Generalgouverneur für die Ländereien von Carlan. Seit Alters her gehörten der Stadt weite Teile des Umlandes, die unter der Herrschaft des Gouverneurs standen. In früheren Zeiten soll Carlan ein unabhängiges Fürstentum gewesen sein. Die Stadt war von hohen Mauern und einem mächtigen Ringwall umgeben, der in der Vergangenheit mehrmals erweitert worden war, wovon vereinzelte Reste im Innern der heutigen Stadt Zeugnis ablegten. Die Mauer war von zwölf sechseckigen Spähtürmen bewehrt und vier große Stadttore öffneten die Stadt nach allen Windrichtungen. Carlan war eine sehr alte Stadt, deren Geschichte mehr als tausend Jahre zählte. Ihr größtes Wachstum hatte die Stadt aber hinter sich und so bestand keine Gefahr, daß die jetzige Stadtmauer bald zu klein würde; hatte ihr damaliger Erbauer doch in weiser Voraussicht die Befestigungsanlagen so großzügig geplant, daß sie noch heute — hundertachtzig Jahre nach ihrer Fertigstellung — weite Grünflächen und öffentliche Gärten einschloß.

Tamina hätte nur zu gerne einen Abstecher in die Stadt gemacht und auch Peter hätte gern die Gelegenheit wahrgenommen, die Sitten und Gewohnheiten der Menschen in diesem Landesteil genauer zu studieren, doch das Risiko war zu groß. Sminjans Männer warteten vielleicht schon auf sie. So weit im Süden hätten sie nichts mehr von den Behörden zu fürchten.

So mußten sich die beiden Gefährten mit einem Blick aus der Ferne auf diese so saubere und schmucke Stadt begnügen. Von der Kuppe eines Hügels aus schauten sie über die Mauern und Türmchen auf deren Giebeln bunte Flaggen wehten, hinein in die prachtvollen Straßen und schmalen Gäßchen voller pulsierenden Lebens. Sie beobachteten die Menschen, die wie emsige Ameisen auf dem Marktplatz wimmelnd ihren Geschäften nachgingen, vernahmen die Klänge der Signalhörner der Türmer und sahen die polierten Rüstungen und Hellebarden der Wachen im Sonnenlicht blitzen.

Von ihrem Standort auf dem Hügel aus hatten sie eine hervorragende Rundumsicht. Hinter der Stadt einige Meilen im Südwesten erblickten sie zum ersten Male die legendären »Bienenkörbe«. Es handelte sich hierbei — soweit sie das auf die Entfernung feststellen konnten — und etwa zwei bis drei Dutzend bienenkorbartig gewölbte Steinhaufen. Dies mußte der ausgemachte Treffpunkt sein. Bei ihrem Anblick schlug Peters Herz höher. Endlich waren sie am Ziel angelangt.

Sie beschlossen, einen weiten Bogen um die Stadt zu machen und hofften, so am späteren Nachmittage in die Nähe der Steinhaufen zu gelangen.

Entgegen Peters ersten Erwartungen langten sie schon viel früher bei den steinernen Gebilden an — Peter hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, Entfernungen zu schätzen. Von der Stadt aus waren sie nicht direkt zu sehen, da eine Kette flacher Hügel die Sicht behinderten. Sucht man sich seinen Weg durch die grasbewachsene Hügellandschaft, dann kann es leicht geschehen, daß man hinter dem nächsten Buckel plötzlich gewaltige steinerne Ungetüme vor sich aufragen sieht, wo man sie niemals vermutet hätte. Überrascht stellt man dann fest, daß die Bauwerke sogar höher hinaufragen, als die umgebenden Hügel. Freilich kann man sie dennoch nur aus einiger Entfernung erkennen, denn die grasbewachsenen Hügelchen stehen wie Sandkuchen verstreut in der Ebene, so daß man nur von der Kuppe eines derselben einen Überblick über die Ebene erhält. Da die Sandkuchen-Hügel sehr steile Wände haben, ist es weniger beschwerlich, um sie herumzugehen, als sie zu erklimmen.

Da standen unsere beiden — will sagen drei — Freunde und schauten verwundert auf die steinernen Kolosse. Gewaltig und geheimnisvoll der Witterung und dem Zahn der Zeit trotzend blickten die Monumente auf die vergangenen Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende zurück.

