XVII. KAPITEL

Verrat

 

Alissandra saß am Fenster am Fenster in ihrem Zimmer im Nordturm. Ihre Blicke schweiften in die Ferne, tasteten den verschwommenen Horizont ab. Nur ihre Gedanken waren noch weiter weg. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, seit sie auf dem Weg nach Callidons Haus mitten Im Walde von den Häschern des Regenten überfallen und verschleppt worden war. Man hatte sie auf direktem Wege in die Hauptstadt geschafft. Dieser Überfall und ihr Transport waren so gut vorbereitet gewesen, hatte so reibungslos funktioniert, daß kein Zweifel bestehen konnte, daß alles von langer Hand geplant gewesen war. Wahrscheinlich hatte man sie schon längere Zeit ausspioniert und dann eine günstige Gelegenheit abgepaßt.

Das Schlimmste aber war, daß dem Regenten nicht nur sie allein in die Hände gefallen war, sondern auch das kostbare Zauberschwert von Peter.

Den Regenten und dessen Sohn Tibor hatte sie in den Tagen ihrer Gefangenschaft nur ein einziges Mal zu Gesichte bekommen; und das reichte ihr auch. Man hatte ihr von der geplanten Hochzeitsfeier erzählt, und sie hatte es schweigend zur Kenntnis genommen. Es war für sie selbstverständlich, daß diese Hochzeit niemals stattfinden würde.

Ihre einzige Sorge galt Peter. Hoffentlich würde er keine Dummheiten begehen und sich in Gefahr begeben. Aber Peter war viel zu klug und umsichtig, um sich unüberlegt in irgendwelche Gefahren zu stürzen, dachte sie. Aber das tröstete sie wenig.

Genau in diesem Augenblick schrillte unten die Alarmglocke los. Alissandra sprang auf die Füße. Sie lief zur Tür und preßte horchend das Ohr ans Holz.

»Bitte laß es nicht Peter sein!« flehte sie und lauschte weiter. Aber von unten war kein anderes Geräusch zu vernehmen, als das langsamer werdende Klingeln der Glocke, welches endlich verstummte.

Seit sie in dem oberen, im Übrigen sehr bequem und elegant eingerichteten, Turmzimmer gefangen gehalten wurde, war sie völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Sie hatte keine Ahnung, was draußen im Lande oder auch nur außerhalb dieses Turmes vor sich ging. Außer den Wächtern und den Dienerinnen, welche sie versorgten, bekam sie nie einen Menschen zu Gesicht; und jene durften kein Wort mit ihr sprechen. Aber abgesehen davon wurde ihr jeder Wunsch erfüllt. Man brachte ihr an Kleidern, Büchern und Speisen, was immer sie begehrte. Aber meistens war es ihr egal, was auf den Tisch kam. Sie aß und trank, um bei Kräften zu bleiben, aber ohne Appetit und verlangen.

Was war dort unten im Treppenhaus geschehen? Wer hatte den Alarm ausgelöst? was es nur eine Übung, um die Aufmerksamkeit ihrer Bewachter zu kontrollieren, oder hatte wirklich jemand versucht, zu ihr durchzudringen? Vielleicht ihr geliebter Peter, der den Bösewichten in die Hände gefallen war? Aber Peter würde doch nicht allein kommen. Er käme mit einem mächtigen Heer, angeführt von Wilo, um die Hauptstadt und den Palast zu erobern.

Das waren ihre Gedanken, als ihr plötzlich das Zauberschwert wieder einfiel. Wie könnte Peter gegen den Regenten kämpfen ohne den Schutz und Beistand des goldenen Schwertes von König Brunnar?

Wenn es ihr doch nur gelänge, einen der Bediensteten auf ihre Seite zu bringen, damit sie wenigstens erführe, was geschehen war. Aber bislang hatte alles Bitten und Flehen nichts gefruchtet, und sogar die Auslobung eines hohen Bestechungsgeldes hatte keinen der Angestellten dazu bringen können, sein Schweigen zu brechen — zu groß war die Angst vor dem Zorn des Regenten, der in diesen Belangen besonders peinlich war. In diesen schlimmen Zeiten, wo das Schwert des Henkers locker saß, wollte niemand seinen Hals riskieren; schon gar nicht, wenn zu Hause eine Schar hungriger Kinder wartete. Alissandra mochte es den Leuten nicht einmal verdenken. Für die einfachen Leute war sie, die Prinzessin von Antal, auch nur irgend eine Adlige, welche von der Gunst des Regenten und auf Kosten der ausgehungerten Bevölkerung lebte.

