Waldnest
Als
Peter
die Augen aufschlug, sah er über sich grobe, rauchgeschwärzte Holzbalken. Er
hatte keine Ahnung, wo er sich befand, oder was geschehen sein könnte. Seine
erste bewußte Empfindung war die Wärme, die ihn umgab. Zum ersten Male seit
Stunden fühlte er dieses herrliche belebende Kribbeln in Armen und Beinen. Er
lag auf einem einfachen Lager, bestehend aus vier zu einem Kasten zusammengefügten
Brettern, gefüllt mit weichem, duftigem Heu und mit einem weißen Leintuch
bezogen. Über ihm lag ein dickes, kuscheliges Schafsfell als Bettdecke. Durch
ein kleines Fenster drang fiel ein wenig helles Sonnenlicht ein und ließ die
Staubteilchen in der Luft glitzern. Die Wände der Kammer bestanden aus
einfachen Brettern, deren Fugen sorgfältig mit einer Art von Lehm oder Mörtel
ausgestrichen waren. Er drehte sich um und erblickte zu seiner größten
Erleichterung Taminen neben sich unter der Felldecke liegen. Sie lag mit
angezogenen Knien auf der Seite, einen Zipfel des Felles mit beiden Armen
umschlungen. Der Anblick dieses friedlich schlummernden Mädchens hatte eine
unendlich beruhigende Wirkung auf Peter. Er wußte jetzt, daß sie beide
gerettet und in Sicherheit waren; mehr interessierte ihn im Augenblick nicht. Er
rollte sich auf den Bauch – das war seine bevorzugte Schlafstellung – und
schlief bald darauf wieder ein.
Als
Peter erwachte, standen zwei Frauen in der kleinen Tür. Es war inzwischen
dunkel geworden und durch das Fenster schimmerten funkelnde Sterne zwischen den
kahlen, wie verkrümmte schwarze Krallen in den Himmel greifenden Ästen. Eine
der beiden Frauen trug ein flackerndes Öllicht in der Hand. Sie trug ein langes
dunkles, einfach geschnittenes Kleid mit einer weißen Schürze. Sie mochte wohl
um die fünfzig Jahre alt sein, schätzte Peter. Ihr Gesicht war zerfurcht und
zeugte von einem harten Leben. Der Mund war schmal und gerade, die Nase
allerdings war ein gutes Stück zu groß geraten und wirkte auf den ersten Blick
beinahe komisch. Um ihre Augen jedoch lag ein guter Zug. Die andere konnte er
nicht genau erkennen, da sie im Schatten der Alten stand; sie war aber noch sehr
jung. Die jüngere hielt zwei Schalen in Händen, aus denen es heiß dampfte. Im
Hintergrund konnte Peter einen größeren Raum erkennen mit einem mächtigen
Hirschgeweih an der Wand.
»Habt
ihr schön ausgeschlafen?« fragte die Alte und trat hinein. Tamina war
ebenfalls erwacht und starrte die beiden verwirrt an. »Wenn Seraphina euch
nicht zufällig beim Holzsuchen im Wald entdeckt hätte, wärt ihr bestimmt
erfroren«, sagte die Alte. Was wolltet ihr denn bloß bei diesem Unwetter
allein im Wald?«
»Ich
— wir — äh — haben uns verirrt«, sagte Tamina vorsichtig.
»Ist
schon gut. Ihr müßt erst mal etwas essen, damit ihr wieder zu Kräften kommt.
Seraphina hat euch eine kräftige Brühe gekocht. Wenn ihr gegessen habt, könnt
ihr erzählen.
»Was
ist mit Mondenglanz«, fragte Peter.
»Wer?«
»Ich
meine mein Pferd; eine kleine weiße Stute.«
»Der
geht es gut, wir haben sie in der Nähe des Lagers gefunden. Sie steht jetzt bei
unsern Pferden im Stall und frißt ihren Hafer«, sagte die Alte und stellt das
Öllämpchen, welches sie in der Hand trug, auf den Tisch. Seraphina kam herein
und brachte die beiden Schalen mit, sowie ein großes Stück dunklen Brotes, das
sie aus ihrer Schürze wickelte. Die Alte verließ die Kammer und kümmerte sich
um ihre übrigen Geschäfte.
»Hallo!
Ich heiße Seraphina. Aber das wißt ihr schon«, sagte das dunkelhaarige Mädchen.
»Was
für ein schöner Name«, sagte Peter und machte Anstalten, sich aus dem Bette
zu erheben, als er feststellen mußte, daß er nicht ganz angezogen war.
Erschrocken legte er sich wieder hin und zog das Schaffell bis ans Kinn hoch. »Das
scheint hier langsam eine Gewohnheit zu werden, halbnackt in fremden Betten
aufzuwachen.«, murmelte er.
Seraphina
verstand nicht ganz und machte ein verdutztes Gesicht. »Ach! es ist nichts. Ich
habe nur laut gedacht«, entschuldigte sich Peter, der eine gewisse Wärme in
den Ohrmuscheln verspürte, als er in Seraphinas lachendes Gesicht schaute. Der
vergnügte Gesichtsausdruck Taminens trug allerdings auch nicht gerade zur Stärkung
seines Selbstvertrauens bei. Seraphina ließ ein leises, helles Lachen vernehmen
und sagte zu ihm: »Keine Angst! Eure Kleider sind drüben am Kamin zum Trocknen
aufgehängt. Inzwischen müßten sie bereit sein. Ihr habt nämlich fast einen
ganzen Tag lang geschlafen, wie die Murmeltiere, im Winterschlaf. Anfangs hatten
wir sogar Angst, daß ihr uns überhaupt nicht mehr wach würdet. Aber jetzt müßt
ihr meine Suppe essen, so lange sie noch warm ist. Ich komme später wieder
vorbei, wenn ihr fertig seid.«
Als
Seraphina die Tür hinter sich zugezogen hatte, sahen sich Peter und Tamina
einen Augenblick lang schweigend an. Dann schienen beide den gleichen Gedanken
zu haben. In Blitzesschnelle saßen beide am Tisch uns schlürften gierig die
heiße Fleischbrühe, ihrer nicht ganz ziemenden Kleidung vergessend. Oder
besser gesagt, nicht achtend, denn Peter nahm durchaus mit einem langen,
neugierigen, schamvoll verstohlenen Blick Taminens magere aber sonst durchaus
wohlgeformte Gestalt zur Kenntnis und stellte insgeheim Betrachtungen an welcher
Art Unterbekleidung in diesem Teile des Landes bei jungen Mädchen der Brauch
war. Und er kam bald zu dem Schluß, daß ihm dieser Anblick gar wohl gefiel.
