VII. KAPITEL

Waldnest

 

Als Peter die Augen aufschlug, sah er über sich grobe, rauchgeschwärzte Holzbalken. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, oder was geschehen sein könnte. Seine erste bewußte Empfindung war die Wärme, die ihn umgab. Zum ersten Male seit Stunden fühlte er dieses herrliche belebende Kribbeln in Armen und Beinen. Er lag auf einem einfachen Lager, bestehend aus vier zu einem Kasten zusammengefügten Brettern, gefüllt mit weichem, duftigem Heu und mit einem weißen Leintuch bezogen. Über ihm lag ein dickes, kuscheliges Schafsfell als Bettdecke. Durch ein kleines Fenster drang fiel ein wenig helles Sonnenlicht ein und ließ die Staubteilchen in der Luft glitzern. Die Wände der Kammer bestanden aus einfachen Brettern, deren Fugen sorgfältig mit einer Art von Lehm oder Mörtel ausgestrichen waren. Er drehte sich um und erblickte zu seiner größten Erleichterung Taminen neben sich unter der Felldecke liegen. Sie lag mit angezogenen Knien auf der Seite, einen Zipfel des Felles mit beiden Armen umschlungen. Der Anblick dieses friedlich schlummernden Mädchens hatte eine unendlich beruhigende Wirkung auf Peter. Er wußte jetzt, daß sie beide gerettet und in Sicherheit waren; mehr interessierte ihn im Augenblick nicht. Er rollte sich auf den Bauch – das war seine bevorzugte Schlafstellung – und schlief bald darauf wieder ein.

Als Peter erwachte, standen zwei Frauen in der kleinen Tür. Es war inzwischen dunkel geworden und durch das Fenster schimmerten funkelnde Sterne zwischen den kahlen, wie verkrümmte schwarze Krallen in den Himmel greifenden Ästen. Eine der beiden Frauen trug ein flackerndes Öllicht in der Hand. Sie trug ein langes dunkles, einfach geschnittenes Kleid mit einer weißen Schürze. Sie mochte wohl um die fünfzig Jahre alt sein, schätzte Peter. Ihr Gesicht war zerfurcht und zeugte von einem harten Leben. Der Mund war schmal und gerade, die Nase allerdings war ein gutes Stück zu groß geraten und wirkte auf den ersten Blick beinahe komisch. Um ihre Augen jedoch lag ein guter Zug. Die andere konnte er nicht genau erkennen, da sie im Schatten der Alten stand; sie war aber noch sehr jung. Die jüngere hielt zwei Schalen in Händen, aus denen es heiß dampfte. Im Hintergrund konnte Peter einen größeren Raum erkennen mit einem mächtigen Hirschgeweih an der Wand.

»Habt ihr schön ausgeschlafen?« fragte die Alte und trat hinein. Tamina war ebenfalls erwacht und starrte die beiden verwirrt an. »Wenn Seraphina euch nicht zufällig beim Holzsuchen im Wald entdeckt hätte, wärt ihr bestimmt erfroren«, sagte die Alte. Was wolltet ihr denn bloß bei diesem Unwetter allein im Wald?«

»Ich — wir — äh — haben uns verirrt«, sagte Tamina vorsichtig.

»Ist schon gut. Ihr müßt erst mal etwas essen, damit ihr wieder zu Kräften kommt. Seraphina hat euch eine kräftige Brühe gekocht. Wenn ihr gegessen habt, könnt ihr erzählen.

»Was ist mit Mondenglanz«, fragte Peter.

»Wer?«

»Ich meine mein Pferd; eine kleine weiße Stute.«

»Der geht es gut, wir haben sie in der Nähe des Lagers gefunden. Sie steht jetzt bei unsern Pferden im Stall und frißt ihren Hafer«, sagte die Alte und stellt das Öllämpchen, welches sie in der Hand trug, auf den Tisch. Seraphina kam herein und brachte die beiden Schalen mit, sowie ein großes Stück dunklen Brotes, das sie aus ihrer Schürze wickelte. Die Alte verließ die Kammer und kümmerte sich um ihre übrigen Geschäfte.

»Hallo! Ich heiße Seraphina. Aber das wißt ihr schon«, sagte das dunkelhaarige Mädchen.

»Was für ein schöner Name«, sagte Peter und machte Anstalten, sich aus dem Bette zu erheben, als er feststellen mußte, daß er nicht ganz angezogen war. Erschrocken legte er sich wieder hin und zog das Schaffell bis ans Kinn hoch. »Das scheint hier langsam eine Gewohnheit zu werden, halbnackt in fremden Betten aufzuwachen.«, murmelte er.

Seraphina verstand nicht ganz und machte ein verdutztes Gesicht. »Ach! es ist nichts. Ich habe nur laut gedacht«, entschuldigte sich Peter, der eine gewisse Wärme in den Ohrmuscheln verspürte, als er in Seraphinas lachendes Gesicht schaute. Der vergnügte Gesichtsausdruck Taminens trug allerdings auch nicht gerade zur Stärkung seines Selbstvertrauens bei. Seraphina ließ ein leises, helles Lachen vernehmen und sagte zu ihm: »Keine Angst! Eure Kleider sind drüben am Kamin zum Trocknen aufgehängt. Inzwischen müßten sie bereit sein. Ihr habt nämlich fast einen ganzen Tag lang geschlafen, wie die Murmeltiere, im Winterschlaf. Anfangs hatten wir sogar Angst, daß ihr uns überhaupt nicht mehr wach würdet. Aber jetzt müßt ihr meine Suppe essen, so lange sie noch warm ist. Ich komme später wieder vorbei, wenn ihr fertig seid.«

Als Seraphina die Tür hinter sich zugezogen hatte, sahen sich Peter und Tamina einen Augenblick lang schweigend an. Dann schienen beide den gleichen Gedanken zu haben. In Blitzesschnelle saßen beide am Tisch uns schlürften gierig die heiße Fleischbrühe, ihrer nicht ganz ziemenden Kleidung vergessend. Oder besser gesagt, nicht achtend, denn Peter nahm durchaus mit einem langen, neugierigen, schamvoll verstohlenen Blick Taminens magere aber sonst durchaus wohlgeformte Gestalt zur Kenntnis und stellte insgeheim Betrachtungen an welcher Art Unterbekleidung in diesem Teile des Landes bei jungen Mädchen der Brauch war. Und er kam bald zu dem Schluß, daß ihm dieser Anblick gar wohl gefiel.

