V. KAPITEL

Tamina

  

Lange Zeit ritten sie schweigend durch die winterlich stille Landschaft. Keiner sprach ein Wort. Beide waren sie zu sehr in ihre eigenen Gedanken versunken. Alissandra dachte an ihre Eltern, an ihr Zuhause, die sie schmerzlich vermissen würde. Peter dachte an die ungewisse Zukunft, an die unbekannten Gefahren und Entbehrungen, die vor ihnen lagen.

Kein Lufthauch regte sich und die wenigen Geräusche, die beiden vernahmen, waren das eintönige Stampfen der Hufe und das leise Knarren des ledernen Sattelzeuges.

Obwohl sie beide der Jahreszeit entsprechend warm angezogen waren, fror Peter fürchterlich, denn er war es nicht gewohnt, lange Zeit draußen im Freien zuzubringen. Doch er wollte sich nichts anmerken lassen, um nicht vor Alissandra als Weichling dazustehen.

So ritten sie denn ohne Eile aber in flottem Tempo gen Süden, wo sie irgendwann nach der Stadt Carlan zu gelangen hofften. Alissandra selber war noch nie dort gewesen, sie kannte nicht einmal jemanden, der jemals dort gewesen war, doch kannte sie die Stadt ungefähr aus den Erzählungen von Handelsleuten und aus den Reiseberichten in den alten Büchern in der Bibliothek des Schlosses.

Gegen Morgengrauen legten sie eine Rast in einem kleinen Wäldchen ein. Sie fanden ein Bächlein, an dem sie sich und die Pferde ein wenig erfrischen konnten.

Peter hätte am liebsten ein Feuer angezündet, um sich aufzuwärmen, aber der Boden war so kalt und feucht, daß sie kein trockenes Holz finden konnten.

Sie kauerten daher am Boden und aßen müde ein bescheidenes Frühstück. Peter war inzwischen bereits alle Abenteuerlust vergangen und er sehnte sich nach einem weichen, behaglichen Bett. Die Tatsache, daß es wenig später sogar zu schneien anfing, trug ein Weiteres zu seiner mißlichen Stimmung bei.

»Gegen Abend werden wir das Dorf Waldstedt erreichen, dort gibt es eine Herberge, wo wir übernachten können«, tröstete ihn Alissandra. Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit und ein gemütliches Bett in einem geheizten Zimmer, hob Peters Stimmung wieder ein wenig.

Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatten, fühlten sie sich bereits weniger durchfroren und müde und ihre alte Abenteuerlust kehrte — wenigsten zu einem Teil — wieder zurück.

Das Schneetreiben wurde gegen Mittag immer dichter und die Flocken größer. Bald begann die Landschaft eine weißliche Farne anzunehmen und gab zusammen mit dem düsteren grauen Himmel ein fahles und trostloses Bild ab.

»Warum mußte ich ausgerechnet im Winter hierher kommen«, fragte sich Peter laut. »In den Abenteuergeschichten ist immer Sommer und die Leute haben keine Probleme mit dem Wetter, außer auf Schiffen, da gibt es immer einen Sturm.« Sie ritten weiter, über Wiesen und Stoppelfelder, vorbei an Bächen und Hecken, die im Sommer einem wunderbaren Platz für ein Picknick abgegeben hätten.

Im Laufe des Tages wurde die Schneedecke dichter und machte das Vorwärtskommen immer beschwerlicher. Am meisten aber machte Peter die Kälte zu schaffen. War er es doch früher gewohnt gewesen, im Winter — wie auch die meiste Zeit des Jahres — zu Hause in der Stube zu sitzen.

Vor Kälte zitternd legten sie ihren Weg zurück, bis sie am Abend gegen Einbruch der Dämmerung endlich den kleinen Flecken Waldstedt ausmachen konnten. Der Anblick dieser zierlichen weißen Häuser mit den schneebedeckten Dächern und den Rauchsäulen, die von manch warmem Feuer gen Himmel stiegen, gab den beiden Reisenden neuen Mut.

Waldstedt war ein winziger Ort der aus kaum dreißig Häusern bestand. Auf den Straßen, oder besser gesagt auf der einzigen Straße — war kein Mensch zu sehen. »Kein Wunder«, bemerkte Peter, »die sitzen alle gemütlich hinterm Ofen.«

Als sie durch das offene Tor der Befestigung — ein kaum Mannshoher Wall zum Schutze gegen Wölfe und wilde Tiere — ritten, bemerkte Peter, daß die Häuser von nahem besehen häßlich, schmutzig und nahezu baufällig wirkten. »Von ferne sah es schöner und verheißungsvoller aus«, sagte er enttäuscht. »Das ist doch egal«, entgegnete Alissandra. »Hoffen wir lieber, daß man uns im Wirtshaus Unterkunft gewährt. Wenn wir nämlich im Freien übernachten müssen, dann wird es sehr ungemütlich werden.«

»Jetzt mal' bloß nicht den Teufel an die Wand«, brummte Peter, dem bei diesem Gedanken ein Schauer über den Rücken lief.

Das Wirtshaus mit dem nicht besonders einladenden Namen »Zum Waldschrat«, befand sich nicht im Dorfe selbst, sondern einige hundert Meter dahinter. Es lag schon halb im Wald, vom Dorf durch ein kleines Gehölz abgetrennt, was ihm den Anschein verlieh, mitten im einsamen Walde zu liegen. Es handelte sich um ein altes zweistöckiges Gebäude mit einem krummen Walmdach. Die Fassade, die vor ewigen Zeiten einmal weiß getüncht gewesen sein mußte, zeigte sich in einem schmutzigen Grau. An vielen Stellen war der Verputz abgebröckelt, so daß man die groben Mauersteine darunter hervorschauen sah. Die Fenster waren alle mit alten, morschen Läden verschlossen, die vielleicht einmal grün gewesen sein konnten, so genau ließ sich das nicht mehr feststellen.

Die Reisenden hielten ihre Pferde vor dem Wirtshaus an und stiegen ab. Die Pferde banden sie vorläufig an ein wackliges Holzgestell, das früher einmal einem ähnlichen Zwecke gedient haben mußte.

Peter blieb unschlüssig vor der schweren Eichentür stehen. »Ich weiß nicht, irgendwie ist es mir hier unheimlich. Das sieht mir nach einer richtigen Räuberhöhle aus.«

»Ach was!« sagte Alissandra bestimmt und versuchte ihre Stimme sicherer klingen zu lassen, als sie es war. »Jetzt, wo wir schon mal hier sind, bleiben wir auch.« Sie drückte die Klinke und stemmte sich gegen die schwere Tür, die mit einem lauten Knirschen nachgab. Peter folgte ihr nach und schloß die Tür rasch gegen die eisige Nachtluft.

Das Innere der von wenigen Talglichtern erleuchteten Schenkstube sah kaum einladender aus, als die Außenseite des Gebäudes — im Gegenteil. Der Raum war schummrig und mit abgestandener Luft erfüllt. Auf der einen Seite befand sich eine Art Theke: ein grobes Brett, das auf zwei Fässern stand; dahinter ein Gestell mit Bechern und Krügen aus Zinn und Steingut und allerhand Gerät. Eine schmale Tür führte in einen Nebenraum — wahrscheinlich die Küche. Auf der anderen Seite des Raumes standen lange Holztische mit Schemeln und Bänken.

Die Wand gegenüber der Tür wurde ganz von einem riesigen Kamin — in dem sich augenblicklich nur noch die Reste eines herabgebrannten Feuers befanden — und einer nicht sehr stabil aussehenden hölzernen Stiege eingenommen, die nach oben in die Gästezimmer führte.

In der Stube befanden sich gerade nur drei Gäste: Männer unbestimmten Alters, die schweigend in einer Ecke saßen, in ein Kartenspiel vertieft. Krüge schäumenden Bieres standen vor ihnen, in der Mitte lag ein Haufen von Kupfer- und Silbermünzen.