Die »Bienenkörbe« waren gänzlich aus massiven mannshohen Felsblöcken ohne Mörtel nahtlos zusammengefügt. Sie hatten einen kreisförmigen Grundriß von neun bis zehn Metern Durchmesser und reichten, sich nach oben verjüngend, gute fünfundzwanzig bis dreißig Meter in die Höhe. Eine halbkugelförmige Kuppel bildete den Abschluß. Die Außenseite war völlig glatt — abgesehen von einem dichten Bewuchs mit Flechten in verschiedenen Farbtönen — und wies keinerlei Öffnung auf. An der Basis der »Bienenkörbe« waren geheimnisvolle Schriftzeichen und Symbole eingeritzt, die zu entschlüsseln bislang keinem gelungen ist. Die Zeichen waren in einer Höhe von etwa zwei Metern eingemeißelt. Viele waren aber so stark verwittert, besonders auf der Wetterseite, daß man sie kaum noch erkennen konnte. Niemand weiß, wer sie erbaut hatte oder zu welchem Zwecke sie einst gedient haben mochten. Der große arkanische gelehrte Allanto — sein Standbild steht auf dem Marktplatz von Carlan — hatte die Theorie geäußert, es möge sich um antike Grabstätten vorzeitlicher Könige handeln. Dem gegenüber steht die Ansicht des Astronomen Lycallius, der behauptete, es handele sich bei den »Zuckerhüten« — diese Bezeichnung ist fast treffender — um Hilfsmittel zur Beobachtung der Gestirne. Die Menschen in der Gegend mieden den Ort, denn sie glaubten fest, dort spuke es und in bestimmten Nächten versammelten sich dort die bösen Geister zu einer Art von Hexensabbat.

Das Geheimnis der »Bienenkörbe« — oder »Zuckerhüte« — sollte erst viel später gelöst werden, und zwar von einem Manne namens Bition oder Bitius, wie er von andren genannt wurde. (Aber das ist eine lange Geschichte und würde allein ein ganzes Buch füllen.) Doch nun zurück zu Peter und Tamina.

Während Peter voll wissenschaftlicher Neugier an den Steinen herumklopfte und kratzte und nach einem geheimen Eingang forschte, blieb Tamina bei Mondenglanz stehen und genoß es, deren weiche Nase zu streicheln. Ihr war dieser Ort unheimlich und sie wollte so rasch wie möglich von hier verschwinden. Der Abendwind, der kühl und feucht von Norden her blies, strich tönend über die glatten Flächen der Türme. Das Geräusch hatte etwas klagendes und unheimliches. Peter war hinter einem der Steinkegel verschwunden; Tamina fröstelte.

Oben am Himmel schrieen die Krähen ihre heiseren Rufe der im Osten hereinbrechenden Nacht entgegen. Wie Geier kreisten sie am grauen wolkenverhangenen Himmel; große, schwarze Unglücksboten. Tamina schlang die Arme um den Hals des Pferdes. Das weiche Fell, der warme, lebendige Leib und animalische Geruch gaben ihr ein Gefühl der Geborgenheit an diesem düsteren Ort. Was mochte Peter nur so lange treiben?

»Peter! Komm endlich! Es wird schon dunkel. — Peter?!«

Keine Antwort. Sie zog Mondenglanz mit sich am Zügel um den Felsen herum. Kein Peter war zu sehen.

Das ungute Gefühl in der Magengegend verstärkte sich. Sie rief abermals, doch wiederum erhielt sie keine Antwort. Was war geschehen? Hatte der Kerl sich versteckt oder war ihm am Ende gar etwas zugestoßen?

Da. Eine schwere Hand packt sie an der Schulter. Mit einem Schrei fährt sie herum und in ihren schreckgeweiteten Augen spiegelt sich das grinsende Antlitz des Teufels. Mit einem schweren Seufzer sinkt sie zu Boden.

Peter, der nun selber höchst erschrocken war, warf den Rinderschädel, den er gefunden hatte, von sich und kniete neben dem leblosen Mädchen nieder.

»Tamina, Tamina! Hörst du mich? Wie geht es dir?« er hob ihren Kopf sachte auf und klopfte ihr auf die bleichen Wangen. Sogleich schlug sie die Augen auf und starrte ihn an.