Tamina indessen hatte weniger Augen für Peters nackten Bauch, der allerdings in den vergangenen Wochen sehr abgenommen hatte, als vielmehr für die labenden Speisen auf dem Tisch; obzwar es nicht ganz aufrichtig zu sagen wäre, daß sie Peter keines Blickes gewürdigt hätte.

Als sie ihr Mal beendet hatten und sich ihre Blicke trafen, wandten sie beide errötend die Gesichter voneinander ab und sahen angestrengt in eine andre Richtung. Tamina war zwar keineswegs unansehnlich, aber mit der schönen Alissandra konnte sie sich nicht messen; noch nicht. Aber in ein paar Jahren vielleicht… Peter wandte seine Gedanken an Alissandra. Was mochte ihr bloß zugestoßen sein? Süße, tapfere, wunderschöne Alissandra!

Tamina, die Peters Seufzen vernahm, erriet leicht seine Gedanken und versuchte, ihn so gut sie konnte, zu trösten. »Meinst du, es geht ihr gut?« fragte er leise.

»Bestimmt. Ihr ist sicher nichts passiert. Ihr Pferd ist stark, sie hat alle Vorräte, und sie kennt den Weg. Kopf hoch, Peter! In ein paar Tagen werden wir sie wohlbehalten in Carlan treffen.« Tamina versuchte möglichst heiter und zuversichtlich zu klingen, aber auch sie machte sich natürlich Sorgen.

»Wenn wir uns vor der Abreise doch nur nicht so albern gestritten hätten. Dabei war es meine Schuld. Ich habe mich wie ein Esel benommen. Ich hätte ihr so vieles zu sagen gehabt, und jetzt ist alles anders gekommen. Dabei hatte ich ihren Eltern versprochen gut auf sie acht zu geben. Wenn ich nicht eingeschlafen wäre, hätten wir nie den Weg verloren…«

»Hör’ auf, dir für alles die Schuld zu geben, Peter.« Tamina nahm seinen Arm. Ihr werdet wieder zu einander finden.«

»Ja! Ich werde sie suchen, überall. Und wenn ich dafür das ganz Land absuchen müßte…«

In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und Seraphina schlüpfte herein. Sie trug Peters und Taminens Kleider im Arm. Während sie das Geschirr wegräumte, zogen sich die beiden eilig an. Dann folgten sie Seraphina in die große Wohnstube mit dem offenen Kamin. Es war der größte Raum in dem Blockhaus. Er diente zugleich als Wohnzimmer und als Küche. Ein schwerer Tisch stand in der Mitte, ein eiserner Kochherd füllte eine Ecke aus, zwei große Schränke, ein Regal mit allerlei Kochgeschirr und eine Kiste in der andern Ecke komplettierten das Mobiliar. An der Wand über dem Rauchfang hing ein gewaltiges Hirschgeweih, neben dem ein gutes Dutzend kleinerer Trophäen sich geradezu zierlich ausnahmen. Eine schmale hölzerne Stiege führte in das Obergeschoß. Auf dem Fußboden lagen zu Peters Erstaunen zwei große, flauschigweiche und sehr edel wirkende Teppiche mit orientalischen Mustern. Sie paßten nicht im Geringsten in die einfach eingerichtete Stube.

In dem Sessel saß die Alte und war mit ihrer Handarbeit beschäftigt. Seraphina lud die beiden Eintretenden ein, sich zu ihr an den Großen Tisch zu setzten. In dessen Mitte stand eine flache Holzschale, die mit Baum- und Haselnüssen von bester Qualität gefüllt war.

Während Tamina auf Seraphinas freundliche Einladung vergeblich versuchte, die Nüsse von Hand zu knacken, hub Peter an, der gespannt lauschenden Seraphina und der nicht minder neugierigen Alten — sie hieß übrigens Marisa — die ab und zu scharfe Blicke von ihrem Sessel ausschickte und die beiden Reisenden gründlich musterte, eine geeignete Geschichte aufzutischen, die möglichst nah der Wahrheit blieb, ohne aber die genauen Umstände und Hintergründe ihrer Reise zu verraten.

»Also, es begann vor etwa einem Monat…« sprach er und nahm Tamina die widerspenstige Nuß aus der Hand und zerschlug sie mit einem kräftigen Fausthieb, wofür er von dem Mädchen bewundernde Blicke erntete, die ihn über den Schmerz in der Hand hinwegtrösteten, den sich nicht anmerken zu lassen, ihn einige Beherrschung kostete. Es sprach weiter: »…da fing unser ganzes Unglück an. Unser armer Vater starb nach einer langen, schweren Krankheit. Und so waren wir ganz alleine, meine Schwester und ich…« Tamina warf ihm einen Blick zu, der aus einer Mischung aus Staunen und Bewunderung für den dreisten Lügner bestand.

»…Unser bescheidenes Erbe wurde von den Schulden fast gänzlich aufgezehrt und so blieb uns nichts weiter übrig, als zu unserm Ohm zu ziehen, der im Süden als Kaufmann lebt…«

»Für Geschwister seht ihr euch aber nicht besonders ähnlich«, wandte die Alte ein. Auch Seraphina schien dies aufgefallen zu sein, denn sie schaute Peter fragend an. Dieser reagierte blitzschnell.

»Oh! Aber wir sind auch nicht Geschwister im eigentlichen Sinne. Ich meine, Tamina ist meine Halbschwester.« Tamina biß sich auf die Lippen, um nicht in Lachen auszubrechen. Zum Glück bemerkte dies niemand außer Peter, welcher ihr daraufhin einen leichten Stups ans Schienbein gab.

»Unser Vater zog sie wie ein eigenes Kind auf. Auf unserer Reise gerieten wir dann in diesen schrecklichen Schneesturm, der uns vom Wege abbrachte. Wir möchten unsere Reise auch so bald als möglich fortsetzen«, beendete er seine Geschichte.

»Ihr armen Kinder! Da habt ihr ja noch viel vor euch«, sagte Seraphina, die von der Geschichte noch ganz gebannt war.

»So, nun möchten wir aber auch gerne wissen, wohin es uns hier verschlagen hat und wie weit es bis zu dem roten Fluß ist«, sagte Peter.

»Ihr seid hier im Räu…«

»Seraphina!« rief die Alte scharf. »Ihr seid hier in einem kleinen armseligen Holzfällerdorf gelandet«, antwortete die Alte an Seraphinens Stelle. »Zur Zeit sind die Männer unterwegs bei der Arbeit. Aber sie werden bald zurückkehren.«

»Werden denn im Winter auch Bäume gefällt?« wunderte sich Tamina, der diese Erklärung merkwürdig vorkam.

