Sturm
Das
Abendessen wurde wieder vom Wirt persönlich aufgetragen. Diesmal jedoch mußte
er es beiden getrennt servieren. »Meine Tochter hat sich mit diesem Braten
selbst übertroffen«, sagte er. »Und kostet erst von diesem herrlichen Gewürzwein.
Es ist der beste Tropfen in meinem Keller, nach einem alten Geheimrezept
hergestellt. Er kommt aus dem Ausland. Ein ganz besonderer Genuß für ganz besondere
Gäste.« Er ließ es sich nicht nehmen, Peter gleich einzuschenken. Dieser,
einem guten Glase von je her nicht abgeneigt, ließ sich nicht zweimal bitten.
Gierig schüttete er einen ganzen Becher des roten Rebensaftes in sich hinein.
Der Wirt beobachtete ihn hierbei scharf und in seinen kleinen Äuglein glitzerte
es listig, was von Peter freilich nicht bemerkt wurde. Um seinen Mund spielte
ein hämisches Grinsen. Peter jedoch sah nicht auf den Wirt, sondern blickte
tief in den Becher. Der Wein war süß, würzig und schwer, so wie Peter ihn am
liebsten mochte. Er schickte den Wirt zum Teufel und goß sich einen weiteren
Becher voll ein. Schon sehr bald spürte er, wie ihm der Wein zu Kopfe stieg,
denn bei aller Vorliebe für geistige Getränke vertrug er doch kaum einen
rechten Schluck.
Das
Essen, obgleich es schmackhaft aussah und verlockend duftete, ließ er fast
unberührt stehen. Nach dem zweiten Becher fühlte er bereits deutlich eine angenehm
dumpfe Müdigkeit, die sich bleiern auf seine Glieder legte. Beim Versuch sich
einen dritten Becher einzuschenken stieß er allerdings den Krug um, so daß der
gute Wein statt in Peters Bauch auf dem Fußboden landete. Peter ärgerte sich
darob sehr. Aber als er rasch aufstehen und noch retten wollte, was zu retten
war, merkte er, daß er erhebliche Koordinationsschwierigkeiten hatte. Unter
einiger Anstrengung schaffte er es, sich hinüber zum Bett zu schleppen, wo er
sich sogleich ausstreckte, und wenig später war er auch schon eingeschlafen.
Vielleicht
sollten wir hier zu Peters Rechtfertigung erwähnen, daß die Becher doch recht
groß waren und der Wein süß und stark war.
Wie
dem auch sei, wahrend Peter sich selber außer Gefecht gesetzt hatte und nun
friedlich schlummernd von warmen, sonnigen Gefilden und von Alissandra träumte,
benahm sich diese doch weitaus vernünftiger. Alissandra trank eher selten Wein
und konnte den schweren roten ohnehin nicht besonders leiden, und so hatte sie
ihren Wein reichlich mit Wasser verdünnt. Der Braten hingegen schmeckte ihr
ausgezeichnet. Als sie ihr ausgiebiges Mahl beendet hatte, begann sie, was davon
übrig geblieben war, als Proviant für die Reise einzupacken. Nachdem sie alles
zum Aufbruch gerüstet hatte, legte sie sich auf das Bett und ruhte ein wenig,
sorgsam darauf bedacht, es sich nicht zu bequem zu machen, damit sie nicht etwa
den Zeitpunkt des Aufbruchs verschlief.
Auch
Tamina hatte im Augenblick alle Hände voll zu tun. Sie mußte nicht nur das
Essen zubereiten, sondern auch die ganze Räuberbande bedienen, die sich
lauthals singend und grölend in der Schankstube mit Bier und Wein betrank.
Aus
dem Hinterzimmer neben der großen Schankstube rief Borg der Wirt nach ihr.
