Falle
Tamina
fand ihn in seinem Schlafzimmer. Peter war dabei, sein Bündel zu schnüren.
»Peter!
Überstürze nichts. Wo willst du hin?« Er wandte sich um. Sein Gesicht war
deutlich gerötet, seine Augen waren rot und glänzten feucht.
»Ich
werde Alissandra aus den Klauen dieses Scheusals befreien. Wilo kann nicht genug
Soldaten auftreiben, um den Palast zu stürmen. Also muß ich es mit List
versuchen. Allein kann ich mich in den Palast einschleichen. Du weißt doch
noch, wie wir überlegt hatten, wie man das Zauber-Szepter stehlen könnte.«
»Ja,
Peter. Aber dazu gehören zwei. Wenn du nach Tirania gehst, dann will ich
mitkommen. — Nein, keine Widerrede!« Sie legte ihm den Zeigefinger auf die
Lippen.
»Ich
weiß, wie gefährlich das wird; und daß sie uns töten werden, falls wir
erwischt werden. Aber Alissandra ist meine Freundin, und wenn ich sie jetzt im
Stich lasse, dann habe ich ihre Freundschaft nicht verdient. Kannst du das
verstehen?«
»Ja,
Tamina. Du hast recht. Für ein Mädchen bist die ein Pfundskerl.« Er drückte
sie fest an sie und sprach dann erregt: »Wir dürfen Wilo nichts von unserem
Plan erzählen. Er würde nur versuchen, uns aufzuhalten. Ich werde ihm eine
Nachricht zurücklassen. Während wir nach Tirania gehen, soll er in den Norden
reisen und dort die Rebellen mobilisieren. Schlägt unser Plan fehl, dann kann
er immer noch versuchen, die Hauptstadt mit Gewalt einzunehmen, oder Tiras
zumindest zu Verhandlungen zu bewegen.«
»Wann
soll es losgehen?«
»Ich
muß noch ein paar Sachen besorgen gehen. In zwei Stunden treffen wir uns hier.
Ich weiß auch, wie wir unbemerkt aus dem Palast fortkommen«, sagte Peter.
Tamina nickte und ging, ihre Sachen zu packen.
Peter
setzte sich an den kleinen Tisch am Fenster und schrieb eilig einen Brief für
Wilo. Er versuchte, ihm die Gründe für ihr heimliches Vorgehen darzulegen, und
er war fest davon überzeugt, daß Wilo ihn verstehen würde, auch wenn er
Peters überstürztes und waghalsiges Vorhaben nicht billigen würde.
Er
versiegelte den Brief und händigte ihn einem der Lakaien mit dem Auftrag, ihn
erst in vier Stunden Wilo zu übergeben, aus.
Tamina
brauchte nicht lange, um Ihre Reisesachen zu packen. Sie traf daher lange vor
der verabredeten Zeit bei Peter ein.
»Wie
wollen wir in die Hauptstadt gelangen? Es sind immerhin einige hundert Meilen«,
sagte sie.
»Ich
habe einen Wagen bestellt, der uns bis zum Fluß bringen wird. Dort wird ein
Boot auf uns warten, das uns direkt flußabwärts bis nach Tirania trägt.«
Peter
führte Tamina in sein Schlafzimmer. Dort befand sich unter anderem ein großer,
schwerer Eichenschrank. Peter zog die Tür auf und drückte gegen die dunkel
gebeizte Rückwand. Sie gab fast geräuschlos nach und eine dunkle, knapp
mannshohe Öffnung wurde sichtbar.
»Ein
geheimer Gang?«
»Ja.
Der alte Statthalter hat an alles gedacht; auch daran, daß er eines Tages
vielleicht unbemerkt verschwinden müßte. Jetzt kommt dieser Umstand uns zu
gute. Der Gang führt bis vor die Mauern des Palastes und endet in einem kleinen
Schuppen, wo Werkzeug und allerlei altes Gerümpel aufbewahrt wird. — Was
sagst du übrigens zu meiner Verkleidung? Schaue ich nicht wie ein wandernder
Handwerksgeselle aus?«
»Naja.
Irgendwie schon. Aber die Sachen sind viel zu neu und sauber. Und dieser pralle
Geldbeutel und das edle Messer im Gürtel passen nicht dazu.«
Peter
sah an sich herab.
»Du
hast recht. Ich will die Sachen lieber in das Bündel einschnüren Und bis wir
dort sind, kann ich mich noch ein paar Mal im Dreck wälzen.«
Er
gab Tamina eine kleine Öllampe aus Terracotta und ließ sie voraus in den Gang
einsteigen. Er selber schob einige Mäntel und Kleidungsstücke zurecht, zog die
Schranktür von innen zu und klappte die Rückwand wieder an ihren Platz zurück.
Der
Gang war sehr schmal und führte auf schmalen, hohen Stufen steil bergab. Die Wände
wurden dunkler und feuchter, ein erdiger, modriger Geruch schlug ihnen entgegen.
Sie mußten sich jetzt unter der erde befinden. Der Gang wurde endlich breiter,
aber dafür viel niedriger. An manchen Stellen mußten sie die Köpfe einziehen,
um nicht gegen locker gewordene, herabhängende Steine und Wurzeln zu stoßen.
Der Gang war augenscheinlich sehr alt und seit langem nicht mehr ausgebessert
worden.
Peter
und Tamina gingen sehr vorsichtig vorwärts, wobei sie sorgsam darauf achteten,
nicht gegen die Decke zu stoßen, oder einen der lockeren Steine zu berühren,
um nicht einen Einsturz zu riskieren. Sie marschierte etwa eine halbe Stunde im
Gänsemarsch durch den unterirdischen Gang, bis der Weg abrupt endete. Vor ihnen
ragte einzelne eiserne Sprossen aus dem Mauerwerk hervor.
Peter
nahm Taminas Sachen an sich, damit sie wenigstens eine Hand zum Klettern frei
hatte. Es war gar nicht so einfach, im Halbdunkeln die weit voneinander
liegenden Sprossen zu finden, von denen einige stark angerostet waren und nicht
gerade sehr zuverlässig ausschauten. Die Sprossen führten in einen engen,
kreisrunden Schacht, ungefähr vier bis fünf Meter in die Höhe.
»Was
siehst du?« fragte Peter, als Tamina plötzlich stehen blieb und ihm beinahe
auf die Finger getreten wäre.
»Da
ist so etwas wie eine Falltüre. Ich kann sie aber nicht hochdrücken«, flüsterte
sie keuchend.
Peter
zwängte sich neben sie in den Schacht. Gemeinsam stemmten sie sich gegen das
morsche Holz. Staub und Holzmehl rieselte durch die Ritzen der Bretter auf sie
herab. Tamina mußte husten und Peter kniff die Augen zu.
»Hoffentlich
halten das die Sprossen aus. Sonst geht’s mit uns rapide abwärts«, stöhnte
Peter. Die Holzplatte hob sich um einige Zentimeter. Es gab ein Rumpeln und
Scheppern und der schwere Druck auf die Luke ließ sogleich nach. Endlich gelang
es ihnen, die Tür aufzustoßen.
»Kein
Wunder, daß das Ding so schwer aufging. Jemand hat das ganze schwere Werkzeug
und die Schaufeln darauf abgestellt«, sagte Peter und deutete auf einen Haufen
durcheinanderliegender Schaufeln, Hacken und Spaten.
»Hoffentlich
hat niemand den Lärm gehört und kommt nachsehen«, meinte Tamina und blies das
stark rußende Flämmchen der Lampe aus.
»Machen
wir, daß wir hier wegkommen«, meinte Peter und spähte durch den Türschlitz.
»Die
Luft ist rein. Komm!«
Sie
gelangten ohne Schwierigkeiten bis vor das westliche Stadttor. Dort stand in
einiger Entfernung ein offener Lastwagen, vor den zwei schwere Kaltblüter
gespannt waren. Peter sprach den Kutscher an und half Taminen beim aufsteigen.
Der Fahrer ließ die Peitsche knallen, und auf ging es in flottem Trab.
Nach
gut anderthalb Stunden Fahrt auf der Landstraße kam zwischen den Bäumen auf
dem Uferdamm endlich der Fluß in Sicht. Zu dieser Jahreszeit führte er viel
Wasser. Eine braune Flutwelle schoß in mächtiger Eile durch das von zwei hohen
Uferdämmen geschützte Bett. Das Rauschen des Stromes war so laut, daß man kam
ein Wort verstand, das am Ufer gesprochen wurde.