»Gott sei Dank! Du bist wider da«, rief er erleichtert. »Es tut mir leid. Ich wollte doch nur einen kleinen Spaß machen.« Erhob sie auf die Beine, froh, daß sie den Schrecken unbeschadet überstanden hatte. »Du hättest dein Gesicht mal sehen sollen. Dir sind wahrhaftig die Haare zu Berge gestanden«, sagte er.

Die einzige Antwort, die er erhielt, war eine schallende Ohrfeige.

»Tu so was nie wieder«, sagte Tamina mit ruhiger Stimme. Die roten Flecken auf ihren Wangen zeigten aber, daß sie innerlich kochte. So wütend hatte Peter das Mädchen noch nie gesehen.

»Diese Flecken stehen dir sehr gut. Sie geben einen hübschen Kontrast zu deinen Sommersprossen und zu der Farbe deines Haares«, meinte er spaßhaft nachdem er die Sprache wieder gefunden hatte. Er beeilte sich aber rasch einige Schritte zurückzutreten. Ein heißes Ohr war genug für den Tag.

Tamina warf ihm nur einen bitterbösen Blick, aus ihren leuchtend blauen Augen zu und machte auf dem Absatz kehrt. Behend schwang sie sich auf Mondenglanzes Rücken und im Galopp ging’s auf und davon.

»He, Komm zurück! Du kannst mich doch nicht einfach hier zurücklassen«, rief er hinterher, aber Tamina war längst außer Hörweite.

»Es tut mir leid«, sprach er leise und mit einem Fußtritt beförderte er den am Boden liegenden gehörnten Schädel an einen anderen Ort.

Peter hatte keine Ahnung, wohin Tamina davon gestoben sein mochte, und so wanderte er verdrießlich zu Fuß in die Richtung wohin sie verschwunden war. Wenig später fand er Mondenglanz am Fuße eines kleinen Buckels, wo sie genüßlich das junge Gras rupfte. Unweit davon saß Tamina auf der Erde und rieb sich mißvergnügt den linken Ellenbogen.

Nicht ohne eine gewisse schadenfreudige Genugtuung nahm Peter zur Kenntnis, daß Taminens Reitkünste nicht besser waren als seine eigenen zu Anfang.

»Hast du dir weh getan?« fragte er vorsichtshalber.

»Nein, es ist nichts. Ich bin bloß — gestolpert.«

»So, So, gestolpert«, murmelte Peter lächelnd und ließ es dabei bewenden.

»Ich denke, wir sollten uns jetzt nach einer Unterkunft für die Nacht umsehen«, schlug Tamina vor.

»Hier muß irgendwo eine Herberge sein. Zumindest hat es ganz danach ausgesehen, als wir zu den Stein-Türmen kamen. — Ja. Dort muß es sein«, meinte Peter und wies auf eine Rauchsäule hin, die sich hinter einer Hügelkuppe aufsteigend, vom leichten Nordwind abgetrieben, gegen den graublauen Himmel verlor.

Wenige Schritte darauf sahen sie, als sie den Hügel hinter sich gelassen hatten, etwa zweihundert Meter entfernt an der Landstraße nach Carlan ein schmuckes, weiß getünchtes Gehöft mit einem malerischen Strohdach — was in dieser Gegend selten war, wo die Häuser fast ausschließlich mit hellroten Ziegeln gedeckt waren. Das Haus, der Garten und die Wirtschaftsgebäude dahinter machten einen sauberen und gepflegten Eindruck. Dies war keine finstere Räuberhöhle. In Gedanken verglich Peter das schmucke Anwesen mit dem düsteren, halb verfallenen Wirtshaus in welchem Tamina gelebt hatte.

Tamina mußte seine Gedanken erraten haben, denn in einem sehr traurigen Tonfall sagte sie zu ihm: »So hat unser Haus auch einmal ausgesehen — als Mutter noch lebte.«

»Laß uns hineingehen. Ich habe einen Bärenhunger und du bestimmt auch«, sagte Peter, dem das Mädchen plötzlich sehr leid tat und der sich bemühte, sie auf andere Gedanken zu bringen.