Seufzend wischte sie sich mit einem Zipfel der Schürze über die Stirn. Sie
eilte in die Küche und betrat kurz darauf mit einer Schüssel und zwei Weinkrügen
das Nebenzimmer. Dort saßen Borg, der Räuberhauptmann Sminjan und zwei weitere
Räuber — ihrer Kleidung und Aufmachung nach gehörten sie zum engeren Gefolge
des Hauptmanns — beim Wein und waren in eine ausgelassene Unterhaltung
vertieft. Der Wirt war eben im Begriffe Spielkarten zu mischen und in der Mitte
des Tisches lag ein ansehnlicher Haufen von silbernen und goldenen Münzen.
»Na
endlich kommt der Wein«, brummte Borg verdrießlich, denn er hatte gerade eine
größere Summe an Sminjan verloren. »Hallo, mein schönes Kind! Wie wär's mit
uns beiden, he?« fragte einer der jüngeren Räuber anzüglich. »Laß das Mädel
in Ruh' Arno! Die ist nichts für dich«, sagte Sminjan grob. »Ich bin der
feinen Dame wohl nicht gut genug«, entgegnete Arno gereizt. »Du bist der Dame
zu besoffen«, entgegnete der andere, worauf die Runde in ein grölendes Gelächter
einstimmte. »Jetzt gebt endlich eine Ruh' und laßt uns weiterspielen!«
donnerte Sminjan und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Münzen
klirrten. Während sich die Männer wieder ihrem Spiele zuwendeten, begab sich
Tamina in die Küche, wo sie hastig allerlei Lebensmittel zusammenpackte und zu
einem handlichen Bündel verschnürte. Dann schlich sie sich leise in ihre
Schlafkammer und packte ihre wenigen Habe. Von den Gedanken an die ungewisse
Zukunft aufgewühlt, ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie blickte
versunken auf den Fußboden und zählte die Fließen. Das Zählen beruhigte sie.
Immer, wenn sie nicht schlafen konnte, oder aufgeregt war, mußte sie irgend
etwas zählen; da half am besten. Sie versuchte sich an frühere, bessere Tage
zu erinnern, als sie noch ein kleines Mädchen war und die Mutter noch lebte und
ihr Vater. Dies trieb ihr unwillkürlich die Tränen in die Augen, und so sehr
sie sonst das Weinen verabscheute, wehrte sie sich nun nicht dagegen. Je mehr Tränen
ihre glühenden Wangen hinabflossen, um so mehr wurden die bösen und
schmerzlichen Erinnerungen aus ihrem Herzen fortgespült.
So
verging Minute auf Minute, Stunde um Stunde. Bald wurde es ruhiger im Hause.
Einer nach dem anderen war entweder trunken in sein Bett getorkelt oder unter
den Tisch gesunken. So kehrte endlich, lange nach Mitternacht Stille ein in der
Wirtschaft. Nur im Hinterzimmer der Schankstube saßen Sminjan und Borg, welcher
für einmal großes Glück im Spiele gehabt hatte, wovon ein schöner Haufen
dicker Münzen vor ihm auf dem Tische zeugte. Sminjan, der ihm gegenüber saß,
machte ein verdrießliches Gesicht und starrte finster auf die Karten in seiner
Hand. Die beiden jüngeren Räuber hatten sich längst, nachdem sie ihr Geld
verspielt und obendrein noch in Streit geraten waren, zurückgezogen. So dauerte
es denn auch kaum mehr als eine halbe Stunde, bis Borg, auf dem Tische, die Arme
um sein gewonnenes Vermögen geschlungen selig eingeschlummert war, und nur noch
Sminjan unruhig in seinem Bette wach lag und keinen Schlummer finden wollte.
Trotz eines Reserve-Asses im Ärmel hatte Borg ihn ausgestochen und ihm eine
empfindliches Loch in den Beutel geschnitten. »Warte Borg! Wie gewonnen, so
zerronnen«, dachte er und zog sich die Decke bis ans Kinn.