»Sollen
wir etwa bei diesem Hochwasser auf den Fluß?« fragte Tamina, der der Schrecken
vom Gesicht abzulesen war. Auch Peter sah alles andere als zuversichtlich aus,
als der Wagen dicht am Wasser, nahe einem halb überfluteten Anlegesteg zum
Stehen kam.
Peter
drückte dem Kutscher einige Münzen in die Hand. Dieser bedankte sich, lüftete
kurz seine zerknautschte Tuchmütze und setzte sich mitsamt seinem Gefährt
wieder in Bewegung.
Peter
und Tamina standen vor dem verwaisten Bootssteg und kamen sich recht einsam vor,
denn weit und breit war keine Menschenseele auszumachen, geschweige denn ein
Boot oder Flußschiff.
»Und
was nun?«
»Tamina,
ich weiß es auch nicht. Der Kerl, den mein Geld genommen hat, hat versprochen,
daß er und hier mit seinem Boot erwarten würde. Aber so wie es aussieht, bin
ich übers Ohr gehauen worden.«
»Ich
glaube auch nicht, daß bei dem Hochwasser der Fluß überhaupt befahrbar ist«,
meinte Tamina und sah den von Schlamm und Erde trüben Wassermassen nach.
»Mit
einem Dampfschiff schon. Aber so etwas gibt es ja leider nicht, hierzulande.«
»Dann
gehen wir eben zu Fuß«, sagte Tamina entschlossen und schulterte ihren
Reisesack.
»Komm!
Wir gehen am Fluß entlang. Das ist der kürzeste Weg. Vielleicht finden wir ja
doch noch ein Schiff, das uns mitnimmt, oder einen Wagen, auf dem wir ein Stück
mitfahren können.«
Ein
Schiff fanden sie nicht, denn das Hochwasser hielt die ganze Woche über an und
ließ keine Schiffahrt zu, aber hin und wieder trafen sie auf einen freundlichen
Bauern, der sie auf seinem Leiterwagen mitfahren ließ, so daß sie nicht die
ganze Strecke über zu marschieren brauchten. Trotzdem dauerte die beschwerliche
Reise vier lange Tage, während denen sie aber vom Glück begünstigt, allen Fährnissen
zum Trotz, unbehelligt blieben.
Am
Ende waren die beiden völlig erschöpft, die Füße taten ihnen weh — vor
allem Peter, der lange Fußmärsche nicht gewohnt war und während der Reise
bestimmt hundertmal geschworen hatte, daß er, falls er jemals König werden
sollte, sofort eine Eisenbahnlinie bauen lasse wollte — und sie wünschten
sich bei ihrer Ankunft in Tirania nur noch eines: ein weiches Bett zum Schlafen.
Immerhin
hatten sie das Glück noch vor der Sperrstunde die Stadttore zu passieren. Von
Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang nämlich blieben die Stadttore Tiranias —
wie auch der meisten anderen befestigten Städte in Arkanien — fest
verschlossen. Wer zu spät kam, der mußte draußen bleiben und konnte nur noch
hoffen, in einer der Herbergen vor der Stadt Unterkunft zu finden — falls er
genügend Geld besaß, denn die Herbergen in dieser Gegend waren nicht gerade
die billigsten. Wer über viel Geld verfügte, der schmierte die Wachen. Hatte er Glück, dann
gelangte er an einen Wächter, der sich nicht scheute für ein kleines Zubrot
Kopf und Kragen zu riskieren, wenn er jedoch an einen der überaus
pflichtgetreuen Stadtwächter gelangte, dann konnte es leicht geschehen, daß er
hinter den Toren nächtigen konnte — allerdings hinter den Toren des Stadtgefängnisses.
Mit
diesen Umtrieben aber war es seit einigen Wochen ohnehin vorbei, seit der Regent
strenge Kontrollen und doppelte Wachen angeordnet hatte. Und da in der letzten
Zeit dem Henker die Axt recht locker saß, überlegte sich jeder, wieviel ihm
sein Kopf wert war.
In
der Hauptstadt herrschte eine sehr angespannte, um nicht zu sagen explosive
Stimmung. Der Regent hatte das Stadtkommando und die umliegenden Garnisonen in
erhöhte Alarmbereitschaft versetzen lassen. Überall patrouillierten
Stadtknechte, Armeesoldaten und Kürassiere in den Straßen. Auf allen Plätzen
und Märkte wurden strenge Kontrollen durchgeführt. In den Gasthäusern und
Herbergen wurden die Namen der Gäste und der Grund ihres Besuches erfragt und
aufgeschrieben.
Zu
allem Überdruß machte ein Gerücht die Runde, daß der Regent zwanzigtausend
Soldaten aus den Provinzen zusätzlich zum Schutze in die Hauptstadt
abkommandiert habe, welche in den kommenden Tagen eintreffen sollten.
Diese
Nachricht löste unter der Bevölkerung eine erhebliche Unruhe und Spannungen
aus. Bereits jetzt waren die Lebensmittel knapp und die Preise stiegen fast täglich.
Wie sollten die zusätzlichen Truppen versorgt werden, ohne die Bevölkerung
weiter zu drangsalieren? Hinzu kamen die lästigen Personenkontrollen und
Razzien, was gelegentlich zu Übergriffen der einen und der anderen Seite führte.
Es
war nicht schwer, ein Bett in einer der zahlreichen Herbergen im Osten der Stadt
zu finden. Unter diesen Verhältnissen waren nur wenige Fremde in die Stadt
gefahren, deren Geschäfte unaufschiebbar waren und die auch keine Möglichkeit
hatte, eine private Unterkunft zu finden.
Peter
gab sich als Handwerksgeselle aus, der mit seiner Schwester vom Lande kam, um in
der Stadt Arbeit zu suchen. Der Wirt stellte keine Fragen, wollte aber das Geld
im Voraus haben.
Peter
beschloß, am frühen Morgen, sich nach dem Herrscherpalaste zu begeben, um dort
nach Arbeit zu fragen und bei dieser Gelegenheit die Örtlichkeiten zu
rekognoszieren. Wenn sie nicht auf legalem Wege hinein gelangen sollten, dann
blieb ihm immer noch die Möglichkeit, die Wachen zu bestechen. Zu diesem Zwecke
führte er so viel Geld mit sich, daß er die ganze Herberge samt Inventar
kaufen könnte. Trotzdem hatte er nach dem billigsten Zimmer gefragt, um seine
Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Und in der Tat bekam er auch eine enge,
handtuchschmale Rumpelkammer mit einem winzigen Fensterchen zur Straße hin,
zugeteilt — allerdings zum Preis eines fürstlichen Logis.
Trotz
des nervtötenden Lärmes der Pferdehufe und eisernen Wagenreifen auf dem
Kopfsteinpflaster vor Peters Fenster, schlief er sogleich ein und wachte erst spät
am nächsten Morgen auf, als er durch ein lautstarkes Poltern und Trampeln vor
seiner Tür geweckt wurde. Anscheinend kamen gerade neue Gäste an, welche sich
nicht besonders rücksichtsvoll benahmen.
Das
Frühstück war ziemlich mager und wenig appetitanregend. Zwar hätten sie um
ein entsprechendes Entgelt durchaus etwas besseres bekommen können, aber das hätte
sich nicht für zwei junge Dienstleute, für die sie sich ausgaben, geziemt.
Doch Peter tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie sich später auf dem Markt
immer noch anständig verköstigen könnten. Außerdem waren er und Tamina so
gespannt, was sie im Palast erwarten würde, daß sie ohnehin keinen besonderen
Hunger verspürten.
Peters
Gedanken weilten ganz bei seiner geliebten Alissandra. Wie wurde sie behandelt?
Wäre sie sehr streng bewacht? Wie könnte er die Wachen überwinden?