»Ihr bleibt vielleicht noch ein oder zwei Tage hier, bis die Männer wieder zurück sind. Sie werden euch dann den Weg aus dem Wald heraus zeigen. Allein würdet ihr euch wieder hoffnungslos verirren; und wer weiß, ob ihr noch einmal so ein Glück haben werdet, rechtzeitig gefunden zu werden«, meinte Seraphina. »Aber jetzt ist nur wichtig, daß ihr euch ausruht und wieder Kräfte sammelt für die Reise. Also marsch ins Bett!« befahl sie lachend. Obwohl weder Peter noch Tamina sonderlich müde waren, ließen sie sich widerspruchslos zu Bette bringen. Nachdem sie sich entkleidet hatten und Peter es sich bereits bequem gemacht hatte, indem er hier und da das Stroh zurechtdrückte, legte Tamina noch Holz nach.

»Du Peter, ich glaube irgend’was ist hier nicht in der Ordnung«, sagte sie leise zu ihm und kroch unter die wollene Decke.

»Was soll denn hier nicht stimmen?« fragte er verwundert.

»Ich habe einfach ein sehr ungutes Gefühl. Ich kann’s nicht recht beschreiben, aber irgend’was beunruhigt mich. Laß uns bitte so schnell wie möglich von hier verschwinden.«

»Aber ich verstehe nicht ganz, worauf du…«

»Im Winter werden keine Bäume gefällt«, sagte Tamina. »Und ist dir hier denn nichts aufgefallen?«

»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Peter, der noch immer nicht begreifen konnte, was für eine unbekannte Gefahr an diesem friedlichen Orte drohen könnte.

»Diese beiden wertvollen Teppiche in einer armen Holzfällerhütte? Und hast du Seraphinas Halskette gesehen?« Peter schüttelte den Kopf. »Naja, ich kann mir denken, daß du woandershin geschaut hast. Ich möchte jedenfalls wetten, daß die Kette aus reinem Gold ist. Und klein ist die nicht. Und wozu brauchen die einen solch hohen Zaun aus angespitzten Pfählen um die paar Hütten herum?«

»So etwas nennt man eine Palisade, und vermutlich dient sie dazu Wölfe oder Bären fernzuhalten. Ich glaube, du siehst Gespenster, Tamina. Immerhin haben sie uns das Leben gerettet und uns freundlich aufgenommen und bewirtet. Wie kann man da gleich an so etwas denken?«

»Wie du meinst. Auf alle Fälle bleibe ich wachsam«, sagte Tamina und gähnte herzlich. »Gute Nacht, Peter.« — »Gute Nacht, Tamina«

Während Peter bald darauf eingeschlafen war und in süßen Träumen schwelgte, lag Tamina noch lange wach und brütete vor sich hin.

Hätte sie auch nur im mindesten geahnt, was nur wenige Stunden später geschehen sollte, so wäre vielleicht alles ganz anders gekommen, so aber schlief auch sie endlich ahnungslos ein.

Stunden später wurde die nächtliche Stille durch Hufgetrappel zahlreicher Pferde durchbrochen. Dumpfe Männerstimmen erschollen vor dem Tore. Im Dorfe liefen eilige Füße herbei, das Tor zu öffnen. Etwa ein Dutzend Männer, in dunkle Mäntel gehüllt, führten schwarze Pferde ins Lager, hin zum Stall. Ein großer Mann lief auf das Haus in der Mitte der Siedlung zu, als ihm eine aufgeregte Stimme beim Namen rief. Unwillig wandte er sich um. Ein anderer, jüngerer Mann kam aus dem Stall gelaufen. Aus dem offenen Stalltor fiel ein breiter gelblicher Lichtschein über den von unzähligen Füßen und Hufen eingetretenen Schnee. Ein verworrenes Relief aus Schatten und glitzernder Reflexion wurde sichtbar und bildete einen scharfen Kontrast zu dem verschwommenen Weiß der unversehrten Schneedecke.

Als der junge Mann den anderen erreicht hatte, flüsterte er ihm einige aufgeregte Worte ins Ohr und deutete auf das Stalltor. Der andere zauderte einen Augenblick und folgte ihm nach dem Stall.

Ein spitzer Schrei weckte Peter schlagartig aus seinen Träumen. Voller Schrecken richtete er sich auf. Tamina saß kerzengerade auf ihrem Lager. Die Augen schreckgeweitet, den Mund zum Schreien weit geöffnet, starr vor furcht war ihr Blick auf die Tür gerichtet. Peter folgte ihren Augen und schrak ebenfalls zurück. In der Tür stand, breitbeinig und schelmisch grinsend, wie ein Bär — Sminjan, der Räuberhauptmann. Dicht dahinter stand einer der jüngeren Räuber, die an dem Kartenspiel im Wirtshaus teilgenommen hatten, Seraphina und die Alte.

»habt ihr ernsthaft geglaubt, ihr könntet dem schlauen Sminjan entwischen? Ha, ha! Da habt ihr euch aber geschnitten. So, raus aus den Federn! Für euch ist das bequeme Leben jetzt vorbei.« Mit diesen Worten stürmte er herein und zerrte Peter aus dem Bett. Dieser war so überrumpelt, daß er jede Gegenwehr vergaß.

»Los, das gilt auch für dich, Mädel!« rief er und stierte die völlig verängstigte Tamina mit zorngerötetem Gesicht an. Das Mädchen war den Tränen nahe. Hastig griff Peter nach seinen Kleidern und wollte sich just anziehen, als er von Sminjan einen derben Schlag auf die Schulter erhielt. »Das kannst du draußen auch machen.« Noch ehe sie es sich versahen, wurden Tamina und Peter gepackt und hinausbefördert.

Barfüßig und nur halb bekleidet stieß man sie über den verschneiten Hof und führte sie hinter das Haus in einen der kleinen Schuppen.

Als Tamina einen Augenblick zögerte, einzutreten, erhielt sie von hinten einen brutalen Stoß, daß sie vornüber hineinstürzte. Mit einem Krachen schlug hinter ihr die Tür zu. Von außen wurde ein Riegel vorgeschoben. Dann entfernten sich Schritte über den Hof. Langsam verhallte das Knirschen der Schritte im Schnee. Eine Tür fiel ins Schloß, dann war nichts mehr zu hören, als Taminens verzweifeltes Schluchzen. Peter legte seine Arme um das verängstigte, bitterlich frierende Mädchen. Leise und mit so viel Selbstvertrauen, wie er nur aufbringen konnte, sprach er auf sie ein: » Bitte höre auf zu weinen. Sie sind jetzt fort. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ja da. Oh, komm endlich! Ich ertrage es nicht, ein so hübsches Mädel weinen zu sehen.«

»Du kennst ihn nicht. Er kann so schrecklich grausam sein. Wenn er herausgefunden hat, wer deine Freundin ist und wer du bist, dann geht es uns an den Kragen.« Taminas Stimmen bebte, als sie die Worte ausstieß. Peter half ihr beim Anziehen. Danach legte er selber seine Kleider an, bis auf den Umhang. Den legte er der sich sträubenden Tamina um die Schultern.