Als Peter und Alissandra eintraten, hoben sie kaum den Blick von den Karten. »Guten Abend die Herren«, sagte Peter freundlich, aber keine der Gestalten zeigte die geringste Reaktion. Peter warf Alissandra einen vielsagenden Blick zu. Diese wandte sich ebenfalls an die Fremden und fragte laut: »Ist der Wirt nicht hier?« An Stelle einer Antwort flog die kleine Tür hinter dem Tresen auf und herein trat ein kleiner, dicker, beinahe glatzköpfiger Mann mit einer schmuddeligen weißen Schürze um den Bauch.

»Oh! wir haben Gäste. Welch hoher Besuch beehrt uns zu solch später Stunde? Womit kann ich den Herrschaften zu Diensten sein?« Er hatte an der vornehmen Kleidung der beiden Neuankömmlinge rasch erkannt, daß er hier keine gewöhnlichen Gäste vor sich hatte und versuchte, sie mit gespielter Unterwürfigkeit für sich einzunehmen. Er rieb sich die Hände und zeigte den beiden mit einem verschlagenen Grinsen die Zähne.

»Wir brauchen ein Zimmer für die Nacht und…« sagte Peter, dem dieser Wirt gar nicht geheuer war. »Zwei Zimmer«, sagte Alissandra mit einem Seitenblick auf Peter. Dieser errötete leicht. »Und eine Unterkunft für unsere Pferde«, fügte er rasch hinzu.

»Aber ja doch, gewiß, gewiß. Die jungen Herrschaften erhalten unsere Fürstenzimmer und das Beste, was Küche und Keller zu bieten haben. Wenn Ihr mir bitte folgen wolltet«, sagte der Wirt und rief in Richtung Küche: »Zwei Gänsebraten für die neuen Gäste, aber mit ein bißchen Beeilung.« Er nahm einen der besseren Kerzenleuchter ging voran die Treppe hinauf, die unter dem Gewicht der drei Personen besorgniserregend knarrte.

Die Treppe mündete in einen schmalen düsteren Gang im Obergeschoß, der auf beiden Seiten vier Türen aufwies.

»Bitte sehr, die Zimmer zwei und drei sind unsere schönsten und größten«, sagte der Wirt und stieß die Tür zu einem der Räume auf. Er trat hinein und machte Licht. »Ich werde sogleich dafür sorgen, daß das Mädchen euch Feuer im Kamin anzündet. Ihr werdet sehen, in wenigen Augenblicken wird es behaglich warm sein. Das andere Zimmer ist gleich nebenan…«

»Danke, wir kommen schon allein zurecht. Wäre es möglich, hier auf dem Zimmer zu speisen?« fragte Peter, der den unangenehmen Gesellen endlich loswerden wollte.

»Aber selbstverständlich, die Herrschaften. Ich werde alles zu Ihrer Zufriedenheit veranlassen. Die Herrschaften kommen wohl von weit her?« fragte er und machte dabei keinerlei Anstalten sich zu entfernen. »Man sieht merkt sogleich, daß man es mit bedeutenden Herrschaften von Welt zu tun hat. Ihr seid wohl geschäftlich unterwegs?«

»Jawohl! Und wir sind müde und hungrig und wollen nicht weiter belästigt werden«, sagte Alissandra in scharfem Tone. Der Wirt machte ein beleidigtes Gesicht, faßte sich aber schnell wieder und machte sich mit einem schelmischen Grinsen auf den Weg nach unten.

»Wir danken Ihnen bestens für Ihre Mühe und wünschen eine Gute Nacht«, rief ihm Peter hinterher und schloß die Tür hinter ihm und schob zusätzlich den Riegel vor. »So, den sind wir vorläufig los.«

Alissandra hatte inzwischen die übrigen Kerzen und Lampen angezündet, so daß das Zimmer, das noch empfindlich kalt war in ein warmes lebendiges Licht getaucht wurde, und so wenigstens einen freundlicheren Anstrich bekam. Der Raum maß etwa vier auf drei Meter, hatte zwei kleine Fenster, die beide mit schweren hölzernen Läden vor dem Sturm verschlossen waren. Neben einem schweren altmodischen Bett aus dunklem uraltem Holz, bestand das übrige Mobiliar aus einem kleinen Tisch, zwei ungepolsterten Stühlen und einer kleinen Kommode. Vor dem Bett lag eine bunte geflochtene Matte, die ursprünglich anscheinend einen Teppich darstellen sollte, jetzt aber nur noch aus kümmerlichen mottenzerfressenen Resten bestand.

Alissandra zog die Vorhänge zu und ließ sich auf das Bett fallen. Peter nahm auf einem der Stühle Platz. Sein Rücken und dessen Verlängerung schmerze von dem langen Ritt. Darüber hinaus fühlte er sich steif und verspannt. Für ihn, der an keinerlei körperliche Anstrengung gewohnt war, bedeutete die lange beschwerliche Reise durch Schnee und Kälte eine besondere Belastung. Aber auch Alissandra, die es gewohnt war, Stunden im Sattel zu verbringen spürte ihre Glieder.

»Ich hoffe, daß bald jemand kommt und hier Feuer macht«, sagte Peter mißmutig, »bevor wir hier noch anfrieren.«

»Sei doch nicht so ungeduldig«, sagte Alissandra und streckte sich behaglich auf dem weichen Bett.

»Ich…« Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach ihn. »Und wer steht jetzt auf und öffnet die Tür?«

»Du, natürlich«, sagte Alissandra spitz. »Schließlich bist du ja mein Held und Beschützer, und wer weiß was dort draußen Schröckliches auf uns lauert?«

»Typisch Mädchen…« brummte Peter und ging zur Tür.

Draußen stand ein junges Mädchen — es mochte gut zwei oder drei Jahre jünger als Alissandra sein — mit einem Bund Feuerholz und einem brennenden Span. Seine Kleidung war ärmlich aber sauber. Es trug ein altes, mehrfach geflicktes Kleid aus grobem, dunkelgrauem Tuch. Das flachsblonde Haar war kurz und sah recht zerzaust aus. Aus einem schmalen, blassen Gesichtchen blickten zwei große runde Augen, die in dem tiefsten Blau schimmerten, das Peter je gesehen hatte; ein starker Kontrast gegen die sonst so unauffällige und farblose Gestalt.

»Verzeihung, ich komme um das Feuer anzuzünden«, sagte es mit leiser, etwas heiserer Stimme. »Na, endlich! Es wurde ja auch langsam Zeit. Ich bin schon halb erfroren«, sagte Peter nicht besonders höflich und ließ das Mädchen eintreten. Es trat herein und wollte sich bereits am Kamin zu schaffen machen, als es Alissandra, die sich neugierig auf dem Bette aufgerichtet hatte, erblickte. Erschrocken starrte es erst auf Alissandra und dann auf Peter.

»Ja aber, was ist dir denn? Du siehst ja ganz erschrocken aus«, sagte Alissandra erstaunt. »Ich… dachte nicht, daß Ihr hier seid… ich meine, ich habe Euch zuerst gar nicht gesehen…«

»So beruhige dich doch. Du bist ja ganz aufgeregt. Wie heißt du?«

»Ich heiße Tamina, mein Vater ist der Besitzer der Wirtschaft.«

»Armes Kind…« entfuhr es Peter. Alissandra sah ihn streng an und schüttelte den Kopf. Tamina sah ihn an und schien ihn erst jetzt, da er mit dem Gesicht zum Licht stand, erst recht zu beschauen. Ihr Gesicht nahm einen unglücklichen und bedauernden Ausdruck an. »Ihr solltet nicht hier sein…« Sie schien noch weiter zu sprechen wollen, biß sich aber auf die Lippe und wandte sich rasch von ihm ab und hin zu dem Kamin, wo sie mit wenigen geschickten Handgriffen das Feuerholz aufschichtete und in Brand setzte.