Die
Hauptstadt Tirania, benannt nach Tiras dem Älteren, dem Vater des Regenten, hieß
ursprünglich Kallomina, was in der Sprache der Alten soviel wie ,große
Silberstadt‘ bedeutete. Später wurde sie nach König Brunnar dem Starken
Brunnarig genannt. Zu jener Zeit aber war sie noch keineswegs Hauptstadt,
sondern eine noch viel kleinere, geruhsamere, aber aufstrebende Handelsstadt am
Großen Fluß. Augenblicklich schätzte man ihre Bevölkerung auf etwa
einhundertfünfzig- bis zweihunderttausend Seelen. In den vergangenen Monaten
waren aber noch rund zwanzigtausend Soldaten hinzugekommen, welche teils in der
Stadt selber, teils in den umliegenden Garnisonen stationiert waren. Die Straßen
quollen daher schier über vor Menschen. Man hatte den Eindruck, ein jeder, der
laufen konnte, befände sich auf den Beinen. Tirania war bestand aus einer
ziemlich engen und verwinkelten Altstadt und aus einer vor ungefähr fünfzig
Jahren rasch angebauten Neustadt, welche sich hinter dem Palastbezirk erstreckte
und vor allem den innert kurzer Zeit zu Wohlstand und Ansehen gelangten
Kaufleuten und hohen Beamten eine sichere und luxuriöse Wohnstatt bot.
Die
Stadt selber lag am linken Flußufer, war aber mit dem rechten durch eine
ziemlich breite und sehr stabile Holzbrücke verbunden. Auf dem rechten Ufer
befand sich die alte Festung Hohenau, eine Garnison von etwa fünftausend
Soldaten und etwa halb so vielen Zivilisten. Dort befand sich auch ein Teil der
neuen Kornspeicher, die beiden Schlachthöfe und der Richtplatz.
Um
die enge und sehr dicht bebaute Altstadt, hatten sich im Laufe der zeit mehrere
neuere Viertel wie Gürtel herumgelegt, so daß die ursprüngliche Befestigung
mehrere Male erweitert, beziehungsweise geschliffen werden mußte. Die neue
Ringmauer, mit ihren Wällen, Gräben und Türmen würde, falls die Stadt mit
derselben Geschwindigkeit expandierte, bald ebenfalls zu klein werden. Da aber
das Umland eine unendliche Ausdehnung der Stadt nicht erlaubt, wird es nur eine
Frage der Zeit sein, bis auch auf der rechten Flußseite eine neue Stadt
entsteht.
Die
günstige Lage am Großen Fluß war für Handel und Verkehr geradezu ideal.
Rohstoffe aus dem Süden und Osten wurden in den zahlreichen Manufakturen und
Handwerksbetrieben zu Textilien, Bekleidung, Papier, Büchern, Silber- und
Zinnwaren, Möbel und Gebrauchsgegenständen verarbeitet, welche ihrerseits in
alle Himmelsrichtungen verkauft wurden. Daneben bildete der Handel mit kostbaren
Spezereien aus Carlan und vor allem mit Salz von der Meeresküste im Südwesten
Arkaniens, wo es in großen, sogenannten Salzgärten gewonnen wird, die
Grundlage für den Wohlstand der Bürger und den immensen Reichtum der öffentlichen
Kassen.
Der
Herrscherpalast lag auf einer Anhöhe im Südwesten der Stadt. Er war sehr alt
und glich mehr einer Burgfeste, als einem Schloß. Der Palast war von einer
eigenen gut befestigten und von der Palastgarde bewachten Mauer umgeben, die im
Süden mit den Felsen im Untergrund verschmolz, welche zugleich das Ende der
Stadt markierten. Dahinter fiel das Gelände einige Meter steil ab. Im
westlichen Teil des Palastbezirkes lagen die königlichen Gärten und Marställe.
Peter
und Tamina hatten einige Mühe, sich in den engen Gassen der Altstadt
zurechtzufinden. Sie gingen einige Male in die Irre, bis sie endlich auf dem
rechten Weg zum Palastbezirk waren. Tamina staunte nicht schlecht, als sie vor
dem riesigen schmiedeeisernen Tor mit den vergoldeten Spitzen stand, welches den
Haupteingang des Palastes versperrte. Natürlich war das Tor geschlossen und die
beiden Schildwachen in ihren glänzenden Harnischen und federgeschmückten,
blankpolierten Helmen sahen auch nicht darnach aus, als ob sie ihnen die Tür öffnen
würden.
»Peter,
da schau her! Hast du so etwas schon einmal gesehen?« Tamina preßte ihr
Gesicht zwischen den dicken Stäben des Gitterzaunes hindurch, um mehr von der
Pracht und den Wundern, die dahinter lagen zu erspähen. Allerdings bekam sie
nur den prachtvoll gestalteten und mit Blumen geschmückten Vorhof zu sehen; der
eigentliche Palast lag dahinter.
Peter,
der im Urlaub bereits mehrere Schlösser besichtigt hatte, darunter auch jene
des französischen Sonnenkönigs, konnte freilich Taminas grenzenloses Staunen
und ihre kindliche Begeisterung nicht in dem gleichen Maße nachvollziehen, wenn
gleich auch er von der Pracht und erhabenen Größe der Anlage beeindruckt war.
Sollte dies wirklich der Ort sein, wo er selber eines Tages als König gar
herrschen sollte? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Angesichts der gigantischen Dimensionen der Bauwerke, der Weitläufigkeit der Plätze
und Höfe kam er sich ganz klein und unbedeutend vor.
Sie
brauchten eine ganze Weile, bis sie den Hintereingang gefunden hatten. Welch ein
Unterschied zur Vorderseite! Hier schlichte Größe, dort überschwengliche
Prachtentfaltung; hier ein Kommen und Gehen, dort vornehme Stille.
Ein
weit offenstehendes Tor führte in einen riesigen Hof. Dutzende größerer und
kleinerer Wagen und Karren standen in Reih und Glied, um Entladen zu werden. Händler,
Kutscher, Küchenpersonal, Gärtner, Stallburschen, Lakaien und würdige
Hausdiener in schmucker Livree gingen ihrer Arbeit nach. Auch am hinteren Tor
stand eine uniformierte Schildwache. Jedoch trug sie keine prächtige
Galauniform, sondern präsentierte sich in der gewöhnlichen Aufmachung der
Palastwache: Harnisch und Helm waren zwar blank, aber nicht spiegelnd poliert,
auf dem Helm fehlte der Federschmuck und die Waffen sahen stabil und echt und
von langem Gebrauch abgenutzt aus und wirkten nicht wie Theaterrequisiten. Auch
die Mienen der Wächter wirkten nicht so stolz und versteinert, sondern blickten
freundlich. Den Wachen war es gestattet, mit dem Publikum zu sprechen, und sie
gaben dem Fragenden höflich Auskunft oder wiesen den Weg.
Auf
Peters Anfrage erklärte der Türsteher, daß jeder, der in den Palastbezirk
hinein wolle, einen Passierschein benötigte, und daß dieselben gleich nebenan
in der Wachstube ausgestellt würden.
»Na
also«, sagte Peter zu Tamina. »Das geht ja leichter, als ich gedacht hatte.«
Das
war allerdings bevor sie um die Ecke bogen und die lange Warteschlange vor der
Wachstube sahen.
Nach
gut zwei Stunden war Peter der Verzweiflung nahe. Um zwölf Uhr Mittags, als in
wenigen Minuten würde das Büro geschlossen. Die beiden wären als übernachte
an die reihe gekommen. Tamina hatte nicht geringe Mühe, Peter davon
abzubringen, die Wachstube mit Gewalt zu stürmen. Und sie tat gut daran, denn
wer randalierte, oder frech wurde, flog kurzerhand hinaus und durfte sich wieder
ganz hinten anstellen, falls man ihn nicht gleich einlochte.
»Ich
schlage vor, du hältst hier die Stellung, während ich uns etwas zu essen
besorgen gehe«, sagte Peter, der das dringende Bedürfnis verspürte, diesen
Ort zu verlassen.
Auf
einem der zahlreichen kleinen Märkte der Stadt kaufte er frisches Brot, einige
Früchte und einen Krug frischer, sahniger Milch.
Irgendwie
kamen sie dann endlich doch noch in den Besitz zweier Passierscheine, nachdem
sie einige allgemeine Fragen beantwortet hatten wobei sie falsche Namen und
Adressen angaben.
»Peter1
Es ist schon fast beängstigend, mit welcher Leichtigkeit du denen was vorlügen
kannst, ohne dabei rot zu werden«, bemerkte Tamina zu ihm und sah ihn mit einer
Mischung aus Bewunderung und Tadel an.