»Keine Widerrede!« gebot er. »Ich friere nicht so leicht. Ich will nicht, daß du dich noch erkältest.« Dankbar lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und er legte seinen Arm um die ihren.

»Ich fürchte«, meinte Peter lächelnd, »das Frühstück können wir uns abschminken.«

»Sieht ganz danach aus« erwiderte Tamina nun ebenfalls lächelnd. Es ging ihr schon viel besser. »Ob wir hier vielleicht ‘nauskommen?«

»Ich fürchte, das ist zu stabil gebaut. Alles ist aus massivem Holz. Keine Fenster, die Tür besteht aus dicken Brettern und der Riegel aus Eisen. Ohne Werkzeuge ist das nicht zu schaffen.

Da an Schlaf ohnehin nicht zu denken war, verbrachten sie den Rest der Nacht damit, ihr Gefängnis gründlicher zu untersuchen und sich gleichzeitig so gut als möglich vor dem eisigen Nachtfrost zu schützen. Endlos zogen sich die Stunden hin. Im Ungewissen über ihr weiteres Schicksal harrten die beiden Gefangenen aus und versuchten nicht daran zu denken, was sie anderntags wohl erwarten würde.

Kaum verhieß ein heller Schein im Osten das Herannahen eines neuen Tages, da ließen sich bereits Schritte vernehmen, die sich der Baracke näherten. Mit einem Krachen wurde der Riegel zurückgeschoben und auf schwang die Tür.

Ein häßlicher, grobschlächtiger Kerl von mittlerem Alter und ungepflegter Erscheinung, dessen Haar fettig glänzte, trat herein.

»Kommt mit! Der Chef will euch sprechen«, sagte er und packte Peter hart am Arm.

»Lassen Sie mich los, ich kann selber gehen«, protestierte Peter ohne Erfolg. Der Rüpel hielt ihn eisern und schob ihn vor sich her. Tamina lief hintendrein, noch immer Peters Hand haltend.

Sie wurden zu einem der größeren Häuser gebracht, das dem Anschein nach als Versammlungslokal diente. Drinnen wurden sie von Sminjan und seiner Bande bereits erwartet. Ersterer saß hinter einem mächtigen Tisch an einem prunkvoll geschnitzten Stuhl, dessen Herkunft ebenso zweifelhaft war wie das übrige Mobiliar in dem rechteckigen, mit Leuchtern und polierten Waffen geschmückten Raum. In einer Ecke waren mehrere Kisten gestapelt. Wahrscheinlich enthielten sie die Beute eines vergangenen Raubzuges, denn sie waren alle mit Eisenbändern beschlagen und wurden durch schwere Schlösser geschützt. Gemälde hingen teils an den Wänden, teils lehnten sie auch achtlos weggestellt an der Wand.

Außer dem Hauptmann befand sich offenbar die ganze Räuberbande in dem Raume, so daß eine gespannte Atmosphäre herrschte. Die Männer sahen aus wie die Räuber in den Bilderbüchern: böse, bärtig, teils verwegen, mit den wunderlichsten Gewändern bekleidet, die man sich denken konnte. Manche trugen protzige Goldringe und Ketten, andere hatten gleich mehrere Messer im Gürtel stecken. Zum teil sahen sie so grotesk aus, daß Peter beinahe den Eindruck bekam, sich in einem Filmstudio oder auf einer Theaterbühne und nicht in einem wirklichen Räuberlager zu befinden.

Als der Bärtige mit Tamina und Peter eintrat, hub ein Gewirr von rauhen durcheinandersprechenden Stimmen an. Sminjan, der eben noch im Gespräch mit einem der neben ihm am Tische Sitzenden gewesen war, hob den Blick und gebot allen mit einer Handbewegung zu schweigen. Sogleich verstummten alle Gespräche. Peter und Tamina standen dicht beisammen mitten in dem Raum, von den finster blickenden Räubern umgeben.

»Du dachtest also, du könntest mich austricksen, was?« hub Sminjan zu Peter gewandt an. »Dein Trick war schlau. Manch einer wäre vielleicht darauf reingefallen. Aber nicht ich.« Er grinste hämisch. »Wo ist das andere Mädchen?« fragte er unvermittelt. Peter schluckte, als er erkannte, daß Sminjan keine Zeit verlor und direkt zur Sache kommen wollte.

»Es tut mir leid, Tamina. Du hattest recht mit deinen Befürchtungen. Ich wollte wieder nicht auf dich hören und jetzt haben wir die Bescherung«, flüsterte er leise.

»Maul halten!« donnerte Sminjan. »Du redest nur wenn du gefragt wirst, und nur mit mir. Also sprich! Wo ist das wertvolle Prinzeßchen abgeblieben. Ich kenne nämlich jemand, der sie unbedingt wiederhaben möchte, und der bereit ist eine Menge dafür zu löhnen. Also raus mit der Sprache, sonst geht’s dir schlecht.«

»Ich — ich weiß nicht. Wir haben uns im Sturm aus den Augen verloren, gestern Nacht.«

»Ich laß’ mich nicht für dumm verkaufen. O Nein! So nicht!«

»Aber es ist wahr. Ihr müßt uns glauben«, versicherte Tamina.

»Ach ja, Taminchen. Es wird deinen Vater bestimmt freuen, wenn er erfährt, daß ich dich wohlbehalten aufgenommen habe. Du kommst mir gerade recht. Jetzt habe ich einen passenden Einsatz für unser nächstes Kartenspiel. Oder behalten wir dich besser gleich hier? der kleine Arno hat nämlich schon lange ein Auge auf dich geworfen«, sagte Sminjan und deutete auf den jungen Mann mit dem Rotschopf der in der Menge der Räuber stand. Unter dem rauhen Gelächter des wilden Haufens deutete Arne eine galante Verbeugung gegen Tamina an. Das Mädchen wurde bleich und ergriff Peters Hand fester.