Tamina,
die lange gegen die Müdigkeit zu kämpfen hatte, stand auf und vergewisserte
sich, daß alles im Hause schlief. Dann packte sie ihre Sachen und hüllte sich
in ihren Wollenen Wintermantel. Leise, sorgfältig darauf bedacht, alle
knarrenden Dielen zu umgehen, schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche und
schlüpfte zur Hintertür hinaus.
Draußen
empfing sie ein eisiger Windstoß, der heftig an ihrem Mantel und ihren Haaren
zerrte. Wie angenehm empfand sie dagegen die Lebendige Wärme des keineswegs
beheizten , aber deutlich wärmeren Stalles. Einige der Pferde lagen in dem
Stroh, alle Viere von sich gestreckt; andere standen mit hängenden Ohren und
halb geschlossenen Augen dösend in ihrem Stand. Bei Taminens Eintritt hoben
manche den Kopf und spitzten neugierig die Ohren.
»Hoffentlich
kommen Peter und Alissandra bald«, dachte sie und machte es sich in einer Ecke
auf dem Stroh bequem. Obwohl sie sich nur ein wenig ausruhen wollte, war sie
wenig später eingenickt.
Alissandra
schlug die Augen auf. Im Zimmer war es fast völlig dunkel, nur im Kamin glühte
unter einer dicken Schicht Asche noch ein rötlicher Schimmer. Leise stand sie
auf und zog sich an. Nachdem sie ihren Degen umgürtet hatte, nahm sie ihr Gepäck
— zwei vollbepackte Satteltaschen — über die Schulter, vergewisserte sich,
daß sie nichts liegengelassen hatte und ging zur Tür. Vorsichtig, Millimeter für
Millimeter schob sie den eisernen Riegel, beiseite, der sonst verdächtig laut
quietschte. Vorsichtig spähte sie hinaus. Auf dem Gang war alles still und
dunkel. Als sie sicher war, daß niemand etwas bemerkt hatte, glitt sie geräuschlos
hinüber zu Peters Zimmer. Die drückte die Klinke, aber die Tür war von innen
verschlossen. Da sie nicht wagte zu klopfen, kratzte sie mit den Nägeln über
das rauhe Holz, in der Hoffnung, Peter mochte sie hören. Keine Reaktion. Sie bückte
sich, um durch das Schlüsselloch zu sehen, aber im Innern war es so finster, daß
sie nicht einmal die Umrisse der Möbelstücke erkennen konnte. »Dieser Taps
ist bestimmt eingeschlafen und merkt nichts«, dachte sie ärgerlich. Ein leiser
Schrecken beschlich sie. Was sollte sie jetzt tun? Sie durfte keinen Lärm
machen, aber sie konnte ihn auch nicht einfach hier zurücklassen. »Dieser
Dummkopf! Es würde ihm recht geschehen, wenn ich ihn hier zurückließe.«
Selbstverständlich dachte sie nicht ernsthaft daran, Peter im Stich zu lassen.
»Na gut, dann eben durchs Fenster«, murmelte sie und ging zurück in ihr
Zimmer. Sie öffnete das Fenster, was sich allerdings nicht ohne erhebliche Geräuschentwicklung
bewerkstelligen ließ. Mehrmals fürchtete sie bereits, gehört und entdeckt
worden zu sein, aber zu ihrer größten Erleichterung blieb alles dunkel im
Haus.
Der
Sturm trieb ihr körnige Schneeflocken ins Gesicht. Angestrengt versuchte sie
mit zusammengekniffenen Augen geeignete Ritzen oder Vorsprünge zu finden, daran
sie sich festhalten könnte. Es würde bestimmt eine knifflige Angelegenheit
werden, in das angrenzende Zimmer zu gelangen. Sie fürchtete weniger die Gefahr
eines Sturzes — das Fenster lag im ersten Stock und unten lag genug weicher
Schnee — als vielmehr, daß, sollte sie einmal unten sein, sie nicht wieder
hinauf käme. Auch war die Fassade sehr glatt und eben. Unter dem Fenster gab es
einen schmalen Vorsprung, normalerweise gerade breit genug, sich bequem daran
festzuhalten, jetzt aber zeigte er sich von einer Deichen Schicht körnigen
Schnees bedeckt.