»Das
ist doch keine Kunst. Da, wo ich herkomme, können das die meisten. Tamina, du wärst
einfach viel zu ehrlich und arglos für unsere Welt. Solltest du jemals dorthin
gehen, dann kaufe dir niemals einen Teppich oder einen Gebrauchtwagen. Man würde
dich schamlos übers Ohr hauen.«
Tamina
verstand zwar nicht ganz, warum sie ausgerechnet in Peters Welt einen Teppich
oder einen gebrauchten Wagen kaufen sollte, aber eigentlich spielte das jetzt
auch keine Rolle, daher vertiefte sie dieses Gespräch nicht weiter. Die
Hauptsache war jetzt, daß sie ihre Passierscheine hatten und in den Palast
durften. Natürlich war so ein Passierschein kein Freibrief, um nach Lust und
Laune in den Räumen des Regenten umherzuspazieren. Der Passierschein galt nur für
die öffentlich zugänglichen Höfe, Gebäude und Gärten, sowie die Unterkünfte
des Personals. Nach altem Brauch nämlich war beinahe die gesamte
Staatsverwaltung in dem Herrscherpalaste untergebracht. Dies hatte zwar
einerseits den Vorteil, daß der Regent die Schaltstellen der Macht in seinem
unmittelbaren Einflußbereich wußte und für den Bürger gab es nur einen
einzigen Ort, wo alle Anliegen vorzubringen waren, andererseits aber war mit der
Ausdehnung
des Reiches und dem Anwachsen der Bevölkerung auch die Schar der Beamten
und Dienststellen sprunghaft angestiegen, so daß in dem ursprünglich dafür
vorgesehenen der Palastanlage eine qualvolle Enge herrschte.
Beeindruckt
von der Komplexität der Palastanlage, welche sich dem Auge des Beschauers erst
innerhalb der Mauern entdeckte, schritten Peter und Tamina durch die zahllosen
und über die ineinander geschachtelten, von Säulenhallen und Wandelgängen
begrenzten Höfe.
Für
die Einstellung von Dienstpersonal war der Kämmerer zuständig. Die
Warteschlange vor der Kanzlei des Kämmerers war nicht besonders lang. Die
unsicheren Zustände im Lande und in der Hauptstadt hatte den Strom von Zuzügern
vom Lande, welche auf der Suche nach Lohn und Brot in die große Stadt zogen,
stark abebben lassen.
Als
Peter und Tamina endlich vorgelassen wurden, war Peter noch immer unschlüssig,
um was für eine Stelle er sich eigentlich bewerben wollte. Im Grunde
beherrschte er keine der in dem höfischen Haushalte benötigten Dienste, noch
hatte er ein Handwerk erlernt. Wenn er sich im Inneren des Palastes umschauen
wollte, dann mußte er eine entsprechende Tätigkeit annehmen, etwa als Lakai,
Page (Dafür war er allerdings schon zu alt), Knappe (diese wurden von den
Rittern selber eingestellt und stammten beinahe ausnahmslos aus
Adelsgeschlechtern) oder Hausdiener (hiezu bedurfte man einer besonderen
Empfehlung).
Das
Dienstzimmer, in welches die beiden schließlich eingelassen wurden, war eng und
stickig. Der Hofbeamte musterte die beiden kritisch und fragte nach ihren Fähigkeiten.
Tamina berichtete, wie sie in der Wirtschaft ihrer Eltern gearbeitet hätte, und
daß sie stolz und dankbar wäre, wenn sie in die Dienste des allergnädigsten
Herrn Regenten als Dienstmädchen oder Küchenhilfe eintreten dürfte.
»In
Ordnung«, brummte der Dicke Mann hinter dem Schreibtisch und wischte sich mit
einem riesigen Schnupftuch den Schweiß von der Stirn. »Du bekommst zweieinhalb
Taler die Woche. Die ersten zwei Wochen auf Probe. Wenn wir mit dir zufrieden
sind, darfst du bleiben. Mal sehen, ob du beim Putzen und Aufwischen ebenso
geschickt bist, wie beim Reden.«
Der
Lohn war unverschämt niedrig, selbst wenn man freie Kost und Logis berücksichtigte.
Tamina aber zeigte sich hocherfreut und nahm die Stelle an. Sie erhielt ein Stück
Papier mit einem roten Stempel darauf und die Anweisung, sich im Gesindehaus
neben der Hauptküche zu melden. Dort erhielte sie eine Unterkunft zugeteilt und
würde in ihre Arbeit eingewiesen.
Tamina
zwinkerte Peter aufmunternd zu. Der Dicke lachte schallend. »Was willst du?
Lakai werden? Ohne Erfahrung, ohne Empfehlungsschreiben? Du bist kurios.
Vielleicht können wir dich als Gärtnergehilfen gebrauchen. Allerdings,
besonders kräftig schaust du nicht gerade aus. Strecke deine Hände vor!«
Peter
gehorchte schweigend, obwohl der Zorn über diese unverschämten Worte in ihm
hochstieg. Der Beamte beugte sich vor — soweit sein Leibesumfang dies überhaupt
zuließ — und dröhnte erneut los: »Da schau sich einer diese zarten Händchen
an! Wie bei einem feinen Herrn. Wer solche Hände hat, der hat bestimmt noch nie
damit gearbeitet. Für Faulenzer und Drückeberger haben wir hier keinen Platz.
Versuche es im nächsten Jahr noch einmal!« er machte eine Handbewegung zum
Zeichen, daß sie nun entlassen wären. Peter spürte wie er einen heißen,
roten Kopf bekam, aber Tamina zog ihn am Ärmel zur Tür hinaus, bevor er durch
eine unbeherrschte Äußerung noch alle verdürbe.
»Den
Kerl merke ich mir. Der ist der erste, den ich hinaus befördern werde, sobald
ich hier das Sagen habe«, schwor er bitter.
»Sei
nicht traurig, Peter. Es gibt bestimmt noch einen anderen Weg für dich, um in
den Palast zu kommen. In der Zwischenzeit kann ich ja die Lage für dich
auskundschaften.«
»Schade,
daß wir keinen Photoapparat haben. Ich meine, so eine Miniatur-Kamera, wie sie
die Spione benutzen. Damit könntest du heimlich Aufnahmen von den Räumen und
den Wachen machen.«
Tamina
sah Peter fragend an. Aber an Stelle einer ausführlichen Erklärung winkte er
nur müde ab.
»Komm,
ich bringe dich noch bis in dein Quartier. Wir müssen uns noch überlegen, wie
wir in Verbindung bleiben können. Ich glaube nämlich nicht, daß du sobald
freien Ausgang bekommen wirst.«
Das
Gesindehaus neben der Hauptküche trennte einen mittelgroßen gepflasterten
Innenhof von einem der drei Nutzgärten ab, wo neben einigen Gemüsesorten und Küchenkräutern
und Gewürzen auch vereinzelte Obstbäume und Sträucher angebaut wurden. Zwar
wurden die meisten Lebensmittel auswärts eingekauft, aber einen gewissen Vorrat
an frischen Waren wollte der Regent stets zur Hand haben. Daher waren vor
einigen Jahren mehrere Ziergärten in Nutzgärten umgewandelt worden.
Das
Gesindehaus war schmal und lang und besaß zwei Etagen. Es war ausschließlich
dem weiblichen Küchenpersonal vorbehalten, weshalb man Peter zwar freundlich,
aber bestimmt bedeutete, draußen zu bleiben. Tamina versprach ihm, ihn später,
wenn sie Ausgang bekäme, jeweils zu einer bestimmten Stunde täglich am östlichen
Tor des Palastbezirkes zu erwarten.
Mißmutig
spazierte Peter durch die Palastanlagen. Als er an der Kaserne der Palastwache
vorbeikam, blieb er stehen und beobachtete die Rekruten beim Exerzieren auf dem
Kasernenhof. Er lehnte sich gegen die kühlen Eisenstäbe des Zaunes, der den
Paradeplatz vom Park abtrennte. Die Sonne schien heiß und die Soldaten kamen
bei den Übungen ziemlich ins Schwitzen, trotzdem war es ein schöner Anblick,
zu sehen, wie sich die leuchtenden Uniformen und blitzenden Waffen in Reih und
Glied über den Hof bewegten. Zum Klang der Trommel marschierten die Rekruten
hin und her, während an dem Gitter eine kleine Schar Schaulustiger stand und
das geordnete Treiben mit Interesse verfolgte.