»Hören Sie«, sagte dieser zu dem Räuberhauptmann. »Was wollen Sie denn von uns? Alissandra — ich meine die Prinzessin, die Sie suchen, ist nicht bei uns. Und wir haben auch nichts, was Ihnen von Nutzen sein könnte. Warum lassen Sie uns nicht einfach gehen?«

»Weil ich erstens gerne wüßte, was du mit der Prinzessin zu tun hast und weil du zweitens uns bestimmt zu ihr führen wirst, wenn dir dein Leben lieb ist. Du weißt doch sicher, wohin sie unterwegs ist.«

»Niemals!« schrie Peter. »Nie und nimmer werde ich Alissandra verraten und schon gar nicht an solch einen widerwärtigen Halunken wie dich.« Noch während er die Worte aussprach, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Welcher Teufel hatte ihm diese Antwort eingegeben? In dem Raum herrschte Totenstille. Man hätte eine Nähnadel fallen gehört.

»So spricht niemand zum Hauptmann.« rief der Bärtige und schlug Peter mit der flachen Hand ins Gesicht, so daß dieser heftig zu Boden stürzte. Sogleich war der Kerl über ihm und hielt dem zitternden Peter ein Messer an die Kehle gedrückt. Sminjan zog ihn weg. »Das ist genug, Gero! Hier bestimme immer noch ich. Du hättest ihn fast umgebracht. Der ist doch nur eine halbe Portion. Wenn der draufgeht, dann ist auch die Information verloren.«

Tamina half Peter, aus dessen Nase das Blut herauslief, und der noch ziemlich benommen war, wieder auf die Beine. Sie warf einen haßerfüllten Blick auf die beiden Männer, was die beiden aber nur zum Lachen reizte, worauf die andern einfielen.

»Ich gebe euch bis Mittag Bedenkfrist. Besser ihr sagt mir dann, was ich wissen will, oder es geht euch an den Kragen. Und glaubt nicht, meine Männer wüßten nicht, wie man einen zum Reden bringt.« Er machte eine unwirsche Handbewegung, worauf die beiden von Gero hinausbefördert und zurück in ihr Gefängnis gebracht wurden.

»Dieses Schwein!« stieß Peter verbittert hervor.

»Halte einen Augenblick still, damit ich deine Nase untersuchen kann«, sagte Tamina und zog ein kleines weißes Taschentuch hervor. »Hier, halt’ das darauf und leg’ den Kopf in den Nacken. Ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist. Das war übrigens sehr mutig von dir«, meinte sie und in ihrer Stimme schwang aufrichtige Bewunderung.

»Es war ausgesprochen dumm«, widersprach Peter. »Und das Ergebnis gibt mir recht.« Er betastete vorsichtig seine angeschwollene Nase und Wange. Natürlich fühlte er sich durch Taminens Worte sehr geschmeichelt und er sog das Kompliment auf wie ein Schwamm. Trotzdem war es töricht gewesen, den Hauptmann zu erzürnen. Er wußte genau, daß er ein lockeres Mundwerk hatte und sich so manches dadurch verdarb. Hoffentlich wäre der Hauptmann bei ihrem nächsten Zusammentreffen etwas milder gestimmt, sonst würde es schlecht um seine körperliche Integrität bestellt sein.

»Was sollen wir jetzt bloß tun?« fragte er.

»Ich glaube es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ihnen die Wahrheit zu erzählen.«

»Das kann doch nicht dein ernst sein. Nein, so etwas kommt überhaupt nicht in Frage«

»Aber es ist die einzige Möglichkeit, jemals hier wieder wegzukommen. Er wird dir schreckliche Dinge antun. Und wenn das nichts nützt und er einsieht, daß du ihm nichts mehr nützen wirst, dann wird er dich…« Sie verstummte.

»Umbringen, meinst du? ich fürchte das wird er auch tun, wenn ich ihm sage, wo wir Alissandra treffen wollen. Denn ich bin der einzige, der ihm gefährlich werden könnte. Dich wird er wahrscheinlich wider zu Borg zurückschicken. Aber für mich hat er keine Verwendung«, sagte Peter leise.

»So etwas darfst du nicht denken«, meinte Tamina vorwurfsvoll, aber ihre Stimme bebte, denn sie kannte natürlich Sminjan zu gut um nicht zu wissen, daß Peter recht hatte.

»Irgend etwas müssen wir doch tun können«, rief sie verzweifelt.

»Das werden wir auch«, meinte Peter und versuchte so zuversichtlich zu klingen, wie es ihm nur irgend möglich war. Seine Nase hatte inzwischen zu bluten aufgehört, tat aber noch immer scheußlich weh. »Wir werden fliehen«, meinte er beinahe fröhlich. »Und zwar noch heute Nacht.«

»Ja, aber wie in aller Welt?« Tamina konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welchen Plan Peter verfolgte. »Hast du schon einen Fluchtplan?«

»Noch nicht, aber laß’ mich nur in Ruhe nachdenken, dann wird mir bestimmt etwas einfallen.« Er begann in dem engen Raum hin und wider zu wandern. Mit gesenktem Haupt und halbgeschlossenen Lidern schien er so tief in Gedanken versunken, daß er aller andern Dinge vergaß. Tamina sah ihm verständnislos nach. Doch es blieb ihr nicht anderes übrig, als abzuwarten.

Die Zeit verging ohne daß sich an dem Zustand der Gefangenen etwas verändert hätte. Niemand kam nach ihnen zu sehen, oder ihnen etwas zu essen oder zu trinken zu bringen. In ihrer Not brach Tamina einige Eiszapfen ab, die von dem Dach herabhingen und die sie wie eine Eisstange lutschte. Sie bot Peter die Hälfte ihres Vorrates an, aber er lehnte ab. Während die Sonne den morgendlichen Dunst vertrieb und sich die Luft langsam erwärmte, blieb Tamina nichts andres übrig, als im Halbdunkel der Hütte schweigend auszuharren, da Peter nicht ansprechbar war.

Gegen Mittag kam Seraphina vorbei. Sie hatte etwas Brot und zwei Äpfel unter ihrer Schürze verborgen, die sie den beiden zwischen den Latten des Fenstergitters hineinschob. »Ich kann nicht lange bleiben. Sie dürfen mich nicht sehen«, flüsterte sie. »Warum habt ihr mir gestern nicht die Wahrheit gesagt? Da hätte ich euch noch helfen können zu verschwinden. Als mein Vater in der Nacht euer Pferd im Stall entdeckt hatte, da wurde er ganz aufgeregt; und als er merkte, daß das andere Mädchen nicht bei euch war, da wurde er fürchterlich wütend.«

»Dein Vater?« entfuhr es Peter und Tamina gleichzeitig. »Dann bist du die Tochter von Sminjan, dem Räuberhauptmann?« fragte Tamina ungläubig.