»Du hast recht. Ich könnte heut einen ganzen Ochsen verschlingen.«

Vor dem Wirtshaus auf dem Hof standen einige gesattelte Pferde die auf ihre Reiter warteten, die sich noch vor Einbruch der Dunkelheit auf den Weg in die Stadt machen mußten, denn bei Sonnenuntergang wurden jeweils die gewaltigen, mit riesigen Eisennägeln beschlagenen Stadttore geschlossen und erst wieder im Morgengrauen geöffnet. Waren sie erst einmal zu, dann kam niemand mehr hinein oder heraus, nicht einmal der Bürgermeister. So lautete das uralte Gesetz der Stadt.

Peter band Mondenglanz an einen der eisernen Ringe an der Wand, wo sie sich der Gesellschaft ihrer Artgenossen erfreuen konnte.

Die Wände des weiten Schankraumes waren mit Holz verkleidet, was dem Raum eine gemütliche Atmosphäre verlieh. Zahlreiche Leuchter an der Decke und auf den Tischen spendeten ein warmes Licht.

Der Wirt war ein freundlicher Mann um die fünfzig, der aber einen beinahe jugendlichen Elan versprühte. »Ihr habt Glück«, bemerkte er. »Um diese Jahreszeit haben wir sehr viele Gäste. Die meisten sind Kaufleute, die jetzt im Frühjahr ihre ersten Handelsreisen antreten.« er führte Peter und Tamina in eine kleine, etwas düstere, ansonsten aber saubere und aufgeräumte Kammer.

»Ich kann euch leider nichts besseres anbieten. Es ist das letzte freie Zimmer.«

»Für uns reicht es schon«, beeilte sich Tamina zu sagen, die Peters Ansprüche in Bezug auf Luxus und Eleganz bereits hatte kennen lernen.

»Wieviel soll es denn kosten?« wollte Peter wissen und zückte seinen mittlerweile recht dünn gewordenen Geldbeutel. Der Wirt nannte den Preis.

»Was?! Und dabei heißt es noch, hier sei es billiger als in der Stadt.«

»So ist es auch. Also, was ist nun? Nehmt ihr’s?«

»Gibt es sonst keine Alternative?« fragte Peter, der um den tiefen Stand ihrer Reisekasse besorgt war.

»Keine was?«

»Altern… — Ich meine, gibt es keine Möglichkeit etwas günstiger unterzukommen?«

»Ihr könnt euch ein Strohlager im Stall machen. Das wäre erheblich wohlfeiler.«

Mit einem Blick, der sich kaum beschreiben läßt, drückte Peter dem Wirt das Geld in die Hand. Als sie alleine waren, mußte sich Peter nun den vorwurfsvollen Blicken Taminens stellen.

»Ja, ja. Ich weiß, daß unser Geld nur noch für drei Tage reicht. Aber ich werde doch nicht etwa im Stall bei den Vieh nächtigen.«

»Aber was sollen wir denn machen? wer weiß wie lange wir hier auf Alissandra warten müssen?« Falls sie überhaupt kommt, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Peter. »Ich werde mir halt eine Arbeit suchen müssen. Es kann ja für jemanden mit meiner Intelligenz und mit meiner überdurchschnittlichen Bildung nicht allzu schwierig sein, eine einigermaßen gut bezahlte Stellung zu bekommen. Ich werde mich heute Abend mal ein wenig bei den Gästen umhören. Vielleicht sucht einer der Kaufleute einen Assistenten der einen Sekretär für sein Kontor.«

»Hoffentlich«, meinte Tamina, die in dieser Beziehung so ihre Zweifel hatte.

Das Abendbrot fiel in Anbetracht der angespannten finanziellen Lage ziemlich bescheiden aus. Daß dies nicht gerade dazu beitrug, Peters Laune zu heben, kann man sich leicht denken. Aber wer ist schon fröhlich, wenn er die leckeren Braten und edlen Weine nur an den Nachbartischen aus der Ferne bewundern kann und selber mit Sparbrot vorliebnehmen muß. Nach einigen Bechern des billigsten Weines, den Peter diesmal in weiser Voraussicht mit Wasser verdünnte, verbesserte sich aber seine Stimmung zusehends, und so kamen er und Tamina bald in ein angeregtes Gespräch mit ihren Tischgenossen; zwei Kaufmanns-Lehrlingen und einem fahrenden Handwerksgesellen.