Peter und Alissandra wußten nicht, was sie von dem seltsamen Gebaren des Mädchens halten sollten. Diese Tamina benahm sich in der Tat höchst ungewöhnlich und schien ganz verängstigt. Sie hatte das Kaminfeuer in Gang gebracht und wandte sich eben zur Tür, als sie nach wenigen Schritten zögernd stehen blieb. Dann drehte sie sich plötzlich um trat auf den erstaunten Peter zu und sagte ihm in die Augen blickend: »Oh! ich bitte Euch, Ihr müßt fortgehen von hier. Noch heute Nacht, sofort! Es wäre nicht gut, hier zu bleiben. Es ist sehr gefährlich, ich bitte Euch, gebt auf Euch und die junge Dame acht…« Sie sprach ganz aufgeregt und ihre Augen waren ängstlich weit geöffnet. Kaum hatte sie geendet, drehte sie sich um und lief eilends hinaus. »So warte doch! Was soll das alles bedeuten?« rief Peter ihr hinterher, doch alles, was er zur Antwort bekam war das Karren der Holzstiege unter Taminas eiligen Schritten. Kurz darauf vernahm man von unten undeutliche Stimmen. Eine tiefe Männerstimme rief etwas in großer Aufregung. Dann ertönte ein leiser heller Schrei. Danach war es still, unheimlich still. Peter warf einen besorgten Blick auf Alissandra. Jene saß mit gerunzelter Stirn auf den Bett, die Lippen fest aufeinander gepreßt, eine Mine, die Peter nur allzu gut kannte, und die nichts Gutes verhieß.

Mit einem Male konnte sich keiner von beiden mehr so richtig über das weiche Nachtlager und das warme Essen freuen. Ein Gefühl dumpfer Vorahnung beschlich Peter. Nur allzu gerne würde er diesem ungastlichen Orte sogleich den Rücken kehren, doch das immer heftiger werdende Rütteln und Poltern des Sturmwindes an den Fensterläden machte jeden Gedanken an eine unmittelbare Abreise zunichte.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich heute Nacht hier bei dir bleibe«, sagte er schließlich und hoffte dabei inniglich, nicht die Nacht allein in seiner unheimlichen, dumpfichten Kammer nebenan verbringen zu müssen. Aber auch Alissandra, die noch vor kurzem auf getrennten Zimmern bestanden hatte, schien jetzt nichts mehr dagegen einzuwenden zu haben, daß Peter den Rest der Nacht bei ihr verbrachte. Zu Peter gewandt sagte sie: »Du brauchst nicht etwa zu denken, daß ich mich allein im Dunkeln fürchtete, aber es wäre doch höchst unklug, sich einer zusätzlichen Gefahr auszusetzen und am Ende gar im Schlafe überrascht zu werden.« Peter hatte natürlich größtes Verständnis für ihre Argumente.

»Was glaubst du, hat die Kleine damit gemeint, als sie uns warnte, hier zu bleiben?» Peter wußte darauf auch keine Antwort, außer, daß ihm der Gedanke an den schmierigen Wirt und die finsteren Gesellen in der Schankstube nicht gerade das Gefühl von Sicherheit gäben.

»Es würde mich nicht wundern, wenn ich morgen früh mit einem Messer in der Brust aufwachte«, meinte er lachend. Aber sein Lachen klang nicht besonders komisch, sondern eher gekünstelt und aufgezwungen. Alissandra wollte gerade etwas entsprechendes erwidern, als es an der Tür klopfte.

»Herein!« rief Peter und stand auf. Alissandra tat dasselbe und stellte sich neben ihn. Es war der Wirt, der mit einem Tablett in der Hand grinsend hereintrat. »Wie ein Wolf«, dachte Alissandra, als sie sein Gesicht betrachtete. Er sah aus, als ob er sie beide gleich verschlingen wollte.

»Das Essen für die edlen Herrschaften«, sagte er und stellte das Tablett auf den Tisch, worauf er sich anschickte, den Tisch mit Tellern und Besteck und Bechern aus Zinn zu decken. Das Essen bestand aus einer halben gebratenen Gans, gebackenen Kartoffeln und einem Laib Brot. Zuletzt stellt der Wirt noch einen Krug roten Weines auf den Tisch. »Ich bedauere zutiefst, daß ich den Herrschaften nichts besseres anbieten kann, aber wir sind ein bescheidenes Haus und haben selten solch erlauchte Gäste.« Er beobachtete die beiden scharf aus den Augenwinkeln warf verstohlene Blicke in alle Ecken des Zimmers. »Ihr habt doch vorhin mit Tamina gesprochen, meiner Tochter. Sie hat Euch bestimmt eine Menge Unsinn erzählt und Euch wohl ein wenig verschreckt. Achtet nicht darauf, was sie sagt. Sie ist, das muß ich zu meinem eigenen großen Unglück sagen, schwachsinnig. Sie lebt in einer törichten Traumwelt. Sie hatte als kleines Kind ein Gehirnfieber gehabt. Also laßt Euch nicht beunruhigen, was immer sie Euch erzählt haben mag. Ich habe ihr gesagt, sie soll die Gäste in Ruhe lassen.« Der Ton, in dem er die letzten Worte ausgesprochen hatte, ließ Peter und Alissandra erschauern.

»Ah, ehem, Sind unsere Pferde wohl versorgt?« fragte Peter, der den Wirt so schnell wie möglich loswerden wollte, bevor er noch ins Plaudern geriet und anfinge lästige Fragen zu stellen.

»O! ja, mein Herr«, sagte der Wirt und hatte wieder sein beflissenes Lächeln aufgesetzt. »Sie stehen im Stall neben dem Haus und haben es warm und trocken und bekommen den besten Hafer zu fressen, den es hier in der Gegend gibt.«

»So, na dann ist ja alles in Ordnung. Wir haben eine weite Reise hinter uns und möchten uns nach dem Essen früh zur Ruhe begeben«, sagte Peter. »Und vielen Dank auch für alles. Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Ich wünsche einen guten Appetit.« erwiderte der Wirt, nicht sonderlich begeistert von Peters freundlicher Hinauskomplimentierung und zog sich endlich zurück. Peter verschloß die Tür hinter ihm und schob den Riegel vor. Dann machten sich beide über das Essen her, welches ausgezeichnet schmeckte und ihren Heißhunger stillte. »Das hat sicher die Kleine gekocht«, schmatzte Peter. »Von wegen schwachsinnig, der Kerl hat entschieden etwas zu verbergen.«

Bald war alles aufgegessen. Nur von dem Wein blieb noch etwas übrig, denn er schmeckte recht sauer und sogar ein wenig bitter.

»Ich glaube«, sagte Alissandra nach dem Essen langsam, »wir sitzen hier in der Falle, wie eine Maus. Ich glaube auch nicht, daß das, was der Kerl über das Mädchen gesagt hat wahr ist. Sie wirkte zwar verängstigt und schien etwas durcheinander zu sein, aber verrückt ist sie ganz bestimmt nicht.«

»Ach, das weiß man nie so recht. Die meisten Geisteskranken wirken ganz normal, obwohl sie völlig gestört sind. Das liegt oft an einer gespaltenen Persönlichkeit. Hier könnte vielleicht ein Fall einer paranoiden Schizophrenie vorliegen», meinte Peter.

»Langsam glaube ich, daß hier tatsächlich jemand ein wenig gestört ist.« Alissandra warf Peter einen entsprechenden Blick zu. »Ich frage mich, ob der widerliche Kerl ihr etwas angetan hat. Hast du den Schrei gehört?«

»Ach, es hat doch keinen Sinn, hier unnötig Mutmaßungen anzustellen. Wir können doch eh nichts ändern.«

»Was soll das heißen? Das ist doch wieder einmal typisch. Du kannst doch nicht einfach die Augen verschließen und den Kopf in den Sand stecken, wie der Vogel Greif.«

»Strauß«, korrigierte Peter.