Ein Rasseln an der Tür ließ sie zusammenfahren. Mit einem raschen Blick auf die Pendeluhr an der Wand vergewisserte sie sich, daß es noch nicht Essenszeit war. Es mußte also etwas mit dem Alarm zu tun haben, wenn zu dieser Stunde jemand zu ihr heraufkam.

Der Besucher war der bärtige junge Mann im Jagdkostüm, welcher niemand anderer war, als Prinz Tibor, der Sohn von Tiras, dem Regenten von Arkanien. Alissandra nahm eine aufrechte Haltung ein und versuchte, mit stolzer Miene möglichst unbeteiligt dreinzuschauen.

Tibor deutete eine höfliche, aber ein wenig spöttische Verbeugung an uns schloß die Tür hinter sich.

»Ich habe eine Neuigkeit für Euch, meine schöne zukünftige Braut, welche Euch bestimmt sehr interessieren wird.«

»Ich bin nicht Eure Braut und ich werde es auch nimmer sein«, gab sie kühl zurück.

»Das wird die Zukunft weisen, meine Liebe«, fuhr Tibor ungerührt fort.

»Ich habt doch sicher die Glocke gehört und Euch gefragt, wer wohl so töricht gewesen sein könnte, uns in die Falle zu gehen. Es wird Euch freuen, zu hören, daß es sich um einen alten Bekannten handelt. Es ist Euer Freund Peter.«

Alissandras Augen weiteten sich und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Aber sie beherrschte sich und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Daher sagte sie einfach in beinahe beiläufigen Tone: »So? Das glaube ich nicht. Ihr müßt ihn mir schon zeigen, bevor ich Euch das abnehme.«

»Oh, Ihr werdet ihn sehen und sogar sprechen können — schon sehr bald. Aber vorher haben wir beide noch etwas zu bereden.«

Alissandra ballte hinter dem Rücken die Hände zu Fäusten. War es wirklich Peter, den sie vorhin geschnappt haben? — Lieber, guter, tapferer, dummer Peter! dachte sie. Jetzt hatte Tibor sie in der Hand, und an seinem Gesicht sah sie, wie er seinen Triumph bereits jetzt auskostete. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, daß Tibor sich irrte, und der unglückliche gefangene nicht ihr Peter war. Immerhin hatte Tibor ihn noch nie zuvor gesehen.

»Zuvor aber will ich Euch noch etwas anderes zeigen, damit Ihr meine Vorschläge später besser beurteilen könnt.« Er reichte Alissandra die Hand, welches sie ignorierte und ihn statt dessen herausfordernd ansah.

Tibor zuckte mit den Achseln und griff nach der Glockenschnur an der Wand. Kurz darauf klopfte es an der Tür und herein traten zwei Offiziere der Leibgarde. Tibor bedeutete ihnen, die Prinzessin zu geleiten. Zu viert stiegen sie hintereinander die Treppe hinab und betraten das Palastgebäude. Tibor führte sie über schier endlose Gänge und unzählige Treppen, bis hinab in das Kellergeschoß. Er nahm eine der Pechfackeln, welche in einer Halterung an der Wand hing und zog einen großen, rostigen Schlüssel aus der Tasche. Damit schloß er eine uralte, schwarze, mit dicken, ebenfalls angerosteten eisernen Beschlägen verstärkte Tür auf.

»Ich darf vorausgehen«, sagte er und hielt die Fackel in die Höhe, damit sie den Weg besser ausleuchtete.

»Vorsicht! Jetzt kommt eine steile Treppe. Gebt auf Euren Rocksaum acht.«

Eine schmutzige, aus groben Steinen gemauerte Treppe führte steil hinab in unheimliche Tiefen. Nach der Feuchtigkeit und Kälte, die ihnen entgegen schlugen, und dem modrigen Geruch zu schließen, mußten sie sich bereits mehrere Meter tief unter der Erde befinden. An den Wänden schimmerte Schimmel und auf dem Fußboden hatten sich glitschige Pfützen gebildet. Alissandra begann zu frösteln.

»Wo führt Ihr mich hin?« fragte sie Tibor, aber noch bevor er ihre Frage beantworten konnte, hatten sie bereits das Ende der Treppe erreicht.