Der
Stein war eiskalt und rasch wurden ihre Finger klamm und steif. Nach mehreren
Beinahe-Abstürzen hatte sie es geschafft. Das Fenster war natürlich
geschlossen. Zum Glück aber standen die Läden offen, so daß sie sich an den
massiven Brettern festhalten konnte. Vorsichtig pochte sie gegen das Glas.
Nichts geschah. Dann schlug sie fester zu. Immer noch keine Reaktion. Es blieb
ihr nichts übrig, als die Scheibe mit möglichst wenig Geräusch einzuschlagen.
Ein Unterfangen, welches sich schwieriger erwies, als erwartet, waren die
einzelnen Glasscheiben verhältnismäßig klein und dick. Sie rammte ihren
Ellenbogen gegen das Glas. Beim dritten, recht schmerzhaften Versuch gab die
Scheibe nach und fiel geräuschlos hinein.
Jetzt
war es kein Problem mehr, mit der Hand durch das Loch zu greifen und den Griff
zu drehen. Sie schwang sich hinein und landete mit dem Fuß auf der Glasscheibe,
die knirschend zerbarst. Unter dem Fenster lag Peters Mantel, der die Scheibe
aufgefangen hatte. Sie blickte sich nach Peter um.
Peter
lag vollständig angekleidet im Bett und schlief tief und zufrieden. Er lag auf
dem Bauch und hielt sein Kissen mit beiden Armen fest umklammert. ›Ja,
das sieht ihm ähnlich!‹
dachte sie und weckte ihm mit ein paar heftigen Stößen zwischen die Rippen. »He!
Was soll denn das?« murmelte er schläfrig. Als er Alissandra neben sich
gewahrte, wurde er plötzlich hellwach. »Ich — muß wohl für einen
Augenblick eingenickt sein.« Zum Glück konnte er im Dunkeln Alissandras
Gesichtsausdruck nicht wahrnehmen.
Nachdem
ihn die Prinzessin mit einigen nicht sehr prinzessinenhaften Ausdrücken —
welche an dieser Stelle wiedergegeben zu werden mir nicht ratsam schien —
bedacht hatte, zerrte sie ihn grob aus dem Bette und stieß ihn zu Fenster.
Peter indes hatte noch immer etwas Mühe, gerade zu stehen und fingerte mißmutig
an den Schnallen seiner Satteltasche herum. Er beugte sich hinaus und blickte in
den Hof hinab. »Was? Da soll ich hinunter? Ohne Leiter?« fragte er bestürzt.
»Bitte
nimm dich wenigstens für ein paar Minuten ein wenig zusammen.« bat ihn
Alissandra entnervt. »Ich werde vorausgehen.« Sie befestigte das Seil an einem
der Bettpfosten und warf das andere Ende aus dem Fenster. Flink wie eine Katze
angelte sie sich an dem Seil hinab. Unten nahm sie das Gepäck in Empfang.
Peters Kletterpartie glich mehr einem Absturz. Dennoch kam er einigermaßen
unbeschadet an. Der Wind und die Kälte sorgten dafür, daß er rasch wieder
munter und nüchtern wurde.