»Was?«

»Man sagt Vogel Strauß. Der Greif ist etwas ganz anderes.«

»Meinetwegen.« Alissandra wurde ein wenig mürrisch.

»Und außerdem können wir uns auch nicht in alles einmischen. Wir müssen erst einmal sehen, wo wir selbst bleiben. Und das heißt in diesem Falle, wie wir hier heil

herauskommen.«

»Oja! Das sieht dir ähnlich«, sagte Alissandra, die langsam in Fahrt kam. »Du denkst doch ohnehin immer nur an deinen Bauch. Was aus anderen wird, ist dir doch völlig egal, Hauptsache du hast es gut.«

»Jetzt reicht es aber. Das ist überhaupt nicht wahr. Aber im Gegensatz zu dir scheine ich etwas mehr Grips zu haben, um zu merken, wenn es darauf ankommt, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Schließlich ist einem das Hemd näher als der Rock, wie das Sprichwort sagt. Morgen in der Frühe, noch bevor es hell wird und die anderen noch schlafen, werden wir uns unauffällig aus dem Staub machen. Der Rest geht uns nichts an.«

»So, das mag vielleicht für dich gelten, ich bestimme selber, wann und wie ich mich aus dem Staube mache.«

»Was soll das heißen? Schließlich bin ich für dich verantwortlich und muß auf dich aufpassen.« Das war zu viel für Alissandra: Rot vor Zorn sprang sie auf und rief: »Ha, ha, daß ich nicht lache! Du und auf mich aufpassen. Das ist ja lächerlich. Du kannst ja nicht einmal auf dich selber aufpassen.«

»Jetzt reicht es mir aber!« rief Peter, der ebenfalls aufgesprungen war und Alissandra zornig fixierte. Alissandra funkelte zornig zurück und erwiderte seinen Blick nicht minder giftig. »Das muß ich mir nicht von einem Mädchen sagen lassen. Für wen hältst du dich überhaupt. Du…«

»Für jemanden, der dir gleich eins auf die Nase gibt, du… du… Fettwanst!«

»Bohnenstange!«

»Besserwisser!«

»Blöde Ziege!«

»Waschlappen!«

»Warte, wenn du kein Mädchen wärest, würde ich dich jetzt Mores lehren.«

»Komm nur, wenn du dich traust. Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen.» Für einen Augenblick schien es, als wollte sich Peter tatsächlich auf Alissandra stürzen. Aber er beherrschte sich. Statt dessen standen sich beide mit roten Köpfen und glühenden Ohren gegenüber und sprühten Blitze grollenden Ärgers hin und her. Schließlich sagte Peter: »Für diesmal lasse ich es genug sein. Der Klügere gibt nach. Ich gehe jetzt ins Bett. Ich brauche meine Ruhe. Solltest du es vor Furcht in deinem Bett nicht mehr aushalten, dann kannst du mich jederzeit rufen.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging zur Tür.

»Da kannst du warten, bis du schwarz wirst. Aber ich würde dir raten, nicht das ganze Haus zusammen zu schreien, wenn du eine kleine Spinne oder einen Käfer siehst.« Peter wurde noch roter als vorher. »Das ist infam. Du… du…« Da ihm kein passendes Schimpfwort einfiel, verließ er wortlos den Raum und warf die Tür krachend ins Schloß. Alissandra setzte sich auf das Bett und wollte gerade wieder etwas zu Atem kommen, als die Tür aufging und Peter vorsichtig seinen Kopf hereinstreckte.

»Was gibt's denn noch?« fragte sie.

»Ahem, hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, daß du besonders hübsch aussiehst, wenn du wütend bist?» fragte Peter grinsend. Alissandra war etwas perplex.

»Nein…«

»Gut, denn es wäre gelogen», gab Peter zurück und schloß die Tür hinter sich, einen Lidschlag bevor mit einem dumpfen Knall das Kopfkissen dagegen flog. Als Peter in seinem Zimmer nebenan angelangt war und die Tür hinter sich verbarrikadiert hatte, war seine Wut schon halb verraucht. Im Kamin glimmte noch ein heruntergebranntes Feuer, das er unter Erzeugung eines gewaltigen Funkenregens wieder etwas anzufachen versuchte. Erschöpft zog er sich aus und legte seine Kleider griffbereit neben das Bett. Das Bett war hart und die Laken rauh, aber verglichen mit den Lagern der vergangenen Nächte war es weich und bequem. Er lag noch eine Weile lang wach und lauschte dem Pfeifen des Windes und dem leisen Knistern des Kaminfeuers, welches den Raum mit tanzendem rotem Lichterglanz erfüllte und dem Raum einen gespenstischen Glanz verlieh. Dann fiel er in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Weder er, noch Alissandra merkten etwas von den dunklen Schatten, die gegen Mitternacht durch das Haus schlichen und lautlos die Treppen heraufkamen und in den leeren Zimmern verschwanden.

Peter erwachte durch ein lautes Hämmern an seiner Zimmertür. Verschlafen blinzelte er nach den Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Halb sechs. »Was ist denn los, mitten in der Nacht«, stöhnte er.

»Das war doch dein eigener Vorschlag, so früh aufzubrechen«, rief Alissandra durch die Tür.

»Ach! Laß mich doch in Ruh'. Ich will noch ein wenig schlafen. Wir können auch noch später reisen. Außerdem stürmt es draußen.«

»Ich halte das nicht länger aus«, murmelte Alissandra leise. »Der Kerl macht mich noch völlig verrückt.« Da sie nun einmal auf war, beschloß sie, nach unten zu gehen und nach dem Wetter und nach den Pferden zu sehen. Im ganzen Haus war es noch stille. Einzig das Heulen des Windes und das Knacken des Gebälks war zu vernehmen. In der Schankstube war aufgeräumt, das heißt, es war weniger schmutzig als am Abend zuvor. Außer einem leinen Öllämpchen brannte kein Licht. Alissandra öffnete die Eingangstür, welche nicht verschlossen war und wurde von einer eisigen Böe zurückgedrängt. Draußen tobte ein dichter Schneesturm. Sich gegen den eiskalten Wind anstemmend, der ihr nadelspitze Eiskristalle ins Gesicht trieb, kämpfte sie sich um das Haus herum zu dem windschiefen Stall, der aussah, als würde er gleich davon geblasen werden. Drinnen glimmte eine rostige Laterne. Alissandra drehte das Licht stärker und sah zu ihrer großen Verwunderung, daß sich acht große rabenschwarze Rappen im Stall befanden, welche sie mit geheimnisvoll leuchtenden Augen ausschauten. Aus einer Ecke erscholl ein leises Wiehern. Es war Wirbelwind, der sie sogleich erkannt hatte. Sie lief zu ihm hin und streichelte seine Nüstern und legte ihre Arme um seinen Hals. »So, so, das ist also der beste Hafer, den es in der Gegend gibt«, murmelte sie verärgert, als sie einen Blick in die Futterkrippe warf, wo ein Rest einer bunten Mischung von verschiedenen spelzigen Getreidekörnern lag, den das Pferd verschmäht hatte. Sie packte einen Arm voll Heu und stopfte es in die Krippen von Wirbelwind und Mondenglanz. »Dieser Wirt bekommt noch 'was zuhören.«

Nachdem sie die Pferde versorgt hatte, begab sie sich wieder zurück ins Haus. In der Nacht mußten also noch weitere Gäste angekommen sein. Wer mochte das wohl sein, fragte sie sich. Sie nahm sich vor, heute ihrerseits den Wirt auszufragen. Sie spürte immer deutlicher, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Ins Haus zurückgekehrt, stellte sie fest, daß inzwischen jemand aufgestanden sein mußte. In der Küche hörte sie das Klappern von Pfannen und Töpfen. Alissandra wollte eben nach oben gehen, als ihr der Gedanke kam, in der Küche nachzusehen. Sollte sie dort den Wirt treffen, dann wollte sie ihm die Meinung sagen, wegen den Pferden. Insgeheim aber hoffte sie, dort nicht den gräßlichen Alten, sondern dessen Tochter Tamina anzutreffen, der sie gerne in Ruhe einige Fragen gestellt hätte. Um so eher, da sie jetzt vielleicht noch einige Minuten ungestört waren, denn die späten Ankömmlinge würden bestimmt noch eine Weile schlafen. Da an ein Weitereisen bei diesem Wetter ohnehin nicht zu denken war, beschloß sie, Peter dort zu lassen, wo er war. Auf ihn konnte sie ohnedies im Augenblick verzichten.