Jetzt konnte Alissandra selber im flackernden Feuerschein der Fackel erkennen, wo sie sich befanden: in der alten Folterkammer des Palastes. An dem Ende des großen unterirdischen Gewölbes konnte sie die Zellen der Unglücklichen sehen, welche vor Zeiten darauf warteten, das gleiche Schicksal zu erleiden, wie jener, dessen Pein sie direkt vor ihren Augen mitverfolgen konnten. Eine weitere schwere Tür mit doppelten Riegeln führte wahrscheinlich in die Verließe hinab, welche sich noch eine Etage tiefer befanden.

»Dieser Raum wurde lange Zeit nicht mehr benutzt«, hub Tibor an und ging durch den weiten Raum, der mit den abscheulichsten Folterwerkzeugen ringsum vollgestellt war. Tibor zündete weitere Fackeln an, welche den Keller in ein gespenstisches Licht tauchten.

»Wie Ihr seht, habe ich die Geräte größtenteils wieder herrichten lassen.«

er ging von einem der Geräte zum nächsten, wie ein Verkäufer, der seine Waren anpreist.

»Dies hier zum Beispiel ist eine Streckbank. Davon habt Ihr bestimmt schon gehört. Und das hier dient dazu, dem Delinquenten die Kniegelenke zu zerquetschen. Dort ist die Esse, wo die Brenneisen und Zangen glühend gemachte werden. Und das da ist eine kleine Auswahl an Peitschen. Aber im Grunde genommen bevorzuge ich die kleineren, aber raffinierteren Apparate. Mit diesem Gerät etwa kann man einem feine Nadeln unter die Fingernägel treiben und…« er brach ab, als er sah, wie Alissandra bleich und schwer atmend an der Wand lehnte.

»Egal, was Ihr mir antut, ich werde Euch niemals heiraten!« preßte sie hervor.

»Aber nicht doch! Ich würde Dir niemals so etwas antun. Für derlei barbarische Methoden bist du viel zu hübsch. Es wäre geradezu ein Verbrechen, diese Schönheit in irgend einer Weise zu beschädigen«, entgegnete Tibor milde.

»Warum habt Ihr mich dann hier hergeführt?«

»Um dich darauf einzustimmen, was wir mit deinem kleinen Freund anstellen werden. Und du wirst dabei zuschauen dürfen. Ich werde sogar einen Sessel für dich bereitstellen lassen.«

Alissandra stand bleich und zitternd da. Ihre Lippen bebten, aber sie brachte keinen Laut darüber.

»Vielleicht fangen wir mit den Daumenschrauben; der Kleine hat so zarte Finger, damit hat er bestimmt noch nie etwas gearbeitet. Dann macht es wohl auch nichts, wenn er sie hinterher auch nicht mehr dazu gebrauchen kann. Oder vielleicht ist die Streckbank doch das bessere Mittel. Da könnte er sogar über sich selber hinauswachsen.«

Alissandra gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich und sank zusammen. Hätte einer der Wächter sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen, so wäre sie auf den schmutzigen Steinboden gefallen.

»Bringt sie wieder hinauf. Sie ist jetzt reif!« befahl Tibor und spielte hämisch grinsend mit der Kurbel der Streckbank.

Als Alissandra die Augen aufschlug, lag sie auf ihrem Bett im Turmzimmer. Tibor saß mit weit von sich gestreckten Füßen in einem Sessel neben dem Bett und wartete geduldig, bis sie sich erhob.

»Ich will jetzt auf der Stelle Peter sehen. — Falls Ihr ihn wirklich festgenommen habt«, fügte sie hinzu. Sie hatte sich jetzt wieder in der Gewalt und schämte sich ein wenig für ihre Schwäche.

»Du wirst ihn gleich sehen und sprechen können, aber ich fürchte, du wirst wenig Freude an dieser Begegnung haben. Ich werde dir jetzt deine Instruktionen geben. Du möchtest doch, daß dein kleiner Freund am Leben und bei guter Gesundheit beleibt, oder?«

Alissandra nickte stumm.