»Hört zu«, sagte Seraphina und blickte Peter mit einem Lächeln an. »Ich möchte nicht, daß euch etwas geschieht. Auch nicht eurer Gefährtin. Ich werde alles tun, daß mein Vater euch freiläßt, wenn ihr auf seine Wünsche eingeht. Sagt ihm was er wissen will; wenigstens zum Schein«

»Warum tust du das für uns?« flüsterte Peter mißtrauisch.

»Ich will nicht, daß anderen Menschen Böses geschieht. Du mußt wissen, daß mein Vater nicht immer ein Räuber war. Er ist erst nach und nach so geworden. Am Anfang hat er nur das genommen, was wir zum Leben brauchten. Er hat nur die Reichen beraubt, die auf Kosten der Armen leben. Aber mit der Zeit hat er… — aber das ist eine lange Geschichte. Ich muß jetzt gehen, bevor sie mich hier entdecken«, sprach sie hastig und sah Peter geradeaus an.

Dann verschloß sie die Tür und lief zurück zum Haus. Die beiden Gefangenen sahen einander fragend an. Was sollten sie davon halten? Sogleich aber machten sie sich über das dürftige Mahl her.

Der Nachmittag schien noch langsamer zu verstreichen. Endlich neigte sich die kraftlose Wintersonne dem Horizont zu, wo sie mit einem letzten fahlgelben Schimmer verschwand.

Das Knirschen von sich rasch nähernden Schritten auf dem Hof bedeutete das Ende ihrer Bedenkfrist. Wenig später wurde Peter von zwei Räubern abgeführt, nachdem sie ihm — ohngeachtet seines heftigen Widerstandes — die Hände auf den Rücken gefesselt hatten.

»Keine Angst, Tamina! Ich bin bald wieder zurück!« rief er dem verzweifelten Mädchen nach, welches in der dunklen Kälte zurückgelassen wurde.

Sminjan und seine beiden Adjutanten empfingen Peter diesmal allen in der großen Hütte.

»Haust du es dir inzwischen überlegt?« fragte Sminjan und fixierte Peter mit seinem stechenden Blick.

»Ich glaube kaum, daß ich meine Freunde an jemanden wie Sie verraten werde«, sagte er und versuchte hierbei so viel Würde wie möglich auszustrahlen.

»So? Nun, das ist aber höchst bedauerlich«, meinte Sminjan in einem gleichgültigen Tonfall. »Ich bin davon überzeugt, daß wir dich zum sprechen bringen werden.«

»Wollen Sie mich etwa foltern? Da hätten Sie wenig Erfolg«

»Aber nein, wo denkst du hin? Das würde ich niemals wagen, allerdings…«

»Was?«

»Das blonde Mädchen, das jetzt ganz allein und schutzlos in dem kalten, dunklen Schuppen sitzt. Die Kleine friert bestimmt ganz schön. Was, wenn sie die ganze Nacht da drinnen bleiben müßte, weil man Sie vielleicht vergäße…« Er zeigte ein schmales, gemeines Grinsen.

»Das würden Sie doch nicht wagen, Sie …« er brach ab, weil ihm kein passendes Schimpfwort einfiel. Eine solche Niedertracht machte ihn einfach sprachlos. Vergeblich zerrte er an seinen Fesseln. Es gelang ihm nicht, die Stricke auch nur ein wenig zu lockern.

Der Hauptmann gab keine Antwort, sondern saß einfach lächelnd da und zwirbelte seinen enormen Schnurrbart.

»Also gut«, sagte Peter nach einer Weile resignierend. »Wir haben vereinbart, uns in der Stadt Carlan zu treffen. Wer als erster dort anlangt, soll auf die anderen warten.«

»Na also. Das war doch nicht so schwer.« Sminjan war zufrieden.

»Lassen Sie uns jetzt endlich frei?«

»Wo denkst du hin? Ihr kommt mit uns. Sonst würdet Ihr eure Freundin warnen, oder vielleicht hast du uns ja auch einen Bären aufgebunden.«

»Nein, leider nicht«, murmelte Peter enttäuscht. In der Tat lag die alte Stadt Carlan ganz in der Nähe der »Bienenkörbe«, wo sie sich treffen wollten. Sminjan wechselte noch einige Worte mit den beiden anderen. Peter konnte allerdings nichts von dem verstehen, was gesagt wurde, denn die Männer unterhielten sich flüsternd.

»bringt ihn ‘naus und sperrt die beiden in die kleine Kammer in meinem Haus. Ich will ein Auge auf die beiden haben.«, befahl Sminjan. Peter ließ sich widerstandslos abführen.

»Borg, sorge dafür, daß wir morgen früh zeitig abreisen können. Ich will dich, Arno, Welting und Gero dabei haben. Und heute Abend findet ausnahmsweise kein Saufgelage statt. Ich brauche euch nüchtern und ausgeschlafen.«

 

»Das ist die letzte Gelegenheit, uns aus dem Staub zu machen«, sagte Peter zu Tamina, als sie beide allein in der kleinen Kammer waren, wo sie ihre erste Nacht im Räuberlager verbracht hatten. Halb erfroren kauerte Tamina vor dem Ofen und streckte die Arme nach der Wärme aus. »Wenn alles schläft, klettern wir zum Fenster hinaus, holen das Pferd und ab geht die Post.«

»Du hast wohl die Wachposten vergessen. Und das Tor ist auch verschlossen. Wir könnten zwar über den Zaun klettern, das Pferd aber nicht.«

Da hast du recht. Aber wir müssen uns beeilen. Wenn wir erst mal unterwegs sind, wird es viel schwieriger sein zu entwischen. Außerdem müssen wir vor ihnen in Carlan sein, um Alissandra zu finden und sie zu warnen« sagte Peter.

»Es gibt vielleicht eine Lösung«, meinte Tamina, die sich kräftig die Hände rieb. »Wir müssen Seraphina dazu bringen, uns heute Nacht zur Flucht zu verhelfen.«

»Glaubst du wirklich, sie würde das tun?«

»Wir müssen es versuchen. Wir müssen sie in alles einweihen und ihr die ganze Wahrheit erzählen. Auch auf die Gefahr hin, daß sie alles verrät. Wir haben keine Wahl.« Peter schaute sie nachdenklich an. Dieser Plan behagte ihm gar nicht. Doch was hatten sie noch zu verlieren? Schließlich nickte er langsam und lehnte sich entspannt zurück.