»Sag
mal, wieviel von dem Zeug hast du eigentlich in dich hineingeschüttet?« wollte
Alissandra wissen. »Also wirklich!« protestierte Peter. »Ich habe nur einen
winzigen Schluck zu mir genommen.«
Wenig
später standen sie bereits in dem dumpficht-kühlen Stall, wo die kleine Tamina
ihrer bereits ungeduldig harrte. Es wurde wenig gesprochen, denn die Zeit drängte
und man wollte so wenig Umstände wie möglich machen. Über dem ganzen Treiben
lag eine nervöse Anspannung, die ein Übriges dazu beitrug, einen jeden mit
sich selber beschäftigt zu machen. Im Handumdrehen waren die beiden Pferde
gesattelt und bepackt. Galant zog Peter Taminen zu sich hinauf in den Sattel,
nachdem ihm seinerseits Alissandra auf’s Pferd helfen mußte. Tamina, die noch
nie auf einem Pferd gesessen war, klammerte sich an Peter fest, dem dies überhaupt
nicht unangenehm war. »Du brauchst keine Angst zu haben, bei mir bist du völlig
sicher«, sagte er. »Natürlich. Schließlich passe ich ja auf ihn auf«,
brummte Alissandra trocken.
In
der inzwischen recht dicken Neuschneeschicht machten die Pferdehufe kein Geräusch
und die frischen Spuren würden in kurzer Zeit zugedeckt werden. Wegen der
Dunkelheit und der schlechten Sicht, bedingt durch das dichte Treiben der
Schneeflocken, mußten sie dicht hintereinander bleiben, um sich nicht aus den
Augen zu verlieren. Alissandra
ritt voran. Sie
trug den größten Teil des Gepäcks mit sich, wozu auch das große und recht
sperrige Schwert Peters gehörte, um Mondenglanz, die zwei Reiter tragen mußte,
zu entlasten.
Bald
hatten sie den Wald erreicht. Der Wind und das Schneetreiben, die immer heftiger
wurden, waren hier weniger stark zu spüren und behinderten das Vorwärtskommen
weniger. Dafür wurde das Gelände unwegsamer, und die Reiter hatten Mühe, die
eingeschlagene Richtung zu verfolgen, da sie den schmalen Pfad kaum mehr
auszumachen vermochten.
Peter
tat der eisige Wind gut. Er fühlte sich wieder munter und abenteuerlustig.
Tamina hingegen, die hinter Peter auf der Kruppe des Pferdes saß – was für
einen längeren Ritt nicht sonderlich bequem war, zumal man sich besser
festhalten muß – fand ihre Lage nicht mehr sehr angenehm. Ihr war fürchterlich
kalt und ihr Rücken schmerzte von dem ungewohnten Ritt. Sie schlang ihre Arme
fester um Peter und drückte sich enger an seinen Rücken. Trotz aller
Unbequemlichkeit fühlte sie eine bleierne Müdigkeit langsam in ihr aufsteigen.
Das gleichmäßige Schaukeln des Pferdes tat ein Übriges. Die Augen fielen ihr
zu und sie ließ ihren Kopf auf Peters Schulter sinken. Nach der ganzen Arbeit
in Küche und Hof und der kurzen Dauer der Nachtruhe, die ihr vergönnt war, war
es nicht verwunderlich, daß sie bald darauf in einen leichten Schlummer
gesunken war. Wenn Peter sie nicht rechtzeitig festgehalten hätte, wäre sie
vom Pferde gestürzt.
»Versuche
bitte noch eine kleine Weile wach zu bleiben. Wir werden bald eine Rast machen«,
rief Peter ihr zu. »Es hat ohnehin wenig Sinn noch länger durch die Finsternis
zu reiten. Hauptsache, wir sind weit genug von der Schenke entfernt, so daß sie
uns nicht mehr kriegen.« Er rief Alissandra zu, sie möge anhalten. Jedoch
bekam er keine Antwort. Sehen konnte er sie auch nicht. Beunruhigt trieb er das
Pferd an, doch noch immer war von ihr nichts zu sehen. Ein Schrecken ergriff
ihn. »Halt dich fest!« rief er Taminen zu und ließ Mondenglanz angaloppieren.