Tamina
indessen hatte weniger Augen für Peters nackten Bauch, der allerdings in den
vergangenen Wochen sehr abgenommen hatte, als vielmehr für die labenden Speisen
auf dem Tisch; obzwar es nicht ganz aufrichtig zu sagen wäre, daß sie Peter
keines Blickes gewürdigt hätte.
Als
sie ihr Mal beendet hatten und sich ihre Blicke trafen, wandten sie beide errötend
die Gesichter voneinander ab und sahen angestrengt in eine andre Richtung.
Tamina war zwar keineswegs unansehnlich, aber mit der schönen Alissandra konnte
sie sich nicht messen; noch nicht. Aber in ein paar Jahren vielleicht… Peter
wandte seine Gedanken an Alissandra. Was mochte ihr bloß zugestoßen sein? Süße,
tapfere, wunderschöne Alissandra!
Tamina,
die Peters Seufzen vernahm, erriet leicht seine Gedanken und versuchte, ihn so
gut sie konnte, zu trösten. »Meinst du, es geht ihr gut?« fragte er leise.
»Bestimmt.
Ihr ist sicher nichts passiert. Ihr Pferd ist stark, sie hat alle Vorräte, und
sie kennt den Weg. Kopf hoch, Peter! In ein paar Tagen werden wir sie
wohlbehalten in Carlan treffen.« Tamina versuchte möglichst heiter und
zuversichtlich zu klingen, aber auch sie machte sich natürlich Sorgen.
»Wenn
wir uns vor der Abreise doch nur nicht so albern gestritten hätten. Dabei war
es meine Schuld. Ich habe mich wie ein Esel benommen. Ich hätte ihr so vieles
zu sagen gehabt, und jetzt ist alles anders gekommen. Dabei hatte ich ihren
Eltern versprochen gut auf sie acht zu geben. Wenn ich nicht eingeschlafen wäre,
hätten wir nie den Weg verloren…«
»Hör’
auf, dir für alles die Schuld zu geben, Peter.« Tamina nahm seinen Arm. Ihr
werdet wieder zu einander finden.«
»Ja!
Ich werde sie suchen, überall. Und wenn ich dafür das ganz Land absuchen müßte…«
In
diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und Seraphina schlüpfte herein. Sie
trug Peters und Taminens Kleider im Arm. Während sie das Geschirr wegräumte,
zogen sich die beiden eilig an. Dann folgten sie Seraphina in die große
Wohnstube mit dem offenen Kamin. Es war der größte Raum in dem Blockhaus. Er
diente zugleich als Wohnzimmer und als Küche. Ein schwerer Tisch stand in der
Mitte, ein eiserner Kochherd füllte eine Ecke aus, zwei große Schränke, ein
Regal mit allerlei Kochgeschirr und eine Kiste in der andern Ecke komplettierten
das Mobiliar. An der Wand über dem Rauchfang hing ein gewaltiges Hirschgeweih,
neben dem ein gutes Dutzend kleinerer Trophäen sich geradezu zierlich
ausnahmen. Eine schmale hölzerne Stiege führte in das Obergeschoß. Auf dem Fußboden
lagen zu Peters Erstaunen zwei große, flauschigweiche und sehr edel wirkende
Teppiche mit orientalischen Mustern. Sie paßten nicht im Geringsten in die
einfach eingerichtete Stube.
In
dem Sessel saß die Alte und war mit ihrer Handarbeit beschäftigt. Seraphina
lud die beiden Eintretenden ein, sich zu ihr an den Großen Tisch zu setzten. In
dessen Mitte stand eine flache Holzschale, die mit Baum- und Haselnüssen von
bester Qualität gefüllt war.
Während
Tamina auf Seraphinas freundliche Einladung vergeblich versuchte, die Nüsse von
Hand zu knacken, hub Peter an, der gespannt lauschenden Seraphina und der nicht
minder neugierigen Alten — sie hieß übrigens Marisa — die ab und zu
scharfe Blicke von ihrem Sessel ausschickte und die beiden Reisenden gründlich
musterte, eine geeignete Geschichte aufzutischen, die möglichst nah der
Wahrheit blieb, ohne aber die genauen Umstände und Hintergründe ihrer Reise zu
verraten.
»Also,
es begann vor etwa einem Monat…« sprach er und nahm Tamina die widerspenstige
Nuß aus der Hand und zerschlug sie mit einem kräftigen Fausthieb, wofür er
von dem Mädchen bewundernde Blicke erntete, die ihn über den Schmerz in der
Hand hinwegtrösteten, den sich nicht anmerken zu lassen, ihn einige
Beherrschung kostete. Es sprach weiter: »…da fing unser ganzes Unglück an.
Unser armer Vater starb nach einer langen, schweren Krankheit. Und so waren wir
ganz alleine, meine Schwester und ich…« Tamina warf ihm einen Blick zu, der
aus einer Mischung aus Staunen und Bewunderung für den dreisten Lügner
bestand.
»…Unser
bescheidenes Erbe wurde von den Schulden fast gänzlich aufgezehrt und so blieb
uns nichts weiter übrig, als zu unserm Ohm zu ziehen, der im Süden als
Kaufmann lebt…«
»Für
Geschwister seht ihr euch aber nicht besonders ähnlich«, wandte die Alte ein.
Auch Seraphina schien dies aufgefallen zu sein, denn sie schaute Peter fragend
an. Dieser reagierte blitzschnell.
»Oh!
Aber wir sind auch nicht Geschwister im eigentlichen Sinne. Ich meine, Tamina
ist meine Halbschwester.« Tamina biß sich auf die Lippen, um nicht in Lachen
auszubrechen. Zum Glück bemerkte dies niemand außer Peter, welcher ihr
daraufhin einen leichten Stups ans Schienbein gab.
»Unser
Vater zog sie wie ein eigenes Kind auf. Auf unserer Reise gerieten wir dann in
diesen schrecklichen Schneesturm, der uns vom Wege abbrachte. Wir möchten
unsere Reise auch so bald als möglich fortsetzen«, beendete er seine
Geschichte.
»Ihr
armen Kinder! Da habt ihr ja noch viel vor euch«, sagte Seraphina, die von der
Geschichte noch ganz gebannt war.
»So,
nun möchten wir aber auch gerne wissen, wohin es uns hier verschlagen hat und
wie weit es bis zu dem roten Fluß ist«, sagte Peter.
»Ihr
seid hier im Räu…«
»Seraphina!«
rief die Alte scharf. »Ihr seid hier in einem kleinen armseligen Holzfällerdorf
gelandet«, antwortete die Alte an Seraphinens Stelle. »Zur Zeit sind die Männer
unterwegs bei der Arbeit. Aber sie werden bald zurückkehren.«
»Werden
denn im Winter auch Bäume gefällt?« wunderte sich Tamina, der diese Erklärung
merkwürdig vorkam.