 

»Was?! Du sollst der künftige König sein?« rief Seraphina ungläubig. Erschrocken gebot ihr Peter, leise zu sein. Seraphina stellte das Essen, das sie für die beiden gebracht hatte auf den Boden.

»Es ist aber wahr«, beteuerte Tamina aufgeregt. »er hat sogar das sagenhafte Schwert von König Brunnar aus dem Felsblock gezogen. Aber das ist jetzt bei Alissandra, die auch unser übriges Gepäck hat.«

»Ich würde dir gerne glauben, Peter, aber…« — »Was?« — »Ich meine, du siehst so — so… gewöhnlich aus«

»danke sehr«, meinte Peter sarkastisch.

»Nein, nein. Das war ja nicht so gemeint. Ich wollte sagen, saß du wie ein ganz normaler Mensch Aussiehst und nicht wie ein König. Und schon gar nicht wie einer aus dem Märchenreich.«

»Und wie sieht ein König deiner Meinung nach aus? Und was heißt hier Märchenreich? Ihr lebt in einem Märchenreich. Ich komme aus der normalen Welt.« Diese Diskussion führte natürlich nicht weiter. Tamina beeilte sich, dafür zu sorgen, daß das Thema nicht weiter vertieft wurde. Sie begab sich zur Tür und horchte angestrengt nach verdächtigen Geräuschen. Zum Glück jedoch war nichts zu vernehmen.

Auf dem Fußboden sitzend und die Köpfe eng zusammengesteckt, besprachen die drei flüsternd ihren Fluchtplan. Seraphina wollte den Männern, die am Tor Wache hielten eine Flasche von dem starken selbstgebrannten Schnaps bringen. Daraufhin sollten Peter und Tamina eine Weile warten und dann das Pferd aus dem Stall führen.

So wurde aus auch ausgeführt. Die beiden Kerls denen Kälte und Müdigkeit bereits recht zugesetzt hatten, zeigten sich über die willkommene Gabe höchst erfreut und zogen sich in ihre Unterkunft zurück, wo sie sich innerlich wie äußerlich aufwärmen wollten. Jetzt war die Gelegenheit, das Tor zu öffnen, was allerdings sehr langsam und vorsichtig — gewissermaßen millimeterweise — geschehen mußte. Weil der Schnee fast alle nächtlichen Geräusche dämpfte, durfte das Öffnen des hölzernen Tores kein allzu lautes Knirschen und Knarren verursachen. Leider war kein Öl oder Schmierfett zu Hand, so daß sich Seraphina auf allein auf ihr Geschick verlassen mußte. Aus Erfahrung wußte sie, daß das Tor erst bei einem bestimmten Öffnungswinkel ein lautes, nicht zu dämpfendes Knarren von sich gab.

Mondenglanz war aber nicht sehr breit gebaut, so daß es keine Schwierigkeiten bereitete, sie durch den engen Spalt zu bugsieren. Als das Tier Peter erkannte spitzte es die Ohren und gab ein leises Wiehern von sich. Sogleich ergriff Peter ein Ohr des Pferdes, bog es ein wenig zu sich herab und flüsterte einige beruhigende Worte hinein. Zugleich strich er ihm sachte über die samtige rosa Schnauze.

Peter half Tamina beim Aufsteigen, während Seraphina einen Beutel mit etwas Proviant am Sattel festmachte. Zum Abschied drückte er ihre Hand und sprach: »Hab Dank für deine Hilfe. Ich werde deiner nie vergessen, und sollte ich jemals König von Arkanien sein, sollst du reich belohnt werden.« Seraphina lächelte und erwiderte seinen Händedruck. »Ich werde daran denken. Lebt wohl und alle Gute!« Sie lief rasch zurück und schloß ohne sich noch einmal umzuwenden das Tor hinter sich. Den Riegel ließ sie offen.

Der Himmel war sternklar und der Mond schien hell, so daß es nicht besonders schwierig war, sich einen Weg durch den Wald zu bahnen. Seraphina hatte Peter gezeigt, wie er sich an den Sternen und an gewissen Wegzeichen der Räuber orientieren konnte. Peter ging zu Fuß und führte das Pferd am Zügel. Nur so konnte er in der Finsternis seine Umgebung erforschen und nach den Zeichen Ausschau halten. So nahe am Räuberlager durften sie noch kein Licht machen. Bald darauf hatten sie den Weg gefunden, der aus dem Wald hinaus führte. Jetzt zündete Peter eine Pechfackel an, die Seraphina ihnen mitgegeben hatte. Schweigend marschierten sie durch die kalte Nacht. Keiner von beiden sprachen ein Wort. Tamina fror erbärmlich, trotz Peters wollenem Umhang, in den sie sich gehüllt hatte. Peter der durch den tiefen Schnee stapfte, war wurde es rasch warm. Unter seiner Kleidung schwitzte er sogar, was besonders unangenehm war.

Während zwei Stunden gönnten sie sich keine Rast, denn sie wollten so viel Weges zurücklegen wie möglich, bevor ihre Flucht entdeckt würde. Schließlich war Peter so erschöpft, daß er mehrmals strauchelte und hinfiel. Tamina bestand unnachgiebig auf einer Rast und ließ es sich nicht nehmen, selber zu gehen und Peter reiten zu lassen. Trotz seines anfänglichen Protestes war er am Ende froh, nachgegeben zu haben. In dieser Situation war kein Platz für Eitelkeiten. Das einzige was zählte, war daß sie beide rasch und wohlbehalten die nächste größere Ortschaft erreichten. Dort könnten sie sich ausruhen, neuen Proviant besorgen und weitere Pläne schmieden. Die Räuber würden es kaum wagen, sie bis in dicht besiedeltes Gebiet zu verfolgen, wo sie den Häschern des Regenten in die Hände zu laufen drohten.

Im Morgengrauen erreichten sie endlich den südöstlichen Rand des großen Waldes. Als Peter später eine Karte jener Gegend anschaute, konnte er nicht begreifen, wie sie es jemals hatten schaffen können, eine so weite Strecke innert so kurzer Zeit zurückzulegen.