Die Burschen — sie mochten ungefähr in Peters Alter sein — erzählten von ihren Erlebnissen und Reiseabenteuern und Peter, der hierbei so einiges interessante über Land und Leute erfuhr, gab seinerseits einige — natürlich frei erfundene — Anekdoten zum Besten; Geschichten, wie er sie einst gelesen oder aus dem Fernsehen kannte und die er dann nach eigenem Gutdünken sehr geschickt ausschmückte und fortspann.

Tamina sah dem Treiben bald belustigt, bald besorgt zu, denn sie konnte sich nur schwerlich vorstellen, wie einer die tollen Erzählungen Peters nur für bare Münze nehmen konnte. Jeden Augenblick fürchtete sie, einer seiner Zuhörer könnte etwas merken und der dreisten Aufschneiderei ein böses Ende bereiten. Tamina fragte sich bereits ob es vielleicht nicht sogar besser wäre, wenn Peter einmal eine kräftige Abreibung erhielte. Nicht daß sie ihm übel wollte, aber aufrichtig und wahrheitsliebend wie sie war, bereitete es ihr einige Sorge, zu sehen wie dieser dreiste Junge ohne im mindesten zu erröten die schamlosesten Lügengeschichten erzählte. So etwas konnte doch nicht angehen, ohne irgendeinen moralischen Schaden zu verursachen.

Aber nichts dergleichen geschah. Sei es, daß die Kaufmanns-Burschen nicht gerade die hellsten waren, sei es, daß das von ihnen in reichlichen Mengen konsumierte Bier bereits seine Wirkung tat. Auf alle Fälle waren sie alle in bester Stimmung und die Schankstube war von Lachen und Grölen erfüllt; als zu guter Letzt auch ein fahrender Spielmann eintrat und nach alter Sitte gegen einen freien Becher Weines seiner Lieder vortrug, die er auf der Laute begleitete. Sein Gesang war nicht gerade ein Ohrenschmaus — wahrscheinlich war dies auch nicht das erste Wirtshaus, das er an diesem Abend besuchte —, dafür aber um so lauter; kurzum alle hatten ihren Spaß daran.

Tamina, die sich an den Gesprächen kaum beteiligte und nur selten das Wort ergriff, schaute sich dafür um so aufmerksamer in dem Raume um. Hier waren so viele verschiedene Menschen aus allen Teilen des Landes versammelt. Es gab so viele verschiedene Sitten und Trachten zu beobachten. Sie lauschte Peters Erzählungen nur mit einem Ohr, während sie versuchte, so viel wie möglich von den Gesprächen der anderen Gäste aufzuschnappen. Im Laufe der Jahre hatte sie durch das Beobachten der Gäste in der heimischen Wirtschaft eine gewisse Menschenkenntnis erworben, so daß sie sich zutraute, durch aufmerksames Betrachten erkennen zu können, was eines jeden Gastes Beruf, sein Temperament und Stimmung waren. Und wenn sie auch nicht immer richtig lag, so war in der Tat war ihre Treffsicherheit erstaunlich.

Da war zum Beispiel die Gruppe wohlhabender Kaufleute, die an dem großen Ecktisch mit den schweren Stühlen etwas abseits saßen. An der besonderen Aufmerksamkeit, mit der sie der Wirt persönlich bediente und an den Sitzkissen auf den Stühlen erkannte sie, daß es sich um reiche, spendable Stammgäste handelte. Sie waren zu sechst und vertrieben sich die Zeit mir Rauchen und dem Kartenspiel. Angesichts der Stapel von Münzen auf dem Tisch, mußten sie sehr wohlhabend sein. Zum Glück hatte Peter nichts davon bemerkt, dachte Tamina. Der wäre imstande, dort mitspielen zu wollen, in der Hoffnung auf das schnelle Geld. Und damit hätte sie gar nicht mal so unrecht. Zum Glück aber wurde er gar nicht erst in Versuchung geführt, denn er war augenblicklich vollauf damit beschäftigt, den inzwischen recht beduselten Zechgenossen die Geschichte von dem sprechenden Vogel zu erzählen, den er einem alten Seemann abgekauft hatte und der dann eines Tages… — aber lassen wir das und wenden uns wieder Tamina und ihren physiognomischen Studien zu.