Sie ging also hinter den Schanktresen und stieß vorsichtig die Küchentür auf. Ihre Hoffnung wurde erfüllt: In dem düsteren dumpfen Raum befand sich tatsächlich die kleine Tamina. Sie war damit beschäftigt, das Feuer im Herd anzufachen, Als Alissandra zu ihr hereintrat. »Hallo, Tamina!« sagte Alissandra leise. Die Angesprochene erschrak heftig und ließ den Schürhaken fallen, der mit einem lauten Scheppern auf die Steinfliesen knallte. »Psst!« raunte Alissandra. »Soll denn das ganze Haus aufwachen.«

»Was führt Euch denn zu mir in die Küche?« fragte sie.

»Ach, laß doch die Förmlichkeiten. Ich heiße Alissandra.«

»Und ich bin Tamina.«

»Ich weiß«, erwiderte Alissandra.

»Was machst du denn noch hier. Ich habe euch doch gewarnt. Ihr könnt von Glück sagen, daß ihr noch am Leben seid«, flüsterte Tamina aufgeregt.

»Dein Vater hat uns erzählt, daß…«

»Mein Stiefvater«, verbesserte Tamina.

»Jedenfalls hat er uns erzählt, daß du… äh… ein wenig durcheinander seiest und merkwürdige Geschichten erzählst.« Alissandra war es sichtlich unangenehm dieses Thema anzuschneiden.

»Ja, da sieht ihm ähnlich«, meinte Tamina bitter.

»Also, was ist hier nun wirklich los?« fragte Alissandra ungeduldig.

»Nicht hier, laß uns hinausgehen. Hier haben die Wände Ohren.«

»Hinaus, in den Sturm?«

»Nein, in den Stall.« Leise schlüpfte sie aus dem Hau uns verkrochen sich in eine Ecke des Stalles, wo sie sich auf einen Heuhaufen setzten. »Also«, begann Tamina, das Wirtshaus war früher einmal — als mein lieber Vater noch lebte — ein gemütliches Gasthaus, in dem die Leute gerne einkehrten.« Ihr Gesicht verdüsterte sich und nahm einen schmerzlichen Zug an bei dem Gedanken an die alte Zeit. »Dann aber, nachdem er gestorben war und meine Mutter sich wieder verheiratet hatte, mit diesem Kerl hier — sein Name ist Borg — da begann es abwärts zu gehen. Der Kerl ist faul und begann das Vermögen, das mein Vater mühsam angespart hatte, zu vergeuden. Er saß lieber bei den Zechern am Tisch und trank mit, als daß er etwas gearbeitet hätte. So blieb die ganze Arbeit an meiner armen Mutter hängen uns später bei mir. Schließlich war das Geld aufgebraucht und wir waren hoch verschuldet. Da tauchten zum ersten Mal diese dunklen Gestalten auf. Es sind gemeine Schmuggler und Räuber. Sie leben in den Wäldern und überfallen Wanderer und Kaufleute und rauben sie aus und ermorden sie meuchlings. Sminjan, der Anführer dieser Räuberbande, bei dem Borg die meisten Schulden hatten, überredete ihn, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Für Sminjan war das Wirtshaus ein ideales Versteck und Winterquartier…«

»Ja, und was sagen die Leute im Dorf dazu? Wehrt sich denn niemand gegen sie?« Alissandra war empört.

»Nein, wie sollten sie auch. Die meisten sind im Laufe der Jahre weggezogen — vor allem während den Kämpfen mit den Besatzern des Regenten. Die wenigen, die noch hiergeblieben sind, sind zu alt oder zu schwach, um etwas gegen die Räuber zu unternehmen. Es wurde schon oft versucht, ihnen mit Truppen des Regenten beizukommen, aber sie kennen geheime Schlupfwinkel in den undurchdringlichen Wäldern und sie wußten meist im voraus, wann eine Maßnahme bevorstand. In ihre Verstecke im Wald können sie sich jederzeit zurückziehen und monatelang sicher und unentdeckt leben. Und sobald die Luft rein ist, tauchen sie plötzlich wieder auf, und niemand weiß, woher sie kamen. Sie sind wie Schatten in der Nacht, lautlos, unheimlich, ungreifbar. Gestern Nacht ist ein Trupp von ihnen hier eingetroffen. Gegen Mitternacht standen sie plötzlich in der Tür.«

»Wie viele sind es denn?«

»Acht.«

»Nein, ich meine insgesamt.«

»Das weiß niemand genau; vielleicht zwanzig, oder auch hundert. Ihr seid hier in großer Gefahr, denn ihr seid zu zweit unterwegs und macht einen wohlhabenden Eindruck. Es würde mich nicht wundern, wenn sie euch nächtens in euren Betten überfallen und ausrauben würden.«

»Und dein Vater — ich meine Stiefvater — weiß von alledem und macht mit? Was sagt denn deine Mutter dazu?« fragte Alissandra. Tamina seufzte uns sagte leise: »Sie ist vor einem Jahr gestorben. Sie war lange krank und wir hatten kein Geld für einen Arzt, und schließlich… Und jetzt bleibt die ganze Arbeit an mir hängen. Von früh bis spät steh' ich in der Küche und im Stall.« Sie war sichtlich erregt und sah Alissandra mit einem hilflosen Blick an. »Früher war er ganz anders, aber jetzt. Du hättest ihn gestern Abend erleben sollen, als er gemerkt hat, daß ich mit euch gesprochen habe. Er war furchtbar wütend, wie schon lange nicht mehr.«

»Ich habe es gehört«, sagte Alissandra. »Hat er dich geschlagen?« Tamina nickte und senkte den Kopf auf die Knie, die sie mit beiden Armen umschlungen hielt.

»So ein Schwein!« rief Alissandra wütend. »Am liebsten würde ich ihn hiermit einen Kopf kürzer machen.« Sie zog ihren Degen aus der Scheide und machte eine entsprechende Bewegung mit dem scharfen Stahl. »Warum bist du nicht schon lange weggelaufen?« fragte sie und steckte den Degen wieder ein.

»Weglaufen?« fragte Tamina bitter. »Wohin denn? Womit? Ich bin ganz allein, ich kenne niemanden, hab' auch kein Geld, keine Verwandten. Ich käme niemals heil durch die Wälder. Oh nein, ich habe nicht so viel Glück, wie ihr beiden. Ich werde den Rest meines Lebens hier verbringen müssen, oder ich werde irgendwann die Braut eines Räubers werden, der mich dann mit in den Wald nimmt.«

Erneut verbarg sie das Gesicht in den Händen und versuchte ein leises Schluchzten zu unterdrücken. Beschämt wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

»Hab' keine Angst«, sagte Alissandra voller Mitleid. »Es wird alles gut werden. Du kannst mit uns mitkommen, wenn du willst. Wir nehmen dich mit auf unserer Reise in den Süden.«

»Meinst du das im Ernst? Ist das kein Spaß« In Taminas Augen glomm ein Hoffnungsschimmer auf. »Ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, um dich hier herauszuholen, so wahr ich Alissandra Thaïda von Arkanien bin.«

»Nein!« rief Tamina entsetzt und sprang auf. »Es ist also doch war. Du bist die verschwundene Prinzessin.« Sie blickte Alissandra mit einer Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht an. Alissandra war selbst auch erschrocken. Hatte sich ihr Verschwinden doch so rasch herumgesprochen? Rasch berichtete Tamina, wie sie Sminjan, den Räuberhauptmann und Borg, den Wirt, belauscht hatte. Sminjan hatte von einer verschwundenen Prinzessin namens Alissandra berichtet, die von dem Regenten gegen eine hohe Belohnung überall im Lande gesucht wurde.