»Ihr
bleibt vielleicht noch ein oder zwei Tage hier, bis die Männer wieder zurück
sind. Sie werden euch dann den Weg aus dem Wald heraus zeigen. Allein würdet
ihr euch wieder hoffnungslos verirren; und wer weiß, ob ihr noch einmal so ein
Glück haben werdet, rechtzeitig gefunden zu werden«, meinte Seraphina. »Aber
jetzt ist nur wichtig, daß ihr euch ausruht und wieder Kräfte sammelt für die
Reise. Also marsch ins Bett!« befahl sie lachend. Obwohl weder Peter noch
Tamina sonderlich müde waren, ließen sie sich widerspruchslos zu Bette
bringen. Nachdem sie sich entkleidet hatten und Peter es sich bereits bequem
gemacht hatte, indem er hier und da das Stroh zurechtdrückte, legte Tamina noch
Holz nach.
»Du
Peter, ich glaube irgend’was ist hier nicht in der Ordnung«, sagte sie leise
zu ihm und kroch unter die wollene Decke.
»Was
soll denn hier nicht stimmen?« fragte er verwundert.
»Ich
habe einfach ein sehr ungutes Gefühl. Ich kann’s nicht recht beschreiben,
aber irgend’was beunruhigt mich. Laß uns bitte so schnell wie möglich von
hier verschwinden.«
»Aber
ich verstehe nicht ganz, worauf du…«
»Im
Winter werden keine Bäume gefällt«, sagte Tamina. »Und ist dir hier denn
nichts aufgefallen?«
»Nicht
daß ich wüßte«, erwiderte Peter, der noch immer nicht begreifen konnte, was
für eine unbekannte Gefahr an diesem friedlichen Orte drohen könnte.
»Diese
beiden wertvollen Teppiche in einer armen Holzfällerhütte? Und hast du
Seraphinas Halskette gesehen?« Peter schüttelte den Kopf. »Naja, ich kann mir
denken, daß du woandershin geschaut hast. Ich möchte jedenfalls wetten, daß
die Kette aus reinem Gold ist. Und klein ist die nicht. Und wozu brauchen die
einen solch hohen Zaun aus angespitzten Pfählen um die paar Hütten herum?«
»So
etwas nennt man eine Palisade, und vermutlich dient sie dazu Wölfe oder Bären
fernzuhalten. Ich glaube, du siehst Gespenster, Tamina. Immerhin haben sie uns
das Leben gerettet und uns freundlich aufgenommen und bewirtet. Wie kann man da
gleich an so etwas denken?«
»Wie
du meinst. Auf alle Fälle bleibe ich wachsam«, sagte Tamina und gähnte
herzlich. »Gute Nacht, Peter.« — »Gute Nacht, Tamina«
Während
Peter bald darauf eingeschlafen war und in süßen Träumen schwelgte, lag
Tamina noch lange wach und brütete vor sich hin.
Hätte
sie auch nur im mindesten geahnt, was nur wenige Stunden später geschehen
sollte, so wäre vielleicht alles ganz anders gekommen, so aber schlief auch sie
endlich ahnungslos ein.
Stunden
später wurde die nächtliche Stille durch Hufgetrappel zahlreicher Pferde
durchbrochen. Dumpfe Männerstimmen erschollen vor dem Tore. Im Dorfe liefen
eilige Füße herbei, das Tor zu öffnen. Etwa ein Dutzend Männer, in dunkle Mäntel
gehüllt, führten schwarze Pferde ins Lager, hin zum Stall. Ein großer Mann
lief auf das Haus in der Mitte der Siedlung zu, als ihm eine aufgeregte Stimme
beim Namen rief. Unwillig wandte er sich um. Ein anderer, jüngerer Mann kam aus
dem Stall gelaufen. Aus dem offenen Stalltor fiel ein breiter gelblicher
Lichtschein über den von unzähligen Füßen und Hufen eingetretenen Schnee.
Ein verworrenes Relief aus Schatten und glitzernder Reflexion wurde sichtbar und
bildete einen scharfen Kontrast zu dem verschwommenen Weiß der unversehrten
Schneedecke.
Als
der junge Mann den anderen erreicht hatte, flüsterte er ihm einige aufgeregte
Worte ins Ohr und deutete auf das Stalltor. Der andere zauderte einen Augenblick
und folgte ihm nach dem Stall.
Ein
spitzer Schrei weckte Peter schlagartig aus seinen Träumen. Voller Schrecken
richtete er sich auf. Tamina saß kerzengerade auf ihrem Lager. Die Augen
schreckgeweitet, den Mund zum Schreien weit geöffnet, starr vor furcht war ihr
Blick auf die Tür gerichtet. Peter folgte ihren Augen und schrak ebenfalls zurück.
In der Tür stand, breitbeinig und schelmisch grinsend, wie ein Bär —
Sminjan, der Räuberhauptmann. Dicht dahinter stand einer der jüngeren Räuber,
die an dem Kartenspiel im Wirtshaus teilgenommen hatten, Seraphina und die Alte.
»habt
ihr ernsthaft geglaubt, ihr könntet dem schlauen Sminjan entwischen? Ha, ha! Da
habt ihr euch aber geschnitten. So, raus aus den Federn! Für euch ist das
bequeme Leben jetzt vorbei.« Mit diesen Worten stürmte er herein und zerrte
Peter aus dem Bett. Dieser war so überrumpelt, daß er jede Gegenwehr vergaß.
»Los,
das gilt auch für dich, Mädel!« rief er und stierte die völlig verängstigte
Tamina mit zorngerötetem Gesicht an. Das Mädchen war den Tränen nahe. Hastig
griff Peter nach seinen Kleidern und wollte sich just anziehen, als er von
Sminjan einen derben Schlag auf die Schulter erhielt. »Das kannst du draußen
auch machen.« Noch ehe sie es sich versahen, wurden Tamina und Peter gepackt
und hinausbefördert.
Barfüßig
und nur halb bekleidet stieß man sie über den verschneiten Hof und führte sie
hinter das Haus in einen der kleinen Schuppen.
Als
Tamina einen Augenblick zögerte, einzutreten, erhielt sie von hinten einen
brutalen Stoß, daß sie vornüber hineinstürzte. Mit einem Krachen schlug
hinter ihr die Tür zu. Von außen wurde ein Riegel vorgeschoben. Dann
entfernten sich Schritte über den Hof. Langsam verhallte das Knirschen der
Schritte im Schnee. Eine Tür fiel ins Schloß, dann war nichts mehr zu hören,
als Taminens verzweifeltes Schluchzen. Peter legte seine Arme um das verängstigte,
bitterlich frierende Mädchen. Leise und mit so viel Selbstvertrauen, wie er nur
aufbringen konnte, sprach er auf sie ein: » Bitte höre auf zu weinen. Sie sind
jetzt fort. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ja da. Oh, komm endlich!