Der Dicke dort, der das meiste Geld vor sich liegen hat, spielt gerne den unbeholfenen Tölpel, aber in Wirklichkeit ist er ganz gerissen, dachte sie. Es sind die Augen, man muß sich nur die Augen und den Mund von jemandem anschauen, vor allem wenn er sich unbeobachtet wähnt, dann kann man den Charakter am besten erkennen.

An einem anderen Tische, dort wo sich der Spielmann niedergelassen hatte, saßen eine Menge junger Burschen; offenbar die Lehrlinge und Gehilfen jener spielenden Kaufleute. Diese hatten selbstverständlich keine gepolsterten Stühle und ihnen wurde auch keine Vorzugsbehandlung zuteil. Auch tranken sie nicht edlen Wein in Flaschen aus Zinnbechern, wie ihre Herren, sondern den billigen vom Faß aus einfachen tönernen Bechern und Steingutkrügen. Dafür aber war ihre Stimmung ausgelassener und eine ganze Kompanie ungeschlachter Rekruten hätte nicht mehr Lärm machen können.

An den übrigen Tischen saßen fahrende Handwerker, einfache Reisende und Bauern aus der Umgebung. Taminas Aufmerksamkeit erregten zwei Gestalten, die so gar nicht zu den übrigen Gästen der Wirtschaft passen wollten. Der eine war ein älterer Herr, der allerdings auf den zweiten Blick hin, gar nicht mehr so alt wirkte. Es schien in der Tat unmöglich sein Alter auch nur annähernd zu schätzen. Sein gleichmäßig von grauen Strähnen durchzogenes Haar und die leicht gebeugte Haltung standen in krassem Gegensatz zu den glatten, fast jugendlichen Gesichtszügen und der lebhaften Mimik. Die Tatsache, daß er ganz in Schwarz gekleidet war, verlieh ihm ein würdiges aber durchaus düsteres und etwas geheimnisvolles Aussehen. Seine Nase war schmal und lang, und stach scharf aus dem Gesicht hervor. Der Mund war schmal, aber durchaus nicht unfreundlich. Das faszinierendste waren aber seine Augen. Unter scharf geschwungenen Brauen blickten zwei stechende mausgraue Augen, mit starren Pupillen. Unwillkürlich lief es Tamina kühl den Rücken hinab, als er sie direkt ansah und sie aufmerksam zu mustern schien.

Tamina konnte sich keine Vorstellung machen, wer dieser geheimnisvolle Fremde war, der allein an einem Tisch in der entferntesten Ecke saß. Wer hätte schon seine Gesellschaft lange ausgehalten?

Als ob er nur hergekommen ist, um die Leute auszuspionieren, dachte Tamina. Der Platz in der dunklen Ecke — der Fremde hatte die Lampe, die vor ihm stand ausgelöscht — erschien geradezu ideal um wenig Aufsehen zu erregend und den ganzen Raum überblicken zu können.

In der Mitte der Wirtsstube zwischen dem Schanktisch und ihrem eigenen Tisch saß eine Gruppe junger Burschen — es mochten, ihrer Kleidung nach zu schließen, vielleicht Studenten sein — von denen einer Tamina besonders auffiel. Anfänglich hatte sie ihn gar nicht wahrgenommen, da er durch einen anderen Gast teilweise verdeckt wurde.

Es handelte sich um einen jungen Mann — er mochte Anfang zwanzig sein — der vor einem großen Krug schäumenden Bieres saß und einen recht verdrießlichen Eindruck machte. Seine Kleidung nach schien er ein Junker zu sein, wenn er auch etwas heruntergekommen wirkte. Der Schwertgriff an seiner Seite bestätigte ihre Vermutung, es handele sich um einen Edelmann, vielleicht einen fahrenden Ritter. Allerdings schien er mehr zu der Sorte des verarmten niederen Dienstadels zu handeln, wovon es in den letzten Jahren auf Grund der Politik des Regenten immer mehr gab. Nicht einmal einen Knappen hielt er sich. Allerdings deutete ein leerer Platz an seiner Seite auf einen abwesenden Begleiter hin. Tamina glaubte sich undeutlich an einen schmächtigen blassen Jungen erinnern zu können, der an jenem Tisch gesessen war. Der Junge würde — wenn er zu diesem Herrn gehörte — bestimmt im Stroh nächtigen müssen; aber auch sein Herr schien nicht mit den nötigen Mitteln für einen längeren Aufenthalt in einer Herberge dieser Güteklasse versehen zu sein.