Ein
lautes Seufzen neben ihm, weckte Peters Aufmerksamkeit. Ein junger Mann, kaum älter
als er selber lehnte einige Schritte entfernt am Zaun und sah ebenfalls den
exerzierenden Rekruten zu. Peter trat zu ihm hin. »Grüß dich! Gehörst du
auch zum Wachregiment?« fragte der Bursche.
»Leider
nein. Ich wünschte, ich wäre einer von denen, dann dürfte ich in den Palast«,
erwiderte Peter gedankenverloren.
»Du
willst und darfst nicht, und ich muß und will nicht«, sagte der andere. Er
Stellte sich vor. Er heiße Maconni und sei als Rekrut für das Wachregiment
ausgehoben. Für seine arme, aber angesehene Familie sei die eine große Ehre
und mit dem nicht geringen Sold könne er, wenn er fleißig spare, in zwei
Jahren seine Verlobte heiraten.
»Bist
du schon lange hier?« fragte Peter neugierig.
»Nein,
ich bin erst heute morgen angekommen. Ich kenne leider niemand in der Stadt und
hier ist alles so groß und ziemlich unübersichtlich. Ich fürchte, es wird mir
hier schrecklich langweilig werden. Ich habe zwar sagen hören, der Dienst sei
leicht. Man müsse nur an irgendwelchen Türen und Toren herumstehen und auf dem
Gelände patrouillieren. Aber in diesen schlimmen Zeiten… wer weiß, wie das
alles noch enden wird. — Hast du Zeit? ich muß mich erst am Abend in der
Kaserne melden. Bis dahin weiß ich nicht, was tun. Wir könnten einen trinken
gehen. Es gibt eine Weinstube hier in der Nähe, wo die Soldaten ihren Ausgang
verbringen.«
Natürlich
hatte Peter Zeit. Der Kerl interessierte ihn zunehmend. Vielleicht könnte ihre
Bekanntschaft noch einmal von einigem Nutzen sein. Zusammen gingen sie los und
verließen den Palastbezirk.
»Ach,
übrigens! Du hast vorhin gesagt, daß du unbedingt in den Palast mußt. Wieso
denn das?«
Hoppala1
Hatte er sich da etwa verschwatzt? Peter musterte den Burschen scharf. Aber der
Junge sah ganz ehrlich und arglos aus. Trotzdem mußte er auf der Hut sein. Bei
einem Vorhaben wie dem seinen, durfte man sich nicht den geringsten Fehler
leisten, wenn der Kopf längerfristig dran bleiben sollte.
»Weißt
du, es gibt das ein Mädchen…« hub Peter an. »Sie ist jetzt im Palast, und
ich… nun ja, ich möchte einfach in ihrer Nähe sein.« Das war nicht einmal
gelogen, schließlich warteten sogar zwei
Mädchen im Palast auf ihn.
»Ah!
so ist das.« Maconni lachte. »Das ist wirklich ein guter Grund, zu den
Soldaten zu gehen.«
Inzwischen
waren sie bei der Schenke angelangt. Zu dieser Zeit am Nachmittage war kaum
Betrieb, so daß sie sich einen ruhigen Platz in einer Ecke neben einem alten,
mannshohen Weinfaß aussuchen konnten, wo sie sich ungestört unterhalten
konnten. Maconni spendierte die erste Runde, Peter die zweite. Er gab sehr acht
darauf, daß er mehr Wasser als Wein in seinen Becher tat.
Der
billige aber durchaus genießbare Wein löste die Zungen, und der junge Mann
wurde zunehmend gesprächiger. Offenbar hatte er sich einiges von der Seele zu
reden. Peter erwies sich als ein aufmerksamer und teilnahmsvoller Zuhörer.
»Du
hast es gut, du kannst hier in der Nähe deines Mädels sein. Meines ist
meilenweit weg. Ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen«, sagte Maconni und
nahm einen weiteren großen Schluck aus seinem Becher.
Tauschen!
Das war das Stichwort. Peter wurde auf einmal hellwach. In seinen Augen begann
es zu leuchten.
»Vielleicht
könnten wir das tatsächlich«, meinte er vorsichtig.
»Was?«
»Die
Rollen tauschen. Ich gehe unter deinem Namen zu den Soldaten, und du kehrst als
freier Mann zu deinem Mädchen zurück.«
»Ei,
was für ein drolliger Vorschlag! Aber leider brauche ich das Geld.«
»Wieviel
kriegst du denn?«
Maconni
nannte ihm die Summe, die er als Sold zu erwarten hatte. Peter dachte einen
Augenblick lang nach und sagte dann bedächtig: »Was wäre, wenn ich dir das
Geld gäbe?«
»Was?
Du?« Peter schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Dann holte er seinen
Geldbeutel hervor. Er zählte die Summe in Goldstücken ab und legte noch zwei
Gulden zusätzlich dazu. Maconni machte große Augen und sperrte den Mund auf.
»Sapperlot!
Woher hast du soviel Geld?«
»Ist
das wirklich wichtig? Sagen wir einfach, ich bin nicht ganz arm. Bedenke, daß
dies der Sold für zwei Jahre Dienst plus eine Extra-Zulage ist. Das reicht auch
noch für ein Hochzeitskleid und ein Paar goldener Ringe.«
»Potzblitz!
Das wird mir keiner glauben. Wenn ich erzähle, wie ich zu so viel Geld gekommen
bin…«
Es
wäre vielleicht besser, wenn du niemand davon erzähltest und dich so rasch es
geht auf den Weg nach Hause machtest«, entgegnete Peter. Der junge Mann kratzte
sich am Kopf und schien intensiv über das ebenso ungewöhnliche, wie
verlockende Angebot nachzugrübeln. Endlich sagte er: »Also gut, abgemacht!«
Er wühlte in seiner Reisetasche, die er unter dem Tisch abgestellt hatte und
zog ein versiegeltes Dokument hervor.
»Dies
hier ist das Empfehlungsschreiben und die Aushebungsurkunde.« Er reichte Peter
die Hand.
»Darauf
trinken wir noch einen!« rief Maconni und füllte ihre Becher randvoll.
Nachdem
sie ausgetrunken hatten, verabschiedete sich Peter mit einem Handschlag von
seinem inzwischen recht angeheiterten Zechkumpanen, der in der Wirtsstube zurückblieb,
um sein gutes Geschäft ausgiebig zu feiern, und machte sich zurück auf den Weg
in den Palast.
Auf
der Straße sog Peter die frische Luft in tiefen Zügen ein, wobei er
feststellte, daß der Wein seine Wirkung langsam zu entfalten begann. Obgleich
er sich ein wenig benebelt fühlte — ein Zustand, der ihm höchst unangenehm
war, da er nicht gerne die absolute Kontrolle über Körper und Geist verlor —
war er guten Mutes und schritt eine fröhliche Melodie vor sich hinsummend, mit
großen Schritten zügig voran. Die Bewegung und die frische Luft würden ihm
bestimmt gut tun, dachte er; und in der Tat hatte er das Palasttor noch nicht
ganz erreicht, als er sich bereits wieder völlig munter und leistungsfähig fühlte.
Wenige
Augenblicke später trat er durch das Tor der Kaserne des Wachregimentes. Er
meldete sich beim diensthabenden Offizier. Nach einer kurzen, oberflächlichen
Untersuchung durch den Stabsarzt wurde er für voll tauglich befunden und
offiziell als Rekrut in das Regiment aufgenommen. Man schickte ihn in die
Kleider- und Waffenkammer, wo er mit Uniformen und Waffen ausgestattet wurde. Er
erhielt zwei Uniformen: die einfache rotbraune Alltagsuniform mit dem kleinen
Wappen auf der Brust, und eine Paradeuniform in leuchtenden Farben, mit einem
roten Federbusch als Helmzier und einem großen, schön gestickten Brustwappen.
Als Seitengewehr erhielt er ein einfaches Schwert und eine nicht mehr ganz neue
Hellebarde.
Das
Schwert war etwas kürzer und schmaler als das wunderbare Thalidon, dafür
schien es ihm aber viel schwerer und unhandlicher. Die Hellebarde war sperrig
und wog bleischwer. Peter hatte einige Mühe, sie zu schultern. Die Waffen waren
beide aus gewöhnlichem Stahl von nicht sehr guter Qualität und zeigten beide
deutliche Gebrauchsspuren.