Ich ertrage es nicht, ein so hübsches Mädel weinen zu sehen.«
»Du
kennst ihn nicht. Er kann so schrecklich grausam sein. Wenn er herausgefunden
hat, wer deine Freundin ist und wer du bist, dann geht es uns an den Kragen.«
Taminas Stimmen bebte, als sie die Worte ausstieß. Peter half ihr beim
Anziehen. Danach legte er selber seine Kleider an, bis auf den Umhang. Den legte
er der sich sträubenden Tamina um die Schultern.
»Keine
Widerrede!« gebot er. »Ich friere nicht so leicht. Ich will nicht, daß du
dich noch erkältest.« Dankbar lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und er
legte seinen Arm um die ihren.
»Ich
fürchte«, meinte Peter lächelnd, »das Frühstück können wir uns
abschminken.«
»Sieht
ganz danach aus« erwiderte Tamina nun ebenfalls lächelnd. Es ging ihr schon
viel besser. »Ob wir hier vielleicht ‘nauskommen?«
»Ich
fürchte, das ist zu stabil gebaut. Alles ist aus massivem Holz. Keine Fenster,
die Tür besteht aus dicken Brettern und der Riegel aus Eisen. Ohne Werkzeuge
ist das nicht zu schaffen.
Da
an Schlaf ohnehin nicht zu denken war, verbrachten sie den Rest der Nacht damit,
ihr Gefängnis gründlicher zu untersuchen und sich gleichzeitig so gut als möglich
vor dem eisigen Nachtfrost zu schützen. Endlos zogen sich die Stunden hin. Im
Ungewissen über ihr weiteres Schicksal harrten die beiden Gefangenen aus und
versuchten nicht daran zu denken, was sie anderntags wohl erwarten würde.
Kaum
verhieß ein heller Schein im Osten das Herannahen eines neuen Tages, da ließen
sich bereits Schritte vernehmen, die sich der Baracke näherten. Mit einem
Krachen wurde der Riegel zurückgeschoben und auf schwang die Tür.
Ein
häßlicher, grobschlächtiger Kerl von mittlerem Alter und ungepflegter
Erscheinung, dessen Haar fettig glänzte, trat herein.
»Kommt
mit! Der Chef will euch sprechen«, sagte er und packte Peter hart am Arm.
»Lassen
Sie mich los, ich kann selber gehen«, protestierte Peter ohne Erfolg. Der Rüpel
hielt ihn eisern und schob ihn vor sich her. Tamina lief hintendrein, noch immer
Peters Hand haltend.
Sie
wurden zu einem der größeren Häuser gebracht, das dem Anschein nach als
Versammlungslokal diente. Drinnen wurden sie von Sminjan und seiner Bande
bereits erwartet. Ersterer saß hinter einem mächtigen Tisch an einem prunkvoll
geschnitzten Stuhl, dessen Herkunft ebenso zweifelhaft war wie das übrige
Mobiliar in dem rechteckigen, mit Leuchtern und polierten Waffen geschmückten
Raum. In einer Ecke waren mehrere Kisten gestapelt. Wahrscheinlich enthielten
sie die Beute eines vergangenen Raubzuges, denn sie waren alle mit Eisenbändern
beschlagen und wurden durch schwere Schlösser geschützt. Gemälde hingen teils
an den Wänden, teils lehnten sie auch achtlos weggestellt an der Wand.
Außer
dem Hauptmann befand sich offenbar die ganze Räuberbande in dem Raume, so daß
eine gespannte Atmosphäre herrschte. Die Männer sahen aus wie die Räuber in
den Bilderbüchern: böse, bärtig, teils verwegen, mit den wunderlichsten Gewändern
bekleidet, die man sich denken konnte. Manche trugen protzige Goldringe und
Ketten, andere hatten gleich mehrere Messer im Gürtel stecken. Zum teil sahen
sie so grotesk aus, daß Peter beinahe den Eindruck bekam, sich in einem
Filmstudio oder auf einer Theaterbühne und nicht in einem wirklichen Räuberlager
zu befinden.
Als
der Bärtige mit Tamina und Peter eintrat, hub ein Gewirr von rauhen
durcheinandersprechenden Stimmen an. Sminjan, der eben noch im Gespräch mit
einem der neben ihm am Tische Sitzenden gewesen war, hob den Blick und gebot
allen mit einer Handbewegung zu schweigen. Sogleich verstummten alle Gespräche.
Peter und Tamina standen dicht beisammen mitten in dem Raum, von den finster
blickenden Räubern umgeben.
»Du
dachtest also, du könntest mich austricksen, was?« hub Sminjan zu Peter
gewandt an. »Dein Trick war schlau. Manch einer wäre vielleicht darauf
reingefallen. Aber nicht ich.« Er grinste hämisch. »Wo ist das andere Mädchen?«
fragte er unvermittelt. Peter schluckte, als er erkannte, daß Sminjan keine
Zeit verlor und direkt zur Sache kommen wollte.
»Es
tut mir leid, Tamina. Du hattest recht mit deinen Befürchtungen. Ich wollte
wieder nicht auf dich hören und jetzt haben wir die Bescherung«, flüsterte er
leise.
»Maul
halten!« donnerte Sminjan. »Du redest nur wenn du gefragt wirst, und nur mit
mir. Also sprich! Wo ist das wertvolle Prinzeßchen abgeblieben. Ich kenne nämlich
jemand, der sie unbedingt wiederhaben möchte, und der bereit ist eine Menge dafür
zu löhnen. Also raus mit der Sprache, sonst geht’s dir schlecht.«
»Ich
— ich weiß nicht. Wir haben uns im Sturm aus den Augen verloren, gestern
Nacht.«
»Ich
laß’ mich nicht für dumm verkaufen. O Nein! So nicht!«
»Aber
es ist wahr. Ihr müßt uns glauben«, versicherte Tamina.
»Ach
ja, Taminchen. Es wird deinen Vater bestimmt freuen, wenn er erfährt, daß ich
dich wohlbehalten aufgenommen habe. Du kommst mir gerade recht. Jetzt habe ich
einen passenden Einsatz für unser nächstes Kartenspiel. Oder behalten wir dich
besser gleich hier? der kleine Arno hat nämlich schon lange ein Auge auf dich
geworfen«, sagte Sminjan und deutete auf den jungen Mann mit dem Rotschopf der
in der Menge der Räuber stand. Unter dem rauhen Gelächter des wilden Haufens
deutete Arne eine galante Verbeugung gegen Tamina an. Das Mädchen wurde bleich
und ergriff Peters Hand fester.