Tamina rückte ihren Stuhl zur Seite, denn in diesem Augenblick war der Begleiter des jungen Herrn an seinen Platz zurückgekehrt. Der Jüngling war recht schmal und von zartem Wuchs. Sein dunkles Haar wurde von einer weichen Filzmütze fast gänzlich verdeckt. Sanft geschwungene Augenbrauen, die sich in der Mitte trafen, beschirmten die großen dunkel blitzenden Augen, welche die meiste Zeit unter halb geschlossenen Lidern in die Ferne starrten, gaben ihm ein verlorenes, träumerisches Aussehen. Das Kinn war weich und vorstehend, was auf einen eigensinnigen Charakter schließen ließ.

Auf der einen Seite schien er genau zu wissen, was er wollte, auf der anderen wirkte er aber irgendwie verdrießlich, geradezu schmerzvoll bekümmert, grübelte Tamina weiter. Vor allem aber wirkte er so merkwürdig vertraut, als wären sie sich bereits einmal irgendwo begegnet, oder als wäre er mit jemandem verwandt, den sie kannte. Auf jeden Fall schien er genau so wenig an diesen Ort zu gehören, wie der graue Wolf in der dunklen Ecke — wie sie den geheimnisvollen Fremden getauft hatte. Als sie in seine Richtung blickte, sah sie, daß der Tisch leer und abgeräumt war. Der Fremde war verschwunden.

Der Abend verflog rasch, die Stimmung war laut und heiter. Die Geschäftsherren begaben sich zur Ruhe, nachdem sie beträchtliche Summen an den Dicken verloren hatten, der Schwierigkeiten hatte, seinen mächtig angeschwollenen Geldbeutel in der Rocktasche zu verstauen. Die Gehilfen taten es ihnen nach, denn sie würden am nächsten Morgen noch vor ihren Meistern aufstehen, um alles für die Abreise zu rüsten.

Peter und Tamina verabschiedeten sich herzlich von ihren Tischgenossen, die sich für die ausgezeichnete Unterhaltung höflich bedankten und, nachdem sie die beiden ihrer besten Wünsche für die Fortsetzung ihrer Reise versichert hatten, sich gegenseitig stützend in ihre Quartiere wankten.

»Geh du nur schon voraus«, sagte Peter zu Tamina. »Ich will noch etwas frische Luft schnappen gehen und nach dem Pferd schauen.« Mit etwas weichen Knien stand er auf und machte Anstalten den Ausgang zu erreichen, wobei er sich die größte Mühe gab, Taminen nicht merken zu lassen, daß er etwas zu tief ins Bierglas geschaut hatte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er.

»Aber du schwankst schon ziemlich. Soll ich dich nicht besser begleiten«, fragte sie mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis. Aber Peter winkte ab. Die kühle Nachtluft würde ihn gleich wieder frisch machen, meinte er.

»Du solltest nicht so viel trinken. Du weißt doch, daß dir das nicht bekommt. Morgen wollten wir doch früh aufstehen und nach Alissandra forschen.«

»Ja, ja, ich weiß«, brummte er unwirsch und stolperte hinaus. Die Erwähnung Alissandras hatte seine gute Laune wieder etwas gedämpft. Nicht zuletzt eingedenk seiner Anfälligkeit gegenüber geistigen Getränken und den Vorwürfen die er sich deswegen machte. Wäre er in jener verhängnisvollen Nacht nüchtern gewesen, so hätten sie Alissandra nicht verloren.

Er sah ein Gebäude vor sich aufragen; unwillkürlich hatte er seine Schritte in Richtung der Scheune gelenkt, wo die Reittiere der Gäste untergebracht waren. Da er zufällig in der Nähe ein Geschäft zu erledigen hatte, beschloß er, noch rasch einen Blick auf Mondenglanz zu werfen und zu schauen, ob das Pferd auch wohl versorgt sei. Nachdem er sich also der überflüssigen Flüssigkeit in seinem Körper entledigt hatte, betrat er leise den Stall.