Die
Unterkunft war für Peter ein kleiner Schock: er bekam eine einfache
Holzpritsche mit einem Strohsack als Matratze in einem der großen Schlafsäle
zu geteilt, welche für zwanzig Mann ausgelegt waren.
Der
Korporal gab ihm eine Viertelstunde Zeit, um sich umzuziehen und sich auf dem
Exerzierplatz zu melden.
Außer
Peter waren noch drei weitere Neuankömmlinge eingetroffen, mit denen er sich im
Schlafsaal flüchtig bekannt machte. Später, auf dem Exerzierplatz, erhielten
die vier Neuen ihre ersten allgemeinen Instruktionen und durften das zum ersten
Male Bekanntschaft mit dem üblichen Kasernenton der kommandierenden Offiziere
machen. Nach einer ausführlichen Darlegung der Uniformvorschriften, der
allgemeinen Ordnung und dem Tagesprogramm, durften sie das Gelände der Kaserne
besichtigen. Es wurde von ihnen erwartet, daß sie sich von Anfang an mit den Örtlichkeiten
zurechtfänden. Bei dem Anblick der verschiedenen Übungsplätze mit den Wällen,
Gräben, Mauern, Pfosten und Schlammlöchern, die es zu überwinden galt, fragte
sich Peter, ob er wirklich das richtige tat. Es sollte nicht das letzte Mal
sein, daß er sich diese Frage stellte.
Anschließend
durften sie einige »Aufwärmübungen« in voller Montur durchführen, an deren
Ende Peter kurz vor dem Zusammenbrechen stand. Auf was hatte er sich da nur
eingelassen? Noch größer aber wurde sein Schrecken, als er später erfuhr, daß,
bevor er seinen Dienst auf Wache im Palast versehen durfte, er zuerst die vierwöchige
Grundausbildung durchlaufen mußte.
Damit
hatte er allerdings nicht gerechnet. Es gab für ihn jetzt nur noch eine Lösung:
So schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Aber das war leichter gesagt,
denn getan.
Nach
dem Abendappell gab es das Abendbrot in der großen Mannschaftskantine. Danach
war Ausgang bis zehn Uhr; zumindest für die meisten, nicht aber für die Neuen.
Vielleicht fürchtete man, einige könnten sich, durch die ersten Eindrücke
abgeschreckt, noch am selben Tage auf und davon machen. Leider war die Kaserne
derart gut bewacht, daß es unmöglich war, unbemerkt hinein zu gelangen, ebenso
wie herauszukommen. So blieb unserem unglücklichen Helden nichts anderes übrig,
als sich zu Bett zu begeben, wo er sich mißmutig hinlegte.
Während
Peter auf dem Bauch lag und mit angewinkelten Knien Fäden aus der rauhen
Wolldecke zupfte, vernahm er wie sich zwei seiner Kameraden leise miteinander
unterhielten. Er lauschte dem Gespräch nur mit halbem Ohr, da der Unterhaltung
nichts für ihn interessantes oder nützliches zu entnehmen war Bereits wollte
er sich für die Nacht fertig machen, um am nächsten Morgen wenigstens halbwegs
ausgeschlafen den unbeliebten Dienst anzutreten, als ihn einige beiläufig geäußerte
Worte auf einmal aufhorchen ließen.
Zwei
der erfahreneren Rekruten sprachen über ihren Dienst, als sie auf einige ungewöhnliche
Dienstanweisungen, welche erst kürzlich erlassen worden waren, zu sprechen
kamen.
»Ich
habe ja auch keine Ahnung, was die dort treiben, aber auf jeden Fall hätten sie
mich beinahe einen Kopf kürzer gemacht, als ich auf meinem Rundgang kurz in den
kleinen Rosengarten hinter dem Nordturm geschaut habe«, sagte der eine. Sein
Kamerad nickte zustimmend und sprach: »So etwas habe ich auch gehört. Im
Augenblick soll dort ein besonderer Gefangener festgehalten werden, vermutlich
irgend ein hohes Tier. Aber in der ganzen Umgebung dürfen keine Wachen gesehen
werden. Ich weiß auch nicht, was das soll.«
›Na!
Wenn das kein Glück ist‹, dachte Peter und zog sich unauffällig wieder zurück,
als das Gespräch der beiden auf ein anderes Thema kam.
Obgleich
Peter vor Müdigkeit kaum mehr die Augen offen halten konnte, lag er noch eine
ganze Zeit nach dem Lichterlöschen wach auf seiner Pritsche und schmiedete
einen Plan nach dem anderen, wie er am besten in den Nordturm gelänge. Der
Nordturm befand sich am äußersten nördlichen Ende des Palastes. Der Turm war
nicht besonders hoch; er überragte das spitze Dach des Palastes nur um wenige
Meter, aber er stach durch seine achteckige Form und die leuchtend roten
Schindeln auf dem spitzen runden Dach und der goldenen Kugel auf der Dachspitze
schon von weitem ins Auge. Wie er den Worten der Soldaten entnehmen konnte, gab
es zwei Eingänge zu dem Turm; einer führte in den kleinen Rosengarten, der den
Turm umgab und an den Park grenzte, der andere führte direkt in das Gebäude,
mit welchem der Turm bis in die zweite Etage verwachsen war. Der Zugang vom
Palast aus blieb Peter natürlich verwehrt, denn dieser Teil des Gebäudes gehörte
zu dem Privatbereich des Regenten und durfte nur von ausgesuchtem Dienstpersonal
und den Offizieren der Leibgarde betreten werden. Der Rosengarten hingegen war
von den übrigen Teilen der ausgedehnten Parkanlage nur durch eine niedrige
Natursteinmauer und ein kunstvoll geschmiedetes Gittertor abgetrennt. Ob das Tor
verschlossen war, konnte Peter freilich nicht wissen, aber selbst wenn dies der
Fall sein sollte, so ließe sich die Mauer leicht überwinden und böte damit
kein ernst zu nehmendes Hindernis.
Bei
der nächsten sich bietenden Gelegenheit wollte Peter diesen Ort auskundschaften
gehen. Gab es wirklich keine Wachen in dem Garten? Und falls die zutraf, warum
nicht? Fürchtete der Regent etwa, daß zusätzliche Wachen beim Nordturm
Verdacht erregen könnten? Andererseits schien sich die Anwesenheit einer
besonderen Person in dem Turme bereits in weiten Kreisen herumgesprochen zu
haben.
Was
wäre aber, wenn in dem Turme gar nicht Alissandra gefangen gehalten wurde?
Vielleicht war es ein ganz anderer Gefangener, der dort einsaß. Oder es wurde
gar kein Mensch, sondern etwas anderes dort aufbewahrt; vielleicht Gold oder
Waffen. Dieser Gedanke erschreckte Peter. Bei der Erwähnung des Nordturmes war
er sich zuerst ganz sicher gewesen, daß Alissandra sich dort befand; aber jetzt
begannen Zweifel an ihm zu nagen.
Egal
wie groß das Risiko wäre, er müßte herausfinden, was sich im Nordturm
befand. Und dies mußte bald geschehen, denn er hatte keine Zeit mehr zu
verlieren. Bei diesen Überlegungen schlief er endlich ein.
Als
am Morgen in aller Frühe das Wecksignal durch die Kaserne erscholl, fühlte
Peter sich wie gerädert. Er war so müde, als hätte er seit Tagen nicht mehr
geschlafen. Aber er wußte genau, daß er sich jetzt nicht gehen lassen durfte.
Wenn er negativ auffiele, könnte dies alle seine Pläne zunichte machen.
Hastig
und ohne rechten Appetit schlang er das reichliche, aber nicht sonderlich
wohlschmeckende Frühstück hinab. Anschließend begann eine unbeschreibliche
Tortur. Den ganzen Tag über wurde exerziert. Peter strengte sich geradezu übermenschlich
an, um alle Übungen und Aufgaben zu vollbringen. Am Ende war er so erschöpft,
daß er beinahe im Stehen einschlief. Trotzdem hatte die Schinderei sich
gelohnt. Sein überdurchschnittlicher Einsatz war dem Ausbilder aufgefallen, und
so erhielt er die Erlaubnis, den Abend bis zur Nachtruhe nach Belieben außerhalb
der Kaserne zu verbringen.