»Hören
Sie«, sagte dieser zu dem Räuberhauptmann. »Was wollen Sie denn von uns?
Alissandra — ich meine die Prinzessin, die Sie suchen, ist nicht bei uns. Und
wir haben auch nichts, was Ihnen von Nutzen sein könnte. Warum lassen Sie uns
nicht einfach gehen?«
»Weil
ich erstens gerne wüßte, was du mit der Prinzessin zu tun hast und weil du
zweitens uns bestimmt zu ihr führen wirst, wenn dir dein Leben lieb ist. Du weißt
doch sicher, wohin sie unterwegs ist.«
»Niemals!«
schrie Peter. »Nie und nimmer werde ich Alissandra verraten und schon gar nicht
an solch einen widerwärtigen Halunken wie dich.« Noch während er die Worte
aussprach, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Welcher Teufel
hatte ihm diese Antwort eingegeben? In dem Raum herrschte Totenstille. Man hätte
eine Nähnadel fallen gehört.
»So
spricht niemand zum Hauptmann.« rief der Bärtige und schlug Peter mit der
flachen Hand ins Gesicht, so daß dieser heftig zu Boden stürzte. Sogleich war
der Kerl über ihm und hielt dem zitternden Peter ein Messer an die Kehle gedrückt.
Sminjan zog ihn weg. »Das ist genug, Gero! Hier bestimme immer noch ich. Du hättest
ihn fast umgebracht. Der ist doch nur eine halbe Portion. Wenn der draufgeht,
dann ist auch die Information verloren.«
Tamina
half Peter, aus dessen Nase das Blut herauslief, und der noch ziemlich benommen
war, wieder auf die Beine. Sie warf einen haßerfüllten Blick auf die beiden Männer,
was die beiden aber nur zum Lachen reizte, worauf die andern einfielen.
»Ich
gebe euch bis Mittag Bedenkfrist. Besser ihr sagt mir dann, was ich wissen will,
oder es geht euch an den Kragen. Und glaubt nicht, meine Männer wüßten nicht,
wie man einen zum Reden bringt.« Er machte eine unwirsche Handbewegung, worauf
die beiden von Gero hinausbefördert und zurück in ihr Gefängnis gebracht
wurden.
»Dieses
Schwein!« stieß Peter verbittert hervor.
»Halte
einen Augenblick still, damit ich deine Nase untersuchen kann«, sagte Tamina
und zog ein kleines weißes Taschentuch hervor. »Hier, halt’ das darauf und
leg’ den Kopf in den Nacken. Ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist. Das
war übrigens sehr mutig von dir«, meinte sie und in ihrer Stimme schwang
aufrichtige Bewunderung.
»Es
war ausgesprochen dumm«, widersprach Peter. »Und das Ergebnis gibt mir recht.«
Er betastete vorsichtig seine angeschwollene Nase und Wange. Natürlich fühlte
er sich durch Taminens Worte sehr geschmeichelt und er sog das Kompliment auf
wie ein Schwamm. Trotzdem war es töricht gewesen, den Hauptmann zu erzürnen.
Er wußte genau, daß er ein lockeres Mundwerk hatte und sich so manches dadurch
verdarb. Hoffentlich wäre der Hauptmann bei ihrem nächsten Zusammentreffen
etwas milder gestimmt, sonst würde es schlecht um seine körperliche Integrität
bestellt sein.
»Was
sollen wir jetzt bloß tun?« fragte er.
»Ich
glaube es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ihnen die Wahrheit zu erzählen.«
»Das
kann doch nicht dein ernst sein. Nein, so etwas kommt überhaupt nicht in Frage«
»Aber
es ist die einzige Möglichkeit, jemals hier wieder wegzukommen. Er wird dir
schreckliche Dinge antun. Und wenn das nichts nützt und er einsieht, daß du
ihm nichts mehr nützen wirst, dann wird er dich…« Sie verstummte.
»Umbringen,
meinst du? ich fürchte das wird er auch tun, wenn ich ihm sage, wo wir
Alissandra treffen wollen. Denn ich bin der einzige, der ihm gefährlich werden
könnte. Dich wird er wahrscheinlich wider zu Borg zurückschicken. Aber für
mich hat er keine Verwendung«, sagte Peter leise.
»So
etwas darfst du nicht denken«, meinte Tamina vorwurfsvoll, aber ihre Stimme
bebte, denn sie kannte natürlich Sminjan zu gut um nicht zu wissen, daß Peter
recht hatte.
»Irgend
etwas müssen wir doch tun können«, rief sie verzweifelt.
»Das
werden wir auch«, meinte Peter und versuchte so zuversichtlich zu klingen, wie
es ihm nur irgend möglich war. Seine Nase hatte inzwischen zu bluten aufgehört,
tat aber noch immer scheußlich weh. »Wir werden fliehen«, meinte er beinahe
fröhlich. »Und zwar noch heute Nacht.«
»Ja,
aber wie in aller Welt?« Tamina konnte sich beim besten Willen nicht
vorstellen, welchen Plan Peter verfolgte. »Hast du schon einen Fluchtplan?«
»Noch
nicht, aber laß’ mich nur in Ruhe nachdenken, dann wird mir bestimmt etwas
einfallen.« Er begann in dem engen Raum hin und wider zu wandern. Mit gesenktem
Haupt und halbgeschlossenen Lidern schien er so tief in Gedanken versunken, daß
er aller andern Dinge vergaß. Tamina sah ihm verständnislos nach. Doch es
blieb ihr nicht anderes übrig, als abzuwarten.
Die
Zeit verging ohne daß sich an dem Zustand der Gefangenen etwas verändert hätte.
Niemand kam nach ihnen zu sehen, oder ihnen etwas zu essen oder zu trinken zu
bringen. In ihrer Not brach Tamina einige Eiszapfen ab, die von dem Dach
herabhingen und die sie wie eine Eisstange lutschte. Sie bot Peter die Hälfte
ihres Vorrates an, aber er lehnte ab. Während die Sonne den morgendlichen Dunst
vertrieb und sich die Luft langsam erwärmte, blieb Tamina nichts andres übrig,
als im Halbdunkel der Hütte schweigend auszuharren, da Peter nicht ansprechbar
war.
Gegen
Mittag kam Seraphina vorbei. Sie hatte etwas Brot und zwei Äpfel unter ihrer
Schürze verborgen, die sie den beiden zwischen den Latten des Fenstergitters
hineinschob. »Ich kann nicht lange bleiben. Sie dürfen mich nicht sehen«, flüsterte
sie. »Warum habt ihr mir gestern nicht die Wahrheit gesagt? Da hätte ich euch
noch helfen können zu verschwinden. Als mein Vater in der Nacht euer Pferd im
Stall entdeckt hatte, da wurde er ganz aufgeregt; und als er merkte, daß das
andere Mädchen nicht bei euch war, da wurde er fürchterlich wütend.«
»Dein
Vater?« entfuhr es Peter und Tamina gleichzeitig. »Dann bist du die Tochter
von Sminjan, dem Räuberhauptmann?« fragte Tamina ungläubig.