»Gut. Du wirst ihn hier in diesem Zimmer empfangen und ihm folgendes mitteilen: Du willst ihn nicht wiedersehen, da du den Prinzregenten zu heiraten beabsichtigest. Er solle sich fortscheren. Am besten kehre er wieder dorthin zurück, woher er gekommen ist. Du sagst ihm, daß du ihn nicht liebest, ihn nie geliebt habest, und daß alles nur Theater war, usw. …«

»Das wird er mir nie glauben. Schon gar nicht, wenn er sieht, daß Ihr mich dazu zwingt.«

»Ihr beide werdet ganz allein hier drinnen sein. Es gibt keine Wachen, keine Fesseln, keine abgeschlossenen Türen…«

»Ha! Und wie käme ich dann dazu, Eure absurden Bedingungen zu erfüllen?« rief Alissandra und fixierte Tibor mit einem herausfordernden Blick.

»Ganz einfach, meine Liebe. Ich selber werde dort hinter dem Vorhang stehen und alles hören und sehen, was hier geschieht. Wenn die also das Leben und die Gesundheit deines Freundes etwas wert ist, dann wäre es besser, meine Anweisungen peinlich zu befolgen. Du wirst ihn übrigens nicht berühren. Ich dulde kein Anfassen, keine Umarmung, keinen Kuß und kein Geflüster und keine Gesten. Ich habe dich genau im Blick. Wenn ich auch nur den Verdacht habe, daß du mich hintergehst, ist es um ihn geschehen.«

»Warum macht Ihr so etwas? ich kann das nicht tun. Das würde Peter das Herz brechen.« Alissandra rang verzweifelt die Hände und begann wie von Sinnen in dem Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ist es dir lieber, wenn ich ihm das Herz breche? Allerdings geschähe dies mit etwas gröberen Mitteln. — Aber ich will es dir erklären, damit du es besser verstehst und deine Rolle glaubwürdiger spielen wirst. Es wäre ein leichtes für mich, deinen Peter umzubringen, aber das würde am Ende nur einen Helden aus ihm machen — eine Rolle, für die er sich nach meinem Dafürhalten ohnehin nicht eignet.«

Alissandra preßte die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte sie diesem Widerling Bescheid gestoßen, aber sie wußte nur zu gut, daß sie damit Peter nur noch mehr in Gefahr brächte.

Tibor fuhr fort: »Wenn der Kerl dich vergißt und einer Heirat von uns beiden nicht mehr im Wegen steht, dann wird sich alles wieder beruhigen.«

Angenommen, ich täte, was ihr von mir verlangt, was wird dann aus Peter?«

»Wir werden ihn wohl bis zur Hochzeitsfeier als Gast in unserem Palast beherbergen…«

›Kerker‹ meinst du wohl! dachte Alissandra.

»Aber ich verspreche dir, daß ihm kein Haar gekrümmt wird.«

Alissandra fühlte sich schlecht und ihr war ganz flau im Magen. Was man von ihr verlangte, war einfach zu viel für sie. Sie erkannte, was Tibor ihr nicht gesagt hatte, nämlich, daß er darauf spekulierte, daß Peter ohne sie der Mut verließe und daß er in seine Heimat zurückkehrte. Tibor könnte sie dann ungehindert heiraten und sie würde ihren Peter nie mehr wiedersehen. Aber dazu würde es nicht kommen. Wenn Peter wirklich das Amulett zerstörte und in sein Land zurückkehrte, dann würde sie ihm dorthin folgen. Wenn es ihm gelungen war, nach Arkanien zu kommen, dann gab es auch irgend einen Weg in seine Welt; und diesen Weg würde sie finden. Meister Callidon würde ihn bestimmt kennen. Selbst wenn sie für immer dort bleiben müßte, und nie wieder nach Arkanien zurückkehren könnte, würde sie nicht Zögern, ihrem Geliebten zu folgen. Wenn Peter in Sicherheit wäre, dann hätte Tibor kein Druckmittel mehr gegen sie in der Hand; dann gäbe es keine Hochzeit mehr. Sobald die große Schlacht geschlagen und Arkanien befreit wäre, würde sie ihrem Peter folgen.

»Wenn du etwas Zeit brauchst, um über meinen Vorschlag nachzudenken, dann…«

»Das wird nicht nötig sein«, schnitt sie ihm das Wort ab.

»Ich will ihn sofort sehen, dann habe ich es hinter mir. — Schwört mir aber, daß Ihr ihm nichts antun werdet. Wenn ihm ein Leid geschieht, dann bringe ich Euch um«, sagte sie und man konnte es ihr ansehen, daß sie es todernst meinte.