Im
Nu war Peter wieder hellwach und fühlte neue Kräfte in sich aufsteigen. In
Windeseile lief er hinauf, um sich zu waschen und umzuziehen.
Seine
Kameraden wunderten sich nicht wenig, als sie sahen, daß er keine Anstalten
machte, sich zum essen in die Kantine zu begeben. Es war zwar nicht Pflicht, an
den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen, aber von den Rekruten konnten es sich
nur die wenigsten leisten, auswärts zu essen.
Da
es jetzt noch zu früh war, um sich auf den Erkundungsgang zu begeben, und er außerdem
beinahe umkam vor Hunger, beschloß Peter, sich zuerst irgendwo in der Stadt zu
verköstigen. Aus das Essen in der Kantine hatte er überhaupt keinen Appetit,
was allerdings weniger an der Qualität des — zugegeben nicht besonders
wohlschmeckenden — Essens lag, als mehr an Peters verwöhnten Gaumen.
Später,
wenn es etwas dunkler wäre und der größte Teil der Soldaten und Dienstleute
sich in den Wirtshäusern und Aufenthaltsräumen bei Trunk, Musik und Spiel
vergnügte, würde er einen kleinen Spaziergang im Park unternehmen und sich in
die Gegend des verbotenen Rosengartens verirren, wo er sich dann etwas
umzuschauen gedachte.
Er
begab sich in ein nahe gelegenes, gut berufenes Wirtshaus, wo ein
ausgezeichnetes Essen serviert wurde. Dort ließ er sich eine ausgezeichnete
Suppe und einen leckeren Rinderbraten servieren, die ihm vorzüglich mundeten.
Nach
Beendigung der Mahlzeit fiel ihm ein, daß es höchste Zeit wäre, mit Tamina
Verbindung aufzunehmen. Er begann sich daher zu den Unterkünften des Küchenpersonals,
wo er sich bei verschiedenen Leuten nach ihr durchfragte. Zu seiner Enttäuschung
mußte er erfahren, daß Tamina nicht im Hause war und daß niemand wußte, wann
sie wieder zurückkäme. Zuerst dachte Peter daran, hier auf sie zu warten,
besann sich aber nach einer Weile anders und kritzelte statt dessen einige
Zeilen auf einen Fetzen Papier. Er teilte ihr mit, daß er in der Wachkaserne
untergekommen sei, und daß er sich sogleich auf die Suche nach Alissandra
begeben wolle. Selbstverständlich war Peter so klug, Alissandras Namen nicht
ausdrücklich zu nennen, aber Tamina würde schon wissen, wer gemeint sei. Er übergab
den Zettel einem Mädchen mit der Bitte, ihn Tamina sogleich auszuhändigen.
Nachdem
er dies also erledigt hatte, zog er unauffällig seine Armbanduhr aus der
Hosentasche und warf einen kurzen Blick darauf. Die Uhr am Handgelenk zu tragen
wäre viel zu riskant, da man derlei Geräte hierzulande noch nicht kannte.
Gemächlichen
Schrittes schlenderte Peter in den Park hinüber, der die Palastgebäude auf
drei Seiten umgab und in viele verschiedene Abteilungen unterteilt war, von
denen einige auch dem Personal, an bestimmten Tagen sogar der Öffentlichkeit
zugänglich waren. Der betreffende Rosengarten, von denen es übrigens mehrere
gab, gehörte allerdings nicht dazu, so wie alle Gärten, welche unmittelbar an
das Wohn- und Residenzgebäude des Regenten angrenzten. Allerdings waren die
Tore nicht verschlossen und es waren auch weit und breit keine Wachen zu sehen.
Jedermann im Palaste wußte ganz genau, wo seine Grenzen lagen, und das Überschreiten
derselben wurde so streng geahndet, daß sich ein jeder ohne große Aufsicht von
selbst an die Regeln hielt.
Peter
blickte sich gründlich, aber unauffällig in der Gegend um. In diesem Teile des
Parks befand sich zur Zeit kein Mensch. Die Sonne berührte gerade den Horizont,
als Peter sich dem kleinen Rosengarten näherte, von dem ein unbeschreiblich süßer
und intensiver Blütenduft sachte herüberwehte. Er ging einige Schritte auf dem
mit feinem Kies bestreuten Wege weiter, bis er zwischen den Baumwipfeln die
dunklen Umrisse des Nordturmes und dahinter die hohe Fassade des Hauptgebäudes
ausmachen konnte.
Nach
einigen weiteren zögernden Schritten gaben die Bäume plötzlich die Sicht auf
die Palastmauer und den Turm frei. Dieser Teil der Anlage gehörte zu den ältesten
Teilen des Bauwerkes und glich weniger einer repräsentativen Wohnresidenz als
mehr einer uralten Trutzburg mit meterdickem Mauern und kleinen Fenstern. Das
Mauerwerk war aus großen unbehauenen Natursteinen zusammengefügt. Erst auf der
Höhe der dritten Etage begannen die ersten Fensterreihen. Es waren verhältnismäßig
kleine Fenster mit runden Bögen und winzigen in Blei gefaßten Glasscheiben.
Das Gebäude besaß fünf Stockwerke, darüber erhob sich ein steiles Ziegeldach
mit mehreren Reihen von Dachgauben. Der Nordturm markierte die nördliche Ecke
des Gebäudekomplexes. Er besaß ein achteckiges Fundament und wurde ab der
dritten Etage viereckig. Sein Spitzes leuchtend rotes Dach überragte den Palast
um ein bis zwei Meter. Zahlreiche schmale Fenster, Schießscharten gleich, zogen
sich in diagonalen Reihen, dem Verlaufe der Wendeltreppe im Inneren folgend, in
die Höhe. Am oberen Ende des Turmes befanden sich zwei übereinanderliegende
Stuben. Die untere war recht einfach mit kleinen, quadratischen Fenstern
ausgestattet, während die oberste Etage auf jeder Seite drei große Fenster
besaß. Der Blick von dort oben mußte eine herrliche Rundsicht gewähren.
Vielleicht könnte man bei klarer Sicht sogar die Hügelketten im Süden oder
das Meer im Westen sehen.
Peter
schritt fürbaß und gelangte an die von Efeu und wildem Wein überwucherte
Mauer des Rosengarten. Wie in der Beschreibung der Wachsoldaten geschildert,
fand er das zierliche schmiedeeiserne Gittertor.
Nachdem
er sich noch einmal gründlich vergewissert hatte, daß ihn niemand beobachtete
und er ein jedes Fenster nach irgendwelchen Gesichtern oder verdächtigen
Bewegungen abgesucht hatte, drückte er sachte die schwere Klinke hinab.
Das
Tor war nicht verschlossen. Mit einem leisen Quietschen gab der Torflügel nach
und schwang nach innen auf. Leise wie eine Katze schlüpfte Peter hindurch und
schloß das Tor sogleich wieder hinter sich.
Der
Rosengarten machte seinem Namen aller Ehre. Es gab Rosen aller Arten in allen
erdenklichen Farben und Formen: Buschrosen, Heckenrosen, zierliche Rosenbäumchen,
Kletterrosen, die sich an weißen Spalieren wanden und die Wände des Turmes und
die Mauer des Palastes teilweise bedeckten. Die meisten verströmten einen betörenden
süßen Duft. Schmale, weiße Kiesweglein zogen sich in schwungvollen Schlaufen
und Windungen durch den kurz geschorenen hellgrünen Rasen, vorbei an reizenden
Pflanzengruppierungen. Steinerne Bänke luden zum Verweilen ein. Schattige
Lauben boten Schutz vor der Mittagssonne. Sogar ein winziger Teich mit Fischen
und ein kleiner Springbrunnen fehlten nicht.
Nur
zu gerne hätte Peter, der von Natur aus ein großes Wohlgefallen an schönen Gärten
und bunten Blumen fand, sich alles gründlicher angesehen, den Duft aller Blumen
geschnuppert, die friedliche, verträumte Atmosphäre auf sich wirken lassen. Er
malte sich aus, wie wundervoll es wäre, gemeinsam mit Alissandra durch dieses
Blumenparadies zu flanieren. Aber hiezu war leider jetzt keine Zeit.