»Hört
zu«, sagte Seraphina und blickte Peter mit einem Lächeln an. »Ich möchte
nicht, daß euch etwas geschieht. Auch nicht eurer Gefährtin. Ich werde alles
tun, daß mein Vater euch freiläßt, wenn ihr auf seine Wünsche eingeht. Sagt
ihm was er wissen will; wenigstens zum Schein«
»Warum
tust du das für uns?« flüsterte Peter mißtrauisch.
»Ich
will nicht, daß anderen Menschen Böses geschieht. Du mußt wissen, daß mein
Vater nicht immer ein Räuber war. Er ist erst nach und nach so geworden. Am
Anfang hat er nur das genommen, was wir zum Leben brauchten. Er hat nur die
Reichen beraubt, die auf Kosten der Armen leben. Aber mit der Zeit hat er… —
aber das ist eine lange Geschichte. Ich muß jetzt gehen, bevor sie mich hier
entdecken«, sprach sie hastig und sah Peter geradeaus an.
Dann
verschloß sie die Tür und lief zurück zum Haus. Die beiden Gefangenen sahen
einander fragend an. Was sollten sie davon halten? Sogleich aber machten sie
sich über das dürftige Mahl her.
Der
Nachmittag schien noch langsamer zu verstreichen. Endlich neigte sich die
kraftlose Wintersonne dem Horizont zu, wo sie mit einem letzten fahlgelben
Schimmer verschwand.
Das
Knirschen von sich rasch nähernden Schritten auf dem Hof bedeutete das Ende
ihrer Bedenkfrist. Wenig später wurde Peter von zwei Räubern abgeführt,
nachdem sie ihm — ohngeachtet seines heftigen Widerstandes — die Hände auf
den Rücken gefesselt hatten.
»Keine
Angst, Tamina! Ich bin bald wieder zurück!« rief er dem verzweifelten Mädchen
nach, welches in der dunklen Kälte zurückgelassen wurde.
Sminjan
und seine beiden Adjutanten empfingen Peter diesmal allen in der großen Hütte.
»Haust
du es dir inzwischen überlegt?« fragte Sminjan und fixierte Peter mit seinem
stechenden Blick.
»Ich
glaube kaum, daß ich meine Freunde an jemanden wie Sie verraten werde«, sagte
er und versuchte hierbei so viel Würde wie möglich auszustrahlen.
»So?
Nun, das ist aber höchst bedauerlich«, meinte Sminjan in einem gleichgültigen
Tonfall. »Ich bin davon überzeugt, daß wir dich zum sprechen bringen werden.«
»Wollen
Sie mich etwa foltern? Da hätten Sie wenig Erfolg«
»Aber
nein, wo denkst du hin? Das würde ich niemals wagen, allerdings…«
»Was?«
»Das
blonde Mädchen, das jetzt ganz allein und schutzlos in dem kalten, dunklen
Schuppen sitzt. Die Kleine friert bestimmt ganz schön. Was, wenn sie die ganze
Nacht da drinnen bleiben müßte, weil man Sie vielleicht vergäße…« Er
zeigte ein schmales, gemeines Grinsen.
»Das
würden Sie doch nicht wagen, Sie …« er brach ab, weil ihm kein passendes
Schimpfwort einfiel. Eine solche Niedertracht machte ihn einfach sprachlos.
Vergeblich zerrte er an seinen Fesseln. Es gelang ihm nicht, die Stricke auch
nur ein wenig zu lockern.
Der
Hauptmann gab keine Antwort, sondern saß einfach lächelnd da und zwirbelte
seinen enormen Schnurrbart.
»Also
gut«, sagte Peter nach einer Weile resignierend. »Wir haben vereinbart, uns in
der Stadt Carlan zu treffen. Wer als erster dort anlangt, soll auf die anderen
warten.«
»Na
also. Das war doch nicht so schwer.« Sminjan war zufrieden.
»Lassen
Sie uns jetzt endlich frei?«
»Wo
denkst du hin? Ihr kommt mit uns. Sonst würdet Ihr eure Freundin warnen, oder
vielleicht hast du uns ja auch einen Bären aufgebunden.«
»Nein,
leider nicht«, murmelte Peter enttäuscht. In der Tat lag die alte Stadt Carlan
ganz in der Nähe der »Bienenkörbe«, wo sie sich treffen wollten. Sminjan
wechselte noch einige Worte mit den beiden anderen. Peter konnte allerdings
nichts von dem verstehen, was gesagt wurde, denn die Männer unterhielten sich
flüsternd.
»bringt
ihn ‘naus und sperrt die beiden in die kleine Kammer in meinem Haus. Ich will
ein Auge auf die beiden haben.«, befahl Sminjan. Peter ließ sich
widerstandslos abführen.
»Borg,
sorge dafür, daß wir morgen früh zeitig abreisen können. Ich will dich,
Arno, Welting und Gero dabei haben. Und heute Abend findet ausnahmsweise kein
Saufgelage statt. Ich brauche euch nüchtern und ausgeschlafen.«
»Das
ist die letzte Gelegenheit, uns aus dem Staub zu machen«, sagte Peter zu
Tamina, als sie beide allein in der kleinen Kammer waren, wo sie ihre erste
Nacht im Räuberlager verbracht hatten. Halb erfroren kauerte Tamina vor dem
Ofen und streckte die Arme nach der Wärme aus. »Wenn alles schläft, klettern
wir zum Fenster hinaus, holen das Pferd und ab geht die Post.«
»Du
hast wohl die Wachposten vergessen. Und das Tor ist auch verschlossen. Wir könnten
zwar über den Zaun klettern, das Pferd aber nicht.«
Da
hast du recht. Aber wir müssen uns beeilen. Wenn wir erst mal unterwegs sind,
wird es viel schwieriger sein zu entwischen. Außerdem müssen wir vor ihnen in
Carlan sein, um Alissandra zu finden und sie zu warnen« sagte Peter.
»Es
gibt vielleicht eine Lösung«, meinte Tamina, die sich kräftig die Hände
rieb. »Wir müssen Seraphina dazu bringen, uns heute Nacht zur Flucht zu
verhelfen.«
»Glaubst
du wirklich, sie würde das tun?«
»Wir
müssen es versuchen. Wir müssen sie in alles einweihen und ihr die ganze
Wahrheit erzählen. Auch auf die Gefahr hin, daß sie alles verrät. Wir haben
keine Wahl.« Peter schaute sie nachdenklich an. Dieser Plan behagte ihm gar
nicht. Doch was hatten sie noch zu verlieren? Schließlich nickte er langsam und
lehnte sich entspannt zurück.