Tibor nickte und griff nach der Klingelschnur. Dem Wächter, der kurz darauf erschien, flüsterte er einige kurze Anweisungen ins Ohr. Der Offizier nickte stumm, salutierte und ging hinaus.

»Ihr wißt also, was Ihr zu tun habt, Prinzessin!« sagte Tibor und begab sich in sein Versteck.

Alissandra ging zum Tisch. Mit zitternden Händen schenkte sie sich ein Glas Wasser aus einer Kristallkaraffe ein. Sie leerte das Glas in einem Zug. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Hätte sie die Kraft, das zu tun, was von ihr verlangt wurde? Sie mußte ihren Freunde, ihren Geliebten verraten — schlimmer, sie mußte ihn demütigen. Das würde Peter nie überwinden.

Einen Augenblick lang dachte sie daran, ob es nicht besser wäre, gemeinsam mit ihm zu sterben. Aber das würde Tibor nicht zulassen. Er würde Peter langsam zu Tode quälen, und sie müßte hilflos dabei zuschauen, in der Gewißheit, den Peiniger ihres Geliebten später als ihren Gatten zu kennen.

So weit durfte es nicht kommen. Peter mußte leben, um jeden Preis. Außerdem bestand immer noch die Hoffnung, daß Wilo rechtzeitig ein Heer aufstellen könnte, um gegen den Regenten anzutreten, noch bevor die Hochzeit stattfände.

Das waren die einzigen Gedanken, welche sie in ihrem Kummer und in ihrer Verzweiflung ein wenig aufrichteten.

Alissandras Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte schier endlos lange, bis es endlich zaghaft an der Tür pochte.

»Spiele deine Rolle gut!« mahnte Tibor leise hinter dem Vorhang hervor.

»Herein!« rief Alissandra mit brüchiger Stimme.

Langsam, ganz langsam, tat sich die Tür auf. Herein trat Peter, der, als er Alissandras ansichtig ward, sogleich auf sie zustürzte. Der freudig-erregte Ausdruck auf Peters Gesicht, als er sie erkannte und sah, daß sie wohlauf war, gab ihr einen Stich ins Herz.

›Es tut mir leid, Peter. Du mußt mir verzeihen, aber es geschieht zu deinem Besten‹, dachte sie.

Als Peter Anstalten machte, sie heftig zu umarmen und zu küssen, wehrte sie ihn ab und stieß ihn grob zurück.

Peter stutzte, das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.

»Alissandra! Was ist los? Freust du dich nicht, mich zu sehen? Sie haben mich vorhin geschnappt, aber ich bin ihnen gerade eben wieder entwischt. Die haben sich wie Idioten angestellt. — Oh, Lisa! Du siehst einfach großartig aus in diesem Kleid. Ich hoffe, sie behandeln dich anständig.« Er drehte sich um, ging zur Tür und spähte kurz hinaus. Dann kehrte er wieder zu ihr zurück.

»Die suchen mich irgendwo im Palast. Wir müssen von hier verschwinden, bevor die auf die Idee kommen, hier nachzusehen.«

Alissandra stand wie angewurzelt da. Schließlich holte sie tief Luft und begann schnell zu sprechen.

»Ich werde nicht mitkommen.«

»Wie bitte? was redest du da?« Peter schaute sie verdutzt an. Was war geschehen? Was hatten sie mit Alissandra angestellt?

»Ich muß mir dir reden, Peter.«

»Ja, natürlich. Ich verstehe, daß du viel zu berichten hast. Aber wir müssen hier weg, solange noch Zeit dazu ist.«

»Ich sagte, daß ich nicht mit dir kommen werde, Peter. Ich werde hier bleiben. Wie du weißt, will der Prinzregent mich heiraten und ich — ich habe mich dazu entschlossen, in die Hochzeit einzuwilligen.«

Peter starrte sie mit offenem Mund an.

»Alissandra! das ist jetzt nicht die Zeit für solche Scherze.« Als er sah, daß ihr Gesicht ernst und gefaßt war, stockte er.

»Um Himmels Willen! Was haben sie mit dir angestellt? Haben sie dir eine Gehirnwäsche verpaßt, oder stehst du unter Drogen?«

»Laß diesen Unsinn, Peter! Ich habe es mir gründlich überlegt. In den vergangenen Tagen hatte ich genügend Zeit dazu.«

»Aber ich… — ich dachte, wir liebten uns…«

Alissandra lachte — laut und schallend.