»Wie haben die das so schnell herausgefunden?» fragte sie sich. »Wissen die beiden, wer ich bin?«

»Ich glaube nicht, jedenfalls nicht bestimmt, sonst hätten sie schon längst etwas unternommen. Aber wer ist der Junge, mit dem du zusammen bist?«

»Ach der. Peter kommt von weit her und ist auf dem Weg nach Carlan.«

»Was will er denn dort?«

»Erfahren, warum und wie er das Land von dem Tyrannen befreien soll.«

»Was?! Was hat das zu bedeuten?« Tamina glaubte sich verhört zu haben.

»Ach, das ist eine lange Geschichte, die ich dir ein andermal erzählen werde.

»Was wird er dazu sagen, daß ich mit euch gehe? Ich meine, wird er damit einverstanden sein?«

»Das spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist allein, daß ich es wünsche«, sagte Alissandra souverän. Tamina sah sie verwundert an. »Ihr scheint euch ja nicht besonders zu vertragen.«

»Er ist nicht ganz so schlimm, wie er aussieht, aber manchmal geht er mir schrecklich auf die Nerven und dann kann mir schon 'mal der Kragen platzen. Vor allem aber muß man ständig aufpassen, daß er keinen Unfug treibt.«

»Und er soll den Regenten besiegen?« fragte Tamina ungläubig.

»Frag' mich nicht«, gab Alissandra zurück. »Das wird sich mit der Zeit schon klären. Aber ich habe meinem Vater versprochen, bei ihm zu bleiben und…«

Eine rauhe Stimme brüllte über den Hof: »Tamina! Wo zum Teufel steckst du wieder, du Nichtsnutz? Komm sofort her!«

»Das ist Borg. Ich muß gehen. Warte bitte noch einen Augenblick hier. Er soll uns nicht zusammen sehen.« Tamina schüttelte sich das Heu vom Rock und aus den Haaren. Kurz vor dem Tor blieb sie stehen und wandte sich nach Alissandra um. Sie reichte ihr die Hand und sprach: »Danke für alles und daß ihr mir helfen wollt. Du bist der einzige Freund, den ich habe.«

»Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut werden«, meinte Alissandra lächelnd und erwiderte den Händedruck. Tamina schlüpfte leichtfüßig hinaus in den Sturm und schloß das Stalltor sorgfältig hinter sich. Alissandra blieb nachdenklich zurück. Nach einer guten Viertelstunde, die sie damit verbrachte, die übrigen Pferde zu Füttern, schlenderte sie langsam über den Hof, als käme sie gerade von einem kleinen Spaziergang zurück.

Im Haus begegnete sie zuerst dem Wirt, der mit einer hochgewachsenen, dunkelhaarigen Gestalt an einem der Tische saß. Sie konnte das Gesicht des Unbekannten nicht erkennen, denn er saß im Halbdunkel, aber seine aufrechte Haltung und die Art, wie er den Kopf trug, ließ erkennen daß er ein stolzer Mann war, der gewohnt war Befehle zu erteilen und nicht zu erhalten. War das am Ende etwa der berüchtigte Sminjan?

Alissandra murmelte einen kurzen Gruß und zog sich eilig in ihr Zimmer zurück. Während sie die Treppe hinaufstieg konnte sie sich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, daß ihr die beiden stechende Blicke hinterher warfen. Trotzdem überwand sie sich und drehte sich nicht um. Der Fremde, der sie in der Tat aufmerksam gemustert hatte, sprach leise ein paar Worte zu dem Wirt. Dabei zwirbelte er mit der linken Hand eine Spitze seines üppigen Schnurrbartes. Ein winziges, messerscharfes Lächeln umspielte seine Lippen.

Alissandra pochte leise an Peters Tür. Doch dieser gab keine Antwort.

»Ungeheuer. Der Kerl schläft wie ein Murmeltier. Es würde mich nicht wundern, wenn er hier seinen Winterschlaf hält«, murmelte sie halb ergrimmt, halb belustigt. Wenig später erschien Tamina mit einem Frühstück. »Komm hier herein«, sagte Alissandra und zog das Mädchen am Ärmel in ihr Zimmer nebenan. Tamina stellte das Frühstück auf den Tisch. »Rasch!« sagte sie. »Wir haben nicht viel Zeit. Hier nimm das; ihr könnt damit aus dem Fenster klettern, wir treffen uns gegen Zehn im Stall.«

Sie brachte ein Stück Seil zum Vorschein, das sie unter ihrem Rock versteckt hatte. Alissandra war überrascht. »Danke, Tamina. Das hast du großartig gemacht.«

»Macht's gut, ich muß wieder gehen.« Alissandra hielt sie zurück. »Augenblick, weißt du, wie ich den Siebenschläfer da drüben wach kriege?« fragte sie und deutete auf Peters Tür. »Kein Problem«, sagte Tamina und zog ein kleines Stück Draht aus der Tasche. Nach wenigen geschickten Handgriffen schnappte der Riegel zurück, und die Tür ließ sich lautlos öffnen.

»Donnerwetter! Wo hast du denn das gelernt?« Alissandra war verblüfft.

»Du vergißt, daß wir hier in einer Räuberhöhle sind«, meinte Tamina verschmitzt. Leise traten die beiden ein. Peter lag tatsächlich noch zusammengerollt unter der Bettdecke und träumte friedlich. Tamina trat vorsichtig näher und betrachtete den schlafenden Peter. »Er sieht eigentlich ganz niedlich aus, wenn er schläft.«

»Wart's ab, bis er wach ist«, meinte Alissandra nüchtern. »Dann vergeht dieser Eindruck rasch.«

Von unten erscholl eine Stimme, die nach Tamina rief, worauf diese sich beeilte ihrem Herrn Folge zu leisten. Alissandra indes ging zur Kommode. In ihren Augen blitzte es gefährlich. Sie nahm die Wasserkanne in die Hand. Mit einem schadenfrohe Grinsen hielt sie die Kanne über Peters Kopf und goß ihren Inhalt langsam aus. Die Wirkung war enorm und ließ nicht lange auf sich warten. Prustend und gurgelnd schnappte Peter nach Luft und schoß in die Höhe. Mit einem erstickte Schrei riß er die Augen weit auf. »Hilfe, Polizei! Überfall!« schrie er entsetzt und starrte Alissandra mit schreckgeweiteten Augen fassungslos an. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Situation überblickte. »Bist du denn völlig übergeschnappt? Was fällt dir ein? Na warte, dir werd' ich helfen!« rief der Begossene erzürnt und schwang sich aus dem Bett. Aber Alissandra war um einiges flinker und bevor Peter überhaupt richtig auf den Beinen war, machte sie sich auf und davon und war in ihrem Zimmer verschwunden. »Na warte, du«, keuchte Peter atemlos. »Rache ist süß.« Er zog sich an und machte sich auf die Suche nach der Übeltäterin. »Komm mach auf!« sagte er und klopfte an ihre Tür. »Hab keine Angst, ich tue dir nichts. Wo gibt's hier Frühstück?«