Bei seinem Eintreten in das von einer einigen auf Sparflamme gedrehten Laterne erhellten, Gebäudes, wandten sich ihm zwei Dutzend glänzender Augen zu. Eine leichte Unruhe entstand, ob der nächtlichen Störung. Peter brauchte nicht lange, bis er die Schimmelstute gefunden hatte. Sie stand zuhinterst an der Wand, rechts vom Mittelgang. Bei seinem Herannahen, hob sie den Kopf und schnaubte leise. Peter streichelte sanft Mondenglanzes Nase, welche ausgiebig an ihm zu schnuppern begann. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie seinen Hosentaschen, wo sich aus Erfahrung stets der eine oder andere Leckerbissen verbarg. Als sie nichts fand, stupste sie ihn sachte und gab ein leises Wiehern von sich.

»Ach so. Du riechst das Bier«, flüsterte Peter schmunzelnd, dem eingefallen war, daß die meisten Pferde dem leckeren Gerstensaft durchaus zugetan waren.

»Nein, mein Liebes. Ich habe dir keines mitgebracht. Morgen aber sollst du einen ganzen Krug haben; das versprech’ ich dir. Erinnere mich ruhig daran, falls ich’s vergessen sollte.« Mondenglanz sah in an mit einem Blick der zu sagen schien: ›Und ob ich dich daran erinnern werde!‹ Peter lehnte sich schläfrig an die Wand. Dann griff er nach dem Kopf des Tieres und strich ihm durch die Stirnfransen. »Du hast mich wohl schon ein wenig vermißt? Ich weiß, daß ich dich in letzter Zeit etwas vernachlässigt habe.« Mondenglanz leckte ihm die Handfläche. »Ich hatte in letzter zeit ziemlich viel Kummer. Weißt du, was mich am meisten bedrückt?«

»?«

»Daß es allein meine eigene Schuld ist, daß wir Alissandra verloren haben.«

»?«

»Weil ich dummer Esel so viel von dem süßen Wein in mich hineingeschüttet habe, so daß ich unterwegs eingenickt bin. Ich hab’ die Schuld dem Unwetter gegeben, aber ich weiß, daß alles nicht geschehen wäre, wenn ich nüchtern gewesen wäre. — Wo sie jetzt wohl sein mag. Ach! ich wünschte, sie wäre jetzt hier bei uns.« das wünschte sich Mondenglanz auch, denn von Alissandra hatte sie oft zur Belohnung süße Honigkuchenstückchen bekommen.

»Aber deswegen mußt du nicht gleich die Ohren hängen lassen. Du hast ja noch mich.« Er schlang seine Arme um den Hals des Pferdes und drückte sein Gesicht in das warme Fell.

»Ich verspreche dir, daß ich immer gut für dich sorgen werde. Du bist das liebste Pferdchen, das ich jemals hatte.« Er gab Mondenglanz einen Kuß auf die samtig-weiche Nase.

»!«

»Ich muß jetzt gehen. Schlaf schön.«

»Chrrr…« Mondenglanz schüttelte den Kopf und rieb ihn an Peters Bein.

»Psst! Du darfst doch nicht mitten in der Nacht so einen Lärm machen. Was sollen denn die anderen denken? Wenn du willst, daß ich bei dir bleibe, dann bleib’ ich eben noch ‘ne Weile. Ich würde ja doch nur Tamina aufwecken, wenn ich jetzt ins Bett ginge. Ich leg mich oben ins Stroh. Mach’s gut.«

Vorsichtig und nicht ohne einige Mühe erklomm Peter die steile Leiter. »Knarre nicht so laut! Du kannst auch leise zusammenbrechen«, ermahnte er sie, bevor er sich in das knisternde und stachelige Dunkel der Tenne begab.

Ungeachtet des harten und kitzelnden Strohs ließ sich Peter in die weiche Masse fallen. Er spürte eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Nur wenige Augenblicke lang vernahm er noch das Rascheln und das leise Klirren der Ketten, mit denen die Tiere unten angebunden waren, dann versank er in einen tiefen Schlummer, aus dem er erst viele Stunden später erwachen sollte.

Dann allerdings war würde es an ihm sein, ein dickes Ausrufezeichen zu machen, wie es selbst Mondenglanz nicht besser vermöchte…

 

Vorheriges Kapitel

Seitenanfang

Nächstes Kapitel

Titelseite/Inhaltsverzeichnis

Home

© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:37