»Was?!
Du sollst der künftige König sein?« rief Seraphina ungläubig. Erschrocken
gebot ihr Peter, leise zu sein. Seraphina stellte das Essen, das sie für die
beiden gebracht hatte auf den Boden.
»Es
ist aber wahr«, beteuerte Tamina aufgeregt. »er hat sogar das sagenhafte
Schwert von König Brunnar aus dem Felsblock gezogen. Aber das ist jetzt bei
Alissandra, die auch unser übriges Gepäck hat.«
»Ich
würde dir gerne glauben, Peter, aber…« — »Was?« — »Ich meine, du
siehst so — so… gewöhnlich aus«
»danke
sehr«, meinte Peter sarkastisch.
»Nein,
nein. Das war ja nicht so gemeint. Ich wollte sagen, saß du wie ein ganz
normaler Mensch Aussiehst und nicht wie ein König. Und schon gar nicht wie
einer aus dem Märchenreich.«
»Und
wie sieht ein König deiner Meinung nach aus? Und was heißt hier Märchenreich?
Ihr lebt in einem Märchenreich. Ich
komme aus der normalen Welt.« Diese Diskussion führte natürlich nicht weiter.
Tamina beeilte sich, dafür zu sorgen, daß das Thema nicht weiter vertieft
wurde. Sie begab sich zur Tür und horchte angestrengt nach verdächtigen Geräuschen.
Zum Glück jedoch war nichts zu vernehmen.
Auf
dem Fußboden sitzend und die Köpfe eng zusammengesteckt, besprachen die drei
flüsternd ihren Fluchtplan. Seraphina wollte den Männern, die am Tor Wache
hielten eine Flasche von dem starken selbstgebrannten Schnaps bringen. Daraufhin
sollten Peter und Tamina eine Weile warten und dann das Pferd aus dem Stall führen.
So
wurde aus auch ausgeführt. Die beiden Kerls denen Kälte und Müdigkeit bereits
recht zugesetzt hatten, zeigten sich über die willkommene Gabe höchst erfreut
und zogen sich in ihre Unterkunft zurück, wo sie sich innerlich wie äußerlich
aufwärmen wollten. Jetzt war die Gelegenheit, das Tor zu öffnen, was
allerdings sehr langsam und vorsichtig — gewissermaßen millimeterweise —
geschehen mußte. Weil der Schnee fast alle nächtlichen Geräusche dämpfte,
durfte das Öffnen des hölzernen Tores kein allzu lautes Knirschen und Knarren
verursachen. Leider war kein Öl oder Schmierfett zu Hand, so daß sich
Seraphina auf allein auf ihr Geschick verlassen mußte. Aus Erfahrung wußte
sie, daß das Tor erst bei einem bestimmten Öffnungswinkel ein lautes, nicht zu
dämpfendes Knarren von sich gab.
Mondenglanz
war aber nicht sehr breit gebaut, so daß es keine Schwierigkeiten bereitete,
sie durch den engen Spalt zu bugsieren. Als das Tier Peter erkannte spitzte es
die Ohren und gab ein leises Wiehern von sich. Sogleich ergriff Peter ein Ohr
des Pferdes, bog es ein wenig zu sich herab und flüsterte einige beruhigende
Worte hinein. Zugleich strich er ihm sachte über die samtige rosa Schnauze.
Peter
half Tamina beim Aufsteigen, während Seraphina einen Beutel mit etwas Proviant
am Sattel festmachte. Zum Abschied drückte er ihre Hand und sprach: »Hab Dank
für deine Hilfe. Ich werde deiner nie vergessen, und sollte ich jemals König
von Arkanien sein, sollst du reich belohnt werden.« Seraphina lächelte und
erwiderte seinen Händedruck. »Ich werde daran denken. Lebt wohl und alle Gute!«
Sie lief rasch zurück und schloß ohne sich noch einmal umzuwenden das Tor
hinter sich. Den Riegel ließ sie offen.
Der
Himmel war sternklar und der Mond schien hell, so daß es nicht besonders
schwierig war, sich einen Weg durch den Wald zu bahnen. Seraphina hatte Peter
gezeigt, wie er sich an den Sternen und an gewissen Wegzeichen der Räuber
orientieren konnte. Peter ging zu Fuß und führte das Pferd am Zügel. Nur so
konnte er in der Finsternis seine Umgebung erforschen und nach den Zeichen
Ausschau halten. So nahe am Räuberlager durften sie noch kein Licht machen.
Bald darauf hatten sie den Weg gefunden, der aus dem Wald hinaus führte. Jetzt
zündete Peter eine Pechfackel an, die Seraphina ihnen mitgegeben hatte.
Schweigend marschierten sie durch die kalte Nacht. Keiner von beiden sprachen
ein Wort. Tamina fror erbärmlich, trotz Peters wollenem Umhang, in den sie sich
gehüllt hatte. Peter der durch den tiefen Schnee stapfte, war wurde es rasch
warm. Unter seiner Kleidung schwitzte er sogar, was besonders unangenehm war.
Während
zwei Stunden gönnten sie sich keine Rast, denn sie wollten so viel Weges zurücklegen
wie möglich, bevor ihre Flucht entdeckt würde. Schließlich war Peter so erschöpft,
daß er mehrmals strauchelte und hinfiel. Tamina bestand unnachgiebig auf einer
Rast und ließ es sich nicht nehmen, selber zu gehen und Peter reiten zu lassen.
Trotz seines anfänglichen Protestes war er am Ende froh, nachgegeben zu haben.
In dieser Situation war kein Platz für Eitelkeiten. Das einzige was zählte,
war daß sie beide rasch und wohlbehalten die nächste größere Ortschaft
erreichten. Dort könnten sie sich ausruhen, neuen Proviant besorgen und weitere
Pläne schmieden. Die Räuber würden es kaum wagen, sie bis in dicht
besiedeltes Gebiet zu verfolgen, wo sie den Häschern des Regenten in die Hände
zu laufen drohten.
Im
Morgengrauen erreichten sie endlich den südöstlichen Rand des großen Waldes.
Als Peter später eine Karte jener Gegend anschaute, konnte er nicht begreifen,
wie sie es jemals hatten schaffen können, eine so weite Strecke innert so
kurzer Zeit zurückzulegen.