»Hier« tönte es von innen und ein Geräusch an der Tür verhieß, daß der Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür ging einen Spalt weit auf, und ehe Peter etwas sagen konnte, fühlte er sich am Ärmel gepackt und in das Innere des Zimmers gezogen. »Setz' dich bitte hier hin und sei einen Augenblick lang still und höre, was ich dir zu sagen habe.« Zwar hatte Peter etwas ganz anderes vorgehabt, aber der Ernst in Alissandras Stimme und ihr besorgter Gesichtsausdruck ließen ihn widerspruchslos gehorchen. Rasch erzählte sie ihm von ihrer Unterredung mit Tamina und daß sie hier Gefahr liefen, entweder entdeckt und ausgeliefert zu werden oder beraubt und vielleicht sogar ermordet zu werden. Atemlos hörte er ihren Bericht an. Sein Blick, der eben noch sehnsüchtig über das auf dem Tisch stehende Frühstück geschweift war, wurde unruhig und ängstlich. »Wir müssen schleunigst von hier weg. Die Kleine nehmen wir selbstverständlich mit.«

»Aber der Sturm scheint nicht nachzulassen, und ich fürchte sogar, daß er noch stärker werden wird«, wandte Alissandra ein. »Das ist mir gleich. Lieber erfriere ich da draußen, als daß ich mich von dem Lumpengesindel im Schlaf ermorden lasse«, erwiderte Peter grimmig. »Hab keine Angst, zusammen werden wir das schon irgendwie schaffen.« Er legte seine Hände auf Alissandras Schultern. Alissandra lächelte sanft und sah ihn mit einem Blick an, von dem es ihm ganz warm ums Herz wurde und, seine Ohren begannen unwillkürlich zu glühen.

»Also«, sagte er und begann sich dem Frühstück zu widmen, »als erstes müssen wir die Kerle mal ablenken und sie in Sicherheit wiegen. Sie wissen, daß wir in diesem Unwetter nicht von hier weg können — sie übrigens auch nicht —, also haben sie keinen Grund zur Eile. Ich werde nachher zum Wirt gehen und ihm sagen, daß wir nicht vor Montag früh abzureisen gedenken und ich werde ihn auch gleich im voraus bezahlen. Das ist zwar eine Riesenverschwendung, aber es dürfte ihn in Sicherheit wiegen, so daß wir heut' Nacht unbehelligt verschwinden können. Ich schlage vor, wir nehmen den Weg nach Süden durch den Wald, und zwar in einer geraden Linie, bis wir zu dem Fluß gelangen.«

»Was ist, wenn wir uns in dem dichten Schneetreiben verlieren?« fragte Alissandra.

»Das wird schon nicht geschehen.«

»Wenn aber doch?«

»Dann treffen wir uns in der Stadt Carlan.«

»Besser, wir treffen uns vor der Stadt, dort soll es einen Ort geben, wo Bienenkörbe stehen. Das fallen wir nicht so auf, wie in der Stadt selbst. Ich hoffe allerdings, daß das nicht nötig sein wird.«

»Bienenkörbe?«

»So steht es jedenfalls auf meiner Karte. Sie sind sogar eingezeichnet.« Sie kramte eine reichlich zerknitterte und vergilbte Landkarte hervor. Interessiert beugte sich Peter vor, um die Karte in Augenschein zu nehmen.«

»Ach du meine Güte! Von Kartographie scheint ihr hier in Arkanien aber nicht viel zu verstehen. Das ist ja alles ganz verschwommen. Die Längen— und Breitengrade fehlen völlig, nicht einmal ein Maßstab ist vorhanden. Da schau her, die Stadt ist viel zu groß im Vergleich zu dem Berg dort. Ich glaube nicht, daß wir uns darauf verlassen können. Das Ding sieht ja so aus, wie die Schatzkarten in Piratenfilmen, völlig unbrauchbar.«

»Ich weiß nicht was du meinst, die Karte ist die neueste und beste, die ich auftreiben konnte.« Peter zuckte mit den Schultern und schnitt sich ein dickes Stück von der Wurst ab. »Magst du auch ein Stück?« fragte er kauend. »Bei dieser Kälte hier muß man für ordentlich Brennstoff sorgen.«

»Na, ich glaube, davon hast du noch reichlich. So wie's aussieht, reichen deine Vorräte noch weit ins nächste Jahr hinein«, bemerkte Alissandra spitz und stupste Peter mit dem Zeigefinger zwischen die Rippen. »Weich wie ein Kissen«, murmelte sie.

»He! Laß das. Ich mag das gar nicht. Besonders, wenn ich am Essen bin. Außerdem erfriere und verhungere ich nicht so schnell, wie du.«

Nach dem Frühstück saßen die beiden untätig herum und starrten sorgenvoll aus dem Fenster, wo der Sturm mit unverminderter Heftigkeit blies. Peter wußte nicht, woran er denken sollte. Er dachte an die Zukunft, die so reich an Gefahren voller unheimlicher Erwartungen vor ihm lag. Obwohl ihm bei dem Gedanken daran, was seiner in diesem Lande an Gefahren und Unannehmlichkeiten noch harren mochte, etwas flau im Magen wurde, wollte er doch in diesem Augenblick mit niemand auf der Welt tauschen. Das Leben, das bis anhin gleichförmig und ereignislos an ihm vorübergezogen war, hatte nun endlich einen Sinn bekommen. Er wußte nicht, ob er sich bewähren würde, aber er erkannte, daß es etwas gab, wofür es sich lohnte zu kämpfen. Und nicht zuletzt war das auch Alissandra. Süße, liebe Alissandra! Er warf ihr einen heimlichen Seitenblick zu. Er konnte es eigentlich noch immer kaum fassen, daß er tatsächlich mit dem schönsten Mädchen, dem er je begegnet war, zusammen sein durfte. Mehr noch, er war ihr Held und Beschützer! Was bedeuteten da noch so große Gefahren, noch so böse Schurken, gegen einen einzigen Blick aus diesen großen, unschuldigen braunen Augen mit den wunderbar langen Wimpern, gegen dieses zauberhafte Lächeln?

Was mochte sie in diesem Augenblick wohl denken, fragte er sich, während sein Blick unter halb geschlossenen Liedern, die Wange auf die Hand gestützt, über ihre anmutige Gestalt glitt. Er wußte, je länger, je mehr würde er ihrem Zauber erliegen und obgleich es ihm nichts ausmachte, für sie gegen Löwen und wilde Tiere zu kämpfen, würde er es kaum je über sich bringen, ihr seine wahren Gefühle zu offenbaren. Es hätte vielleicht auch gar keinen Sinn, dachte er. Er wußte, sie sich nichts aus ihm machte, sondern ihn nur als ein notwendiges Übel betrachtete, als einen Reisegefährten wider Willen.

»Ich werde mich jetzt um den Wirt kümmern«, sagte er unvermittelt. Er durfte sich nicht länger diesen Gedanken hingeben, sonst, so wußte er genau, würde er nur noch schwermütig werden. Er wollte und durfte sich diese kostbaren Augenblicke in ihrer Nähe nicht durch unsinniges Grübeln verderben. Alissandra nickte ihm flüchtig zu und murmelte ein paar Worte der Zustimmung.

Auch sie war in Gedanken versunken. Ihr Herz war schwer. Sie mußte an ihren Bruder denken, der irgendwo in der Ferne einen aussichtslosen Kampf führte, und an ihre Eltern, die allein zu Hause auf sie warteten, erfüllt von Hoffnung und Sorge.

Als Peter in die Gaststube trat, vernahm er dumpfes Stimmengewirr. An den Tischen saßen finstere Gestalten, welche einerseits furchterregend ausschauten und andererseits eines gewissen malerischen Anstriches nicht entbehrten. Bei Peters Eintreten verstummten die Gespräche schlagartig. Trotz aller Anstrengung konnte er ein äußerst mulmiges Gefühl in der Magengegend nicht unterdrücken. Sein aufgezwungenes verlegenes Lächeln schien auch keinen Eindruck auf die Gesellen zu machen. »Tag zusammen!« sagte er aus rauher Kehle. Statt einer Antwort drehten sich die Männer wieder um und wandten sich ihrer früheren Beschäftigung zu.