»Ach du Dummer! Das war doch nicht ernst gemeint!«

Diese Worte verletzten ihn, aber noch viel, viel schmerzvoller war ihr Lachen. Es war, als drängen glühende Pfeilspitzen durch seine Ohren ein, suchten sich ihren Weg durch seinen Leib und bohrten sie mit Gewalt in sein Herz. Er konnte es beinahe körperlich fühlen.

Nein! Dies hier war nicht seine Alissandra. Er vernahm ihre Worte wohl und sah den Ausdruck in ihren Augen, allein er mochte einfach nicht glauben, wie ihm hier geschah. Gleichgültig, was man mit ihr angestellt hatte, oder welche Beweggründe hinter ihrem rätselhaften und verletzenden Verhalten standen, das alles würde er später ergründen, wenn er sie in Sicherheit gebracht hätte.

»Alissandra! Ich weiß, daß du nicht meinst, was du sagst. Ich werde dich von hier wegbringen, ob du willst oder nicht. Gemeinsam werden wir dich wieder zur Besinnung bringen.«

Er ergriff ihren Arm und wollte sie zu sich heran ziehen. Alissandra machte ein entsetztes Gesicht und stieß einen leisen Schreckensschrei aus.

»Nein, Peter! Nicht! es tut mir leid, aber du läßt mir keine Wahl.« Sie entwand sich heftig seinem Griff und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

Eigentlich war es kein richtiger Schlag, vielmehr ein leichter Klaps. Aber Peter traf er wie ein Zentnergewicht. Fassungslos taumelte er ein, zwei Schritte zurück und starrte sie an. Aber noch bevor er irgend etwas hätte sagen oder tun können, stürzte Alissandra zur Wand  und riß heftig an der Klingelschnur. Gleichzeitig rief sie laut nach der Wache.

Schwere Stiefel polterten die Treppe herauf und nur einen Augenblick später stürzte ein Trupp Wärter mit blanken Schwertern herein.

»Führt diesen Eindringling weg. Ich will ihn nicht mehr sehen!« rief sie und wandte sich abrupt ab. Ihre Finger krallten sich in den weichen Stoff ihres Kleides. Sie wagte es nicht, Peter noch einmal anzusehen.

Die Wächter umringten Peter, der sich widerstandslos von ihnen abführen ließ. Er fühlte sich wie betäubt und schritt beinahe wie in Trance die Stufen hinab.

Alissandra stand mit gesenktem Kopf unbeweglich im Zimmer. Sie mußte sich an einer Stuhllehne festhalten. Ihr Atem ging stoßweise. Zu ihren Füßen netzten winzige Tropfen die Steinfliesen.

Der Vorhang, der den kleinen Nebenraum abtrennte, teilte sich und Tibor kam hervor. Um seine Mundwinkel spielte ein feines, rasiermesserscharfes Lächeln. Wie sehr genoß er diesen Augenblick!

»Du hast dich selber übertroffen, Alissandra. Keine noch so begabte Schauspielerin hätte es besser machen können. — Unserer Hochzeit in zwei Wochen steht jetzt nichts mehr im Wege.« Er lachte laut und roh.

»Und um die Sache perfekt zu machen, erlaube, daß ich mir schon einmal einen kleinen Vorgeschmack nehme.« Er trat vor sie hin, ergriff ihr Kinn mit der einen Hand und zog sie mit der Anderen dicht an sich heran. Dann stahl er sich einen Kuß von ihren bebenden Lippen.

»Hhm! Nicht schlecht für den Anfang. Aber das muß noch viel besser werden«, meinte er und verließ lachend das Zimmer.

Alissandra blieb allein zurück. Ein unüberwindlicher Ekel begann sie zu schütteln. Sie hatte einfach keine Kraft mehr gehabt, sich zu wehren.

Mit einem halb erstickten Schluchzen warf sie sich auf das Bett und zerwühlte die Kissen und Laken mit beiden Händen.

Früher hatte sie sich immer mehr oder weniger beherrscht, wenn sie sich verletzt oder unglücklich gefühlt hatte, jetzt aber unternahm sie nicht einmal den Versuch, irgend etwas zurück zu halten.

Sie weinte lange und heftig, bis ihr übel wurde und sie sich vor Schmerz den Bauch halten mußte. Irgendwann, spät in der Nacht, versiegten ihre Tränen endlich, und sie schlief vor Erschöpfung ein.

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