Aus voller Kehle rief er nach Alissandra. Keine Antwort. Seine Augen versuchten
die flockige Finsternis zu durchdringen. Allein, er konnte nichts erkennen, was
irgendwie nach einem lebendigen Wesen aussah. Er ließ Mondenglanz anhalten und
sprang ab. Über die Erde gebeugt, suchte er nach Hufspuren, doch vor ihm lag
nur unberührter Pulverschnee. Sein Herz klopfte rasend. Ein mächtiges Gefühl
fuhr ihm durch den Leib; er hatte Angst. Wenn er Alissandra nicht wieder fände,
so wären sie verloren. Sie allein besaß eine Karte und kannte sich in der
Wildnis aus, sie allein verstand etwas von der Fährtensuche, wußte wie man
Wasser und Nahrung fand, sich einen Unterstand baute, konnte ohne Streichhölzer
Feuer machen.
Tamina,
die inzwischen ebenfalls abgestiegen war, packte ihn am Arm und fragte: »Peter,
sag’ mir, was ist geschehen? Wo ist Alissandra? Wir haben sie doch nicht
verloren?« Peter gab keine Antwort. Er wußte nicht, was er zu der Kleinen
sagen sollte. Sie hatte sich ihm anvertraut, und nun war sie dazu verdammt, mit
ihm zusammen in der Wildnis zu verschmachten oder eher noch, zu erfrieren. Und
alles war seine Schuld. Tamina stieß ihn an und rief: »Wir müssen uns
beeilen, Ehe der Schnee die Spuren zudeckt.«
Zu
Fuß eilten sie, ihren eigene Spur zurückverfolgend, durch die Nacht. Peter wünschte
sich nichts mehr, als eine Lampe zu besitzen, oder wenigstens eine Fackel, aber
ohne Streichhölzer oder Feuerzeug hätte er niemals ein Feuer anbekommen, schon
gar nicht in vernünftiger Zeit. Immer wieder riefen er und Tamina Alissandras
Namen, bis sie schließlich vor lauter Rufen ganz heiser waren. Aber alles war
sie zu hören bekamen, waren das Pfeifen des Windes und das Ächzen der Bäume.
Je
länger ihre verzweifelte Suche dauerte, desto mehr wuchs Peters Beklemmung.
Immer schneller rannte er durch den zum Teil knietiefen Neuschnee, das
widerstrebende Pferd hinter sich nachziehend, immer öfter strauchelte er und
fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Endlich lag er völlig entkräftet und
durchnäßt im Schnee. Sie hatten inzwischen ihre eigene Spur verloren oder der
Schnee hatte sie zugedeckt. Er konnte nicht mehr weiter. Tamina sprang vom Pferd
und half ihm auf. Sie säuberte seine Kleidung so gut es ging von Schnee und
Eis. »Du mußt aufstehen«, sagte sie und zog ihn auf die Beine. Sie hatte
recht. Es half nicht, sich jetzt gehen zu lassen. Er sah nach Mondenglanz, die
zitternd und schwer atmend dastand. Er strich mit klammen Fingern über ihre
Nase und sprach leise: »Tut mir leid, daß ich dich so gehetzt habe.«
»Wir
müssen sie zudecken, sonst bekommt sie Fieber«, sagte Tamina, die obgleich sie
nicht reiten konnte, sehr viel von der Pflege eines Pferdes verstand. »Da vorne
können wir uns lagern«, meinte Peter. »Das sah mir nach einem Felsen aus.«
Sie fanden einen großen Felsbrocken, der von Moos und Erde halb bedeckt, aus
dem Waldboden ragte. Dahinter fanden sie eine flache, windgeschützte, beinahe
schneefreie Mulde. Hier ließen sie sich nieder. Tamina nahm eine der beiden
Wolldecken, die eigentlich zum Schlafen bestimmt war und legte sie über Kruppe
und Lende des Pferdes. Sie lockerte den Sattelgurt und nahm den Zaum ab. Ein
einfaches, aus einem Strick geflochtenes Halfter würde genügen. Sie wußte, daß
Pferde nicht gerne allein im Wald herumliefen, sondern lieber im Schutze der
Herde blieben.