Hätte Peter sich die Räuberbande länger und genauer angesehen — nichts lag ihm augenblicklich ferner — dann wäre ihm allerdings einer der Männer besonders aufgefallen. Im Gegensatz zu den anderen war er nämlich besser gekleidet und trug einen prächtigen schwarzen Schnurrbart, dessen Enden nach oben gezwirbelt waren. Dieser Mann hatte auch gar kein Interesse an dem Frühstück, obzwar er die größte und reichhaltigste Portion abbekommen hatte. Vielmehr hielt er seinen Blick auf Peter gerichtet und musterte diesen von Kopf bis Fuß.

Peter indessen hatte nach dem Wirt Ausschau gehalten und als er ihn nirgends finden konnte, rief er laut in Richtung Küche nach der Bedienung. Zu seiner Verwunderung trat ihm nicht der Wirt sondern dessen Stieftochter entgegen, welche, bei Tageslicht besehen, alles andere als häßlich war. Als sie Peter so unvermittelt gegenüberstand und in seine Augen blickte, erschrak sie ein wenig. Peter zwinkerte ihr bedeutsam zu, dann sprach er laut: »Wir haben uns entschlossen, hier auf besseres Wetter zu warten und unsere reise erst am Montag fortzusetzen. Was wird das kosten? Ich nehme an, daß sechs Silbertaler genügen werden.« Tamina versicherte ihm, daß die sechs Taler mehr als genug seinen und ließ sich von ihm das Geld auf die Hand zählen. Sie dankte ihm höflich und kehrte in die Küche zurück, wobei sie ihm im Vorübergehen ebenfalls freundlich zuzwinkerte. Mit ein paar höflichen Worten zog sich Peter wieder zurück, froh, den stechenden Blicken in seinem Rücken entronnen zu sein.

Zurück bei Alissandra atmete er auf. »So, da wäre geschafft. Du hättest das sehen sollen, die ganze Räuberbande sitzt da unten versammelt. Eine Atmosphäre ist das, wie in einem Raubtierkäfig.«

»Und?«

»Die Kleine vom Wirt ist übrigens ganz niedlich, ich meine, aus der Nähe besehen.« Der Blick, den er dafür erntete, war vernichtend.

»Das habe ich eigentlich nicht gemeint«, sagte Alissandra mit einem gewissen Ton in der Stimme, der Peter anzeigte, daß es im Augenblick nicht förderlich wäre, dies Thema zu vertiefen.

»Ich weiß nicht, ob sie es geschluckt haben, aber ich bin zuversichtlich«, sagte er munter. Wenig später kam Tamina, um die Reste des Essen abzuholen. »Also, ich glaube, dein Auftritt, Peter, hat sie getäuscht. Sobald alles schläft, so gegen Mitternacht, treffen wir uns alle im Stall. Ihr müßt aber durch das Fenster klettern. Die Treppe würde zuviel Lärm machen, außerdem fürchte ich, daß die Haustür verschlossen sein wird. Es bleibt also nur noch ein Problem zu lösen: wir besitzen leider kein Pferd.«

»Es stehen doch genug davon im Stall. Wir klauen einfach eins« meinte Peter.

»Ich fürchte, damit ist es nicht getan«, erwiderte Tamina verlegen. »Ich kann nämlich gar nicht reiten; jedenfalls nicht besonders.«

»Du steigst einfach bei mir auf, das ist kein Problem. Ich werde dich gut festhalten«, sagte Peter galant und sah Tamina tief in die Augen. Diese senkte beschämt den Blick. Ein roter Schimmer glitt über ihre Wangen. »Ich muß jetzt wider gehen. Also dann, bis heut' Nacht« sagte sie rasch und verschwand nach unten.

»Du machst dich ja mächtig an sie heran«, sagte Alissandra zu Peter gewandt.

»Nun ja…«

»Nachdem es bei mir nicht geklappt hat.«

»Also das ist…«

»Paß bloß auf, daß du dir nicht die Finger verbrennst.«

 »Das klingt ja fast, als wärst du ein wenig eifersüchtig«, stichelte Peter grinsend.

»Unsinn! Das wäre ja gelacht!« rief sie entrüstet, konnte aber nicht verhindern, daß auch sie ein klein wenig rot im Gesicht wurde. »Ich will nur nicht, daß du der Kleinen den Kopf verdrehst und dir dabei noch als großartiger Held vorkommst. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß irgend ein halbwegs vernünftiges Mädchen auf der Welt auf dich hereinfällt, aber man kann ja nie wissen. Ab und zu geschehen ja die merkwürdigsten Dinge.«

»Also da hört sich doch alles auf!« protestierte Peter erzürnt, den die freche Art Alissandras gleichermaßen beeindruckte, wie sie ihm auf die Nerven ging.

»Ich kann dich versichern, meine Absichten sind völlig ehrenhaft.«

»Ach was, ihr denkt doch eh' nur an das eine.« Jetzt war es an Peter rot zu werden.

»So, so. Was kann ich denn dafür, wenn du so prüde und verklemmt bist.«

»Das nimmst du sofort zurück«, rief Alissandra wütend. »Wie käme ich denn dazu? Du tust doch schon die ganze Zeit, die wir beisammen sind so, als wollte ich mich ständig auf dich stürzen.«

»Wer starrt mich denn andauernd an und macht so plumpe Annäherungsversuche?«

»Das bildest du dir wohl ein. Da müßte schon etwas mehr an dir dran sein. Ich müßte ja eine gewaltige Geschmacksverstauchung haben, wenn ich auf dich…« Das war allerdings zuviel für die arme Alissandra. Noch ehe Peter sich recht versah, hatte er von ihr eine schallende Ohrfeige eingefangen. Auf Alissandras Wangen hatten sich vor Zorn und Aufregung rote Flecken gebildet. Am liebsten hätte Peter sie jetzt geküßt, so hübsch sah sie in diesem Augenblick aus. Aber das ging im Augenblick natürlich nicht; außerdem war ihr Peter trotz allem ein wenig böse, insbesondere wegen der Ohrfeige. Alles was ihm übrig blieb, war hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer zu schreiten. Draußen rieb er sich die heiße Wange. »Die kann ganz schön zulangen«, dachte er und zog sich auf sein Zimmer zurück.

Den Rest des Tages verbrachten die beiden getrennt voneinander. Tamina mußte ihnen einzeln das Essen servieren. Sie wunderte sich zwar sehr über den plötzlichen Stimmungswandel der beiden, wagte aber nicht danach zu fragen. Allerdings war sie nun doch neugierig geworden, welcher Art die Beziehung zwischen den beiden sein mochte.

Zwar war Peters Zorn ebenso rasch verraucht, wie er entstanden war — bei Alissandra dauerte das freilich etwas länger — doch wollte keiner seine Dummheit eingestehen und sich als erster für den törichten Streit entschuldigen. So kam es, daß jeder der beiden auf seinem Dickkopf beharrte und den anderen durch stolze Nichtbeachtung zu strafen suchte und sich innerlich ausmalte, wie er dem anderen großmütig verzeihen wollte, wenn er zu Kreuze gekrochen käme.

Auf die Dauer konnte das natürlich nicht so weiter gehen. Schließlich hatte sie eine gefährliche und abenteuerliche Reise vor sich. Doch der Abend rückte immer näher, ohne daß einer der beiden bereit war, auf den anderen zuzugehen.

Hätten die beiden geahnt, was die Zukunft für sie bereithielt, sie hätten sich schleunigst wieder vertragen.

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