Mit
den ersten Sonnenstrahlen wurde es sogleich merklich wärmer. Überall begann
das Eis zu tauen. Wenn das Wetter anhielte, würde in wenigen Tagen der ganze
Schnee weggeschmolzen sein. Die kalte Jahreszeit war vorbei und mit weiteren
Schneefällen war eigentlich nicht mehr zu rechnen. Der Schneesturm, der ihnen
so viel Ungemach bereitet hatte, war das letzte wütende Aufbäumen des vom Frühling
in die Knie geschlagenen Winters, der sich für ein weiteres Jahr in den äußersten
Norden zurückziehen mußte. Auf einer sonnigen Anhöhe machten sie Halt und
lagerten sich auf ihren Mänteln, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Ihr
ganzes Gepäck war, um Mondenglanz zu entlasten, auf Alissandras Pferd befestigt
worden. Ohne den Beutel von Seraphina hätten die beiden jetzt keinen Bissen zu
essen gehabt. Trotz des anstrengenden Fußmarsches hatten die beiden wenig
Appetit. Trotzdem mußten sie etwas essen, um bei Kräften zu bleiben. Wenig später
setzten sie ihren Weg fort. Im hellen Sonnenlicht und auf einer breiten guten
Straße kamen sie rasch und unbehindert vorwärts.
Gegen
Mittag gelangten sie an eine kleine Stadt, die sich auf einem felsigen Hügel
eng an eine düstere aus grauem Granitgestein errichtete Trutzburg schmiegte.
Das düstere und bedrohliche Aussehen dieser Siedlung täuschte aber. Die
Menschen waren freundlich und nahmen sich der beiden erschöpften Reisenden
gastfreundlich an. Zu dieser Jahreszeit waren kaum Reisende in diesem teile des
Landes unterwegs und so boten die beiden Ankömmlinge eine willkommene
Abwechslung. Da es in Arkanien keine Zeitungen gab, waren die Berichte und Erzählungen
von Reisenden, Kaufleuten und Minnesängern die einzige Nachrichtenquelle,
besonders für die Bewohner abseits liegender Dörfer und Siedlungen.
Peters
Schilderung der bösen Räuberbande — die er allerdings frei nach seiner
Phantasie ausschmückte — riefen unter den braven Leuten eine heftige
Anteilnahme aus. Und so wurden sie nicht nur auf das trefflichste bewirtet,
sondern sie erhielten auch alles, was sie für die Fortsetzung ihrer Reise benötigten.
Peter erkundigte sich natürlich als erstes nach Alissandra, aber niemand hatte
etwas von ihr gehört oder gesehen. In der Tat waren die beiden die ersten
Fremden, die seit Wochen hier vorbei gekommen waren. Diese Nachricht breitete
Peter großen Verdruß, den zu lindern Tamina alle Kraft aufbot. So hielten sie
sich nicht länger als nötig in dem freundlichen Orte auf und setzten ihre
Reise bereits am dritten Tage fort.
Die
Wärmere Märzsonne hatte allen Schnee wegschmelzen lassen. Die Bäche und Flüsse
waren von dem Schmelzwasser stark angeschwollen. An vielen Orten wälzten sich
die braunen Fluten mit solcher Gewalt zu Tale, daß nicht wenige Brücken und
Stege beschädigt oder ganz fortgeschwemmt worden waren. Daher mußten sie oft
große Umwege in Kauf nehmen, um einen sicheren Übergang zu finden. Trotzdem
hatten sie keinen Grund zu klagen, denn sie legten täglich eine gute Strecke
zurück. Die Tage wurden allmählich länger und die Sonne gewann täglich an
Kraft und Wärme. Überall konnte man das erste Grün spießen sehen. Mensch und
Natur begrüßten fröhlich den Frühling. Es würde nicht mehr lange dauern,
bis alles sich auf den großen Frühjahrsfeiern vergnügte.
Peter
war inzwischen körperlich in Bestform. Die Anstrengungen der langen Reise, die
weiten Fußmärsche und die Entbehrungen der Kälte hatten seine Muskeln gestählt
und seinen Organismus gekräftigt. Seit seiner Ankunft in Arkanien war er kein
einziges Mal krank gewesen oder auch nur erkältet. Natürlich hatte er sich
nicht in einen kraftstrotzenden Muskelprotz verwandelt, aber seine Ausdauer und
Kraft hatten die werte eines normalen gut konditionierten Jünglings angenommen,
und es war zu erwarten, daß er über längere Zeit sich zu einem kräftigen,
kerngesunden Manne entwickeln würde. Er selber merkte die Veränderung erst,
als er feststellen mußte, daß ihm seine Hosen zu weit waren und er zum ersten
Male neue Löcher in seinen Gürtel stechen mußte. Trotz allem war er aber
alles andere als glücklich. Seine Gedanken weilten bei der verlorenen
Alissandra. Wenn sie doch nur endlich in Carlan angelangt wären! Er, der sonst
immer so gesprächig und mitteilsam gewesen war, wurde mit jedem Tage
tiefsinniger und verschlossener.
Tamina
hatte ihre große Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie selber hatte
sich inzwischen an Mondenglanz gewöhnt und das brave Pferdchen liebgewonnen.
Inzwischen hielt sie sich fast ebensogut im Sattel wie Peter. Zu seinem großen
Mißfallen hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, das Tier zu pflegen und verschönern.
So ließ sie es sich nicht nehmen, jeden Tag die Mähne zu bürsten und sogar
kleine Zöpfchen hineinzuflechten, was Peter äußerst albern fand, allein er
konnte nichts dagegen tun. Sein einziger Trost bestand darin, daß Tamina keine
farbigen Bänder zur Hand hatte, sonst hätte sie bestimmt noch Schleifchen in
Schweif und Mähne geflochten. Peter hatte bereits jetzt schon den Eindruck, daß
die Leute auf der Straße sie anstarrten. In der Tat waren weiße Pferde in
Arkanien nicht sehr beliebt, dann man sagte sie galten — völlig zu Unrecht
— als empfindlich und als gute Arbeits- und Militärpferde ungeeignet. Es war
also nicht weiter verwunderlich, wenn ein junger Mann auf einem herausgeputzten
Schimmel als eitler Geck oder Narr angesehen wurde. Allein Peter konnte nichts
dagegen unternehmen ohne Taminen zu verletzten, Tamina hatte ihren Gefallen
daran und Mondenglanz schließlich schien es ganz egal zu sein.
Nach
zwei Wochen gelangten sie schließlich bis vor die Stadt Carlan. Von Sminjan und
den Häschern des Regenten hatten sie bislang ebenso wenig zu Gesichte bekommen,
wie von Alissandra. Nun aber, so nahe am Ziel ihrer Reise, mußten sie besonders
vorsichtig sein. Peter beschloß, daß es das Beste sei, wenn sie nicht in der
Stadt selber Quartier bezögen, sondern sich außerhalb der Stadt in einer der
zahlreichen Herbergen, die für die durchreisenden Händler errichtet wurden,
einzumieten.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:37 |