Peter
hatte derweil alle Hände voll zu tun, nach Tannenzweigen zu suchen. Er wünschte,
er hätte sein Schwert dabei gehabt, so aber mußte er sich mit seinem Messer
behelfen, um die trockenen Zweige von den Ästen abzuschneiden. Die Zweige würden
einen guten Schutz gegen die Kälte geben, wenn man sein Lager damit auslegte.
»Wenn wir jetzt noch ein Feuer hätten, könnten wir die Nacht ganz gut überstehen«,
meinte Peter und betrachtete das ordentlich dicke Nest aus Tannenzweigen,
welches er am Fuße des Felsens aufgeschichtet hatte. »Das mit dem Feuer könnte
klappen«, meinte Tamina und kramte in ihrem Bündel. Schließlich brachte sie
eine kleine Dose zum Vorschein. »Was ist das?« fragte Peter. »Hast du noch
nie eine Zunderbüchse gesehen?« fragte Tamina erstaunt. »Wie macht ihr denn
Feuer?« »Wir benutzen dazu Feuerzeuge, das sind kleine Behälter, in denen
sich Benzin oder Flüssiggas befindet, welche mit Hilfe eines Feuersteins zum
brennen gebracht werden. Oder wir benutzen Streichhölzer, das sind kleine
Holzstäbchen, die mit einem Ende in eine Masse aus unterschiedlichen Zutaten,
wie Antimonsulfid, Chlorat, Nitrat und anderen Chemikalien getaucht wurden.
Reibt man damit über eine Reibefläche aus rotem Phosphor und Glassand, so
beginnt die Spitze des Hölzchens heftig zu brennen. Ach, ich wünschte, ich hätte
eine Schachtel davon hier.« Tamina, die mit dieser ausführlichen Schilderung
nicht viel anzufangen wußte, nickte verständnisvoll und hielt Peter die Büchse
vor die Nase. »Wir machen es hiermit«, sagte sie und öffnete die Büchse.
Darinnen befanden sich ein Feuerstein, ein Stück Eisen und eine Menge einer
dunklen, krümeligen Masse. »Jetzt brauchen wir nur etwas trockenes Reisig oder
ein wenig Papier und natürlich Holz.« Peter besorgte ihr das Gewünschte und
war gespannt zu sehen, wie man in Arkanien Feuer machte.
Tamina
sammelte etwas trockenes Reisig und legte es an einer windgeschützten Stelle zu
einem Häufchen zurecht, dann entnahm sie der Dose eine Priese Zunder. Mit Hilfe
des Eisens schlug sie Funken aus dem Feuerstein auf den Zunder, der nach einigen
Versuchen zu glimmen begann. Jetzt bestand die Schwierigkeit nur noch darin, dem
glimmenden Zunder ein Flämmchen zu entlocken und damit das Reisig zu entzünden.
Selbstverständlich gelang ihr das auch und so konnten die beiden nach kurzer
Zeit sich an einem von dem stürmischen Wind heftig lodernden Feuer erwärmen.
So
dicht es ging, ohne sich zu versengen, saßen sie, eng aneinander gedrückt
unter der einzigen Decke, die ihnen geblieben war, an dem Lagerfeuer. Unter
anderen Umständen hätte Peter es sicherlich sehr genossen, mit einem hübschen,
blonden Mädchen eng verbunden zusammen zu sitzen. Jetzt aber beschäftigten ihn
andere, dringendere Sorgen. Für den Augenblick waren sie vor den Räubern und
dem Unbill der Witterung sicher, wenn sie aber nicht bald aus dem Walde herausfänden,
so wären sie unausweichlich verloren. Nahrung hatte sie keine dabei. Wasser
konnten sie aus dem Schnee schmelzen oder aus Bächen trinken. Das größte
Problem blieben also der Hunger, vor allem aber die Kälte, da sie nicht für
einen dauernden Aufenthalt im Freien gerüstet waren. Der sichere Unterstand und
das wärmende Feuer jedoch hatten für Erste alle Verzweiflung weggewischt, und
was der morgige Tag bringen würde, blieb in Ruhe abzuwarten. Tamina war bereits
eingeschlafen; ihr blonder Schopf ruhte auf Peters Brust. Schläfrig blinzelte
Peter ein letztes Mal in die Flammen und strich eine Strähne von Taminens Haar
aus seinem Gesicht, bevor er ebenfalls in einen leichten Schlummer fiel.