Mit den ersten Sonnenstrahlen wurde es sogleich merklich wärmer. Überall begann das Eis zu tauen. Wenn das Wetter anhielte, würde in wenigen Tagen der ganze Schnee weggeschmolzen sein. Die kalte Jahreszeit war vorbei und mit weiteren Schneefällen war eigentlich nicht mehr zu rechnen. Der Schneesturm, der ihnen so viel Ungemach bereitet hatte, war das letzte wütende Aufbäumen des vom Frühling in die Knie geschlagenen Winters, der sich für ein weiteres Jahr in den äußersten Norden zurückziehen mußte. Auf einer sonnigen Anhöhe machten sie Halt und lagerten sich auf ihren Mänteln, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Ihr ganzes Gepäck war, um Mondenglanz zu entlasten, auf Alissandras Pferd befestigt worden. Ohne den Beutel von Seraphina hätten die beiden jetzt keinen Bissen zu essen gehabt. Trotz des anstrengenden Fußmarsches hatten die beiden wenig Appetit. Trotzdem mußten sie etwas essen, um bei Kräften zu bleiben. Wenig später setzten sie ihren Weg fort. Im hellen Sonnenlicht und auf einer breiten guten Straße kamen sie rasch und unbehindert vorwärts.

Gegen Mittag gelangten sie an eine kleine Stadt, die sich auf einem felsigen Hügel eng an eine düstere aus grauem Granitgestein errichtete Trutzburg schmiegte. Das düstere und bedrohliche Aussehen dieser Siedlung täuschte aber. Die Menschen waren freundlich und nahmen sich der beiden erschöpften Reisenden gastfreundlich an. Zu dieser Jahreszeit waren kaum Reisende in diesem teile des Landes unterwegs und so boten die beiden Ankömmlinge eine willkommene Abwechslung. Da es in Arkanien keine Zeitungen gab, waren die Berichte und Erzählungen von Reisenden, Kaufleuten und Minnesängern die einzige Nachrichtenquelle, besonders für die Bewohner abseits liegender Dörfer und Siedlungen.

Peters Schilderung der bösen Räuberbande — die er allerdings frei nach seiner Phantasie ausschmückte — riefen unter den braven Leuten eine heftige Anteilnahme aus. Und so wurden sie nicht nur auf das trefflichste bewirtet, sondern sie erhielten auch alles, was sie für die Fortsetzung ihrer Reise benötigten. Peter erkundigte sich natürlich als erstes nach Alissandra, aber niemand hatte etwas von ihr gehört oder gesehen. In der Tat waren die beiden die ersten Fremden, die seit Wochen hier vorbei gekommen waren. Diese Nachricht breitete Peter großen Verdruß, den zu lindern Tamina alle Kraft aufbot. So hielten sie sich nicht länger als nötig in dem freundlichen Orte auf und setzten ihre Reise bereits am dritten Tage fort.

Die Wärmere Märzsonne hatte allen Schnee wegschmelzen lassen. Die Bäche und Flüsse waren von dem Schmelzwasser stark angeschwollen. An vielen Orten wälzten sich die braunen Fluten mit solcher Gewalt zu Tale, daß nicht wenige Brücken und Stege beschädigt oder ganz fortgeschwemmt worden waren. Daher mußten sie oft große Umwege in Kauf nehmen, um einen sicheren Übergang zu finden. Trotzdem hatten sie keinen Grund zu klagen, denn sie legten täglich eine gute Strecke zurück. Die Tage wurden allmählich länger und die Sonne gewann täglich an Kraft und Wärme. Überall konnte man das erste Grün spießen sehen. Mensch und Natur begrüßten fröhlich den Frühling. Es würde nicht mehr lange dauern, bis alles sich auf den großen Frühjahrsfeiern vergnügte.

Peter war inzwischen körperlich in Bestform. Die Anstrengungen der langen Reise, die weiten Fußmärsche und die Entbehrungen der Kälte hatten seine Muskeln gestählt und seinen Organismus gekräftigt. Seit seiner Ankunft in Arkanien war er kein einziges Mal krank gewesen oder auch nur erkältet. Natürlich hatte er sich nicht in einen kraftstrotzenden Muskelprotz verwandelt, aber seine Ausdauer und Kraft hatten die werte eines normalen gut konditionierten Jünglings angenommen, und es war zu erwarten, daß er über längere Zeit sich zu einem kräftigen, kerngesunden Manne entwickeln würde. Er selber merkte die Veränderung erst, als er feststellen mußte, daß ihm seine Hosen zu weit waren und er zum ersten Male neue Löcher in seinen Gürtel stechen mußte. Trotz allem war er aber alles andere als glücklich. Seine Gedanken weilten bei der verlorenen Alissandra. Wenn sie doch nur endlich in Carlan angelangt wären! Er, der sonst immer so gesprächig und mitteilsam gewesen war, wurde mit jedem Tage tiefsinniger und verschlossener.

Tamina hatte ihre große Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie selber hatte sich inzwischen an Mondenglanz gewöhnt und das brave Pferdchen liebgewonnen. Inzwischen hielt sie sich fast ebensogut im Sattel wie Peter. Zu seinem großen Mißfallen hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, das Tier zu pflegen und verschönern. So ließ sie es sich nicht nehmen, jeden Tag die Mähne zu bürsten und sogar kleine Zöpfchen hineinzuflechten, was Peter äußerst albern fand, allein er konnte nichts dagegen tun. Sein einziger Trost bestand darin, daß Tamina keine farbigen Bänder zur Hand hatte, sonst hätte sie bestimmt noch Schleifchen in Schweif und Mähne geflochten. Peter hatte bereits jetzt schon den Eindruck, daß die Leute auf der Straße sie anstarrten. In der Tat waren weiße Pferde in Arkanien nicht sehr beliebt, dann man sagte sie galten — völlig zu Unrecht — als empfindlich und als gute Arbeits- und Militärpferde ungeeignet. Es war also nicht weiter verwunderlich, wenn ein junger Mann auf einem herausgeputzten Schimmel als eitler Geck oder Narr angesehen wurde. Allein Peter konnte nichts dagegen unternehmen ohne Taminen zu verletzten, Tamina hatte ihren Gefallen daran und Mondenglanz schließlich schien es ganz egal zu sein.

Nach zwei Wochen gelangten sie schließlich bis vor die Stadt Carlan. Von Sminjan und den Häschern des Regenten hatten sie bislang ebenso wenig zu Gesichte bekommen, wie von Alissandra. Nun aber, so nahe am Ziel ihrer Reise, mußten sie besonders vorsichtig sein. Peter beschloß, daß es das Beste sei, wenn sie nicht in der Stadt selber Quartier bezögen, sondern sich außerhalb der Stadt in einer der zahlreichen Herbergen, die für die durchreisenden Händler errichtet wurden, einzumieten.

 

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