Ein
rötlich-goldener Schimmer am östlichen Horizont begann den Schnee und die
silbern schimmernden Stämme der Buchen zu färben, als Peter die Augen
aufschlug. Nach dem Sturm in der Nacht herrschte fast völlige Stille. Mit
steifen und eiskalten Gliedern richtete er sich auf und schüttelte den Schnee
von der Decke. Tamina wurde wach und lächelte ihn matt an. Sie war sehr blaß
und es kostete Peter einige Mühe, sie zum Aufstehen zu bewegen. Er zwang sie,
mit ihm zusammen einige Freiübungen zu machen, um das stockende Blut wieder
etwas in Wallung zu bringen und den von der Kälte erstarrten Körper aufzuwärmen.
Das Feuer war völlig herabgebrannt und die Asche war erkaltet. Da es kein
brauchbares Brennholz in der Nähe gab, mußten sie auf ein neues Feuer
verzichten. Sie hatten ohnedies nichts zum Kochen oder Braten gehabt. Außer
einem steinharten Stück Brotrinde, die Peter für Mondenglanz aufbewahrt hatte,
blieb ihnen nichts zu essen übrig. So kam es, daß alle, außer dem Pferd, das
sich an grünen Fichtenzweigen gütlich tat, mit knurrendem Magen den neuen Tag
beginnen mußten.
Hungrig
und mit vor Kälte gefühllosen Gliedern stolperten sie stundenlang durch das
verschneite Unterholz. Immer öfter mußten sie eine Rast einlegen und immer länger
dauerte es, bis sie sich erneut zum Weitergehen aufrappelten. Schließlich waren
sie am Ende ihrer Kräfte. Am Fuße eines mächtigen Eichenstammes sanken sie in
den Schnee. Tamina war kaum mehr ansprechbar. Peter nahm sie in seine Arme und
wickelte seinen Mantel um ihre Schultern. Sie nahm es kaum wahr. Er setzte sich
neben sie und schlang seine Arme um sie. Leise flüsterte er: »Es tut mir leid,
Kleines.« Dann überließ auch er sich der tauben Gefühllosigkeit. Leise
rieselte eine Handvoll Pulverschnee von den Ästen auf ihre Köpfe herab.
Nicht
weit davon entfernt schlängelten sich dünne Rauchfäden aus einem windschiefen
Schornstein dem fahlgrauen Himmel entgegen. Wären unsere beiden Freunde nur
wenige Hundert Schritte weiter gegangen, so hatte sich ihnen folgendes
unerwartetes Bild geboten: Auf einer großen fast quadratischen Lichtung
standen, von einer Palisade umgeben, vier größere Blockhäuser, sowie mehrere
kleinere Vorratsschuppen. Daneben gab es Pferche und Ställe für Hühner,
Schweine, Ziegen und anderes Vieh. Auf der Mitte eines kleinen Platzes, den die
vier Häuser umsäumten, befand sich sogar ein hübscher, gedeckter Ziehbrunnen.
Alles wirkte sehr still und friedlich, und wäre nicht der Rauch gewesen, der
aus dem Schornstein der größten der Blockhütten quoll, so hätte man fast
glauben können, die Siedlung wäre verlassen oder diente nur als Kulisse für
eine Freilichtbühne.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 01. August 2002 04:13 |