Der
hohe von Alter ergraute Turm erhob sich vor ihm. Eine schwere, wettergegerbte
Eichentür mit massiven Beschlägen verwehrte ihm den Zutritt. Bestimmt wäre
die Tür fest verschlossen, dachte Peter und drückte horchend sein Ohr an das
vom Sonnenschein aufgewärmte Holz. Wenn Alissandra wirklich da drinnen gefangen
gehalten wurde, mußte die Tür ja verschlossen sein. Er hielt den Atem an, um
besser lauschen zu können. Doch durch das dicke Holz hindurch konnte er keinen
Laut vernehmen.
Im
Grunde machte Peter sich keine Hoffnungen, als er, weniger aus berechtigter
Erwartung, als vielmehr um sich in seiner Ahndung zu bestärken, an dem dicken
eisernen Ring, der über einem riesigen Schlüsselloch angebracht war, drehte.
Der
Ring wog schwer in seiner Hand und er ließ sich kaum bewegen. Peter mußte ihn
mit beiden Händen fest anpacken. Er versuchte, ihn so langsam wie möglich zu
bewegen, um keinen Lärm zu machen, denn so alte und schwere Türschlösser
pflegten für gewöhnlich entsetzlich zu quietschen. Obgleich Peter niemanden im
Inneren gehört hatte, wollte er nicht das Risiko eingehen, sich im letzten
Moment durch ein unbedachtes Geräusch zu verraten, so wie es in unzähligen
schlechten Abenteuerfilmen geschah, wo der Held, der sich an einen schlafenden Bösewicht
anschleicht, beim letzten Schritt auf einen knackenden Zweig tritt, und sich
alles damit verdirbt.
Trotz
aller Vorsicht ließ sich eine gewisse Geräuschentwicklung nicht ganz
vermeiden. Als dann die Tür auf einmal nachgab und sich einen Spalt weit
auftat, stockte ihm der Atem. War das denn die Möglichkeit? Vielleicht gab es
noch einen anderen Nordturm auf der anderen Seite, oder aber — und das
erschreckte ihn am meisten — Alissandra war gar nicht hier. Vielleicht war sie
vor einigen Tagen wirklich hier festgehalten worden, und man hatte sie
inzwischen an einen anderen Ort verbracht.
Alle
diese Gedanken schossen Peter im selben Augenblick durch den Kopf, als er mit
einem höchst verdutzten Gesicht auf die offene Tür starrte. Aber jetzt gab es
kein Zurück mehr. Wenn er so weit gekommen war, dann mußte er auch ganz
hinauf, in die Turmstube — soweit das möglich war. Er stieß die Tür mit
einer raschen Bewegung so weit auf, daß er gerade hindurchschlüpfen konnte und
schloß sie auf die gleiche weise wieder hinter sich.
Leider
sollte sich dies als ein großer Fehler herausstellen, denn, wie er zu spät
bemerkte, besaß die Tür auf der Innenseite keine Klinke oder eine andere
Vorrichtung zum Öffnen. Natürlich stak auch kein Schlüssel im Schloß.
Nun
begann er sich in der Tat höchst mulmig zu fühlen, denn die Fenster in den
dicken Mauern waren viel zu schmal, um hindurchschlüpfen zu können. Außerdem
ließen sie sich gar nicht öffnen, sondern waren fest in das Mauerwerk
eingelassen. Der Weg durch den Palast wäre bestimmt ebenfalls verschlossen.
Kein Wunder, daß kein Wächter vor der Türe stand. Wenn man nur von außen
hineingelangen konnte, aber nicht mehr hinaus, und dieser Teil des Parks ohnehin
für jedermann tabu war, bedurfte es auch keiner auffälligen Bewachung.
Mit
heftig klopfendem Herzen lauschte Peter in die dumpfe Dämmerung des engen
Stiegenhauses. Leise stieg er die steinernen Stufen der Wendeltreppe, welche in
regelmäßigen Abständen auf einen schmalen Absatz führte, hinauf. Bei jeder
Biegung fürchtete er direkt einem Wärter in die Arme zu laufen. Aber nichts
dergleichen geschah. So stieg er bis in die zweite Etage hinauf, oder besser
gesagt bis zum zweiten Treppenabsatz, denn im unteren Teil bestand der Turm nur
aus einem Treppenhaus.
Auch
hier war keine Menschenseele auszumachen. Dafür aber fand Peter die
Verbindungstür zum Palastgebäude. Sie bestand aus einem hellen, lackierten
Fichtenholz und machte einen soliden Eindruck, wenn sie auch längst nicht so
stabil war wie die Eingangstür.
Vorläufig
verzichtete Peter darauf, auszuprobieren, ob auch diese Tür sich öffnen ließe.
Zuerst wollte er sehen, was sich oben in den beiden Turmstuben befand.
Vielleicht gab es dort irgendwo einen Schlüssel; und wenn man ihn erwischte,
dann wäre es auch egal, ob dies unten oder oben geschähe.
Während
Peter reglos vor der Verbindungstür stand und horchte, begann plötzlich ein
heftiges, unangenehmes Gefühl in ihm aufzukeimen: er spürte eine starke Angst.
Dies wäre angesichts seiner verzwickten Lage nichts außergewöhnliches, aber
am meisten wunderte er sich darüber, daß er dieses Gefühl erst jetzt bekam
und nicht schon früher im Garten oder beim Eintreten.
Er
tastete mit der rechten Hand nach dem goldenen Amulett unter seinem Hemd und zog
es an der Kette hervor. Der Anblick und die Berührung des körperwarmen
Geschmeides flößte ein ungemein beruhigendes und trostspendendes Gefühl ein.
Nach wenigen Sekunden bereits fühlte er sich wieder stark und mutig; und er
fragte sich, ob dies den magischen Kräften des Talismans zuzuschreiben war,
oder ob allein der Gedanke an die beschützende Wirkung des Kleinods ihn
beruhigte und stärkte.
Er
holte tief Luft und verstaute den Anhänger wieder unter dem Hemd. Er stieg eine
weitere Treppe hinauf, bis er sich auf einmal vor einem Eisengitter befand,
welches die ganze Treppe von Wand zu Wand ausfüllte und bis unter die Decke
reichte. In der Mitte des Gitters war eine breite Gittertür eingelassen, welche
mit einem großen, altmodischen Schloß gesichert war.
»Klar!
Das hätte ich mir denken können«, flüsterte er kaum hörbar vor sich hin.
Er
drückte die Klinke herunter und hätte beinahe einen Ausruf des Erstaunens
ausgestoßen, als er feststellt, daß auch dieses Hindernis keines war.
Eigentlich
hätte ihn diese Anhäufung glücklicher Umstände und Zufälle stutzig machen müssen,
aber im augenblicklichen Überschwang der Gefühle achtete er nicht darauf.
Voller
Freude über sein unwahrscheinliches Glück zog er das Gitter auf. Noch während
er es bewegte, merkte er, daß etwas nicht stimmte, daß er gerade einen großen
Fehler beging.
Beim
Öffnen des Gitters hatte er das Gefühl, einen unsichtbaren Widerstand zu überwinden.
Gleich darauf vernahm er ein Geräusch, das sich anhörte, als zerrisse ein Stück
Stoff. Dann schrillte eine blecherne Alarmglocke los. Noch bevor er es sich
versah, wurde die Tür am unteren Treppenabsatz aufgerissen und ein halbes
Dutzend Bewaffneter stürzen heraus und warf sich auf ihn.
Vor
Schrecken wie gelähmt ließ Peter alles mit sich geschehen. An eine
erfolgreiche Gegenwehr wäre ohnehin nicht zu denken gewesen. Wenn er sein
Zauberschwert noch besäße, dann freilich sähe die Sache anders aus, dann hätte
er vielleicht eine wirkliche Chance gehabt. Gegen das mächtige Thalidon wäre
selbst ein Dutzend schwer bewaffneter Krieger machtlos .Aber so…
Im
Nu lag Peter bäuchlings auf dem Fußboden, wurde nach Waffen durchsucht und an
Händen und Füßen gefesselt. Daraufhin trugen ihn zwei der Wärter — selber
gehen konnte Peter in diesem Zustande nicht mehr, so fest war er zusammengeschnürt
worden — durch die Tür in den Palast hinein. Leider bekam er davon nicht viel
mit, denn kaum waren sie durch die Tür hindurch, wurde ihm etwas um den Kopf
gewickelt, so daß er nichts mehr sehen konnte und nur noch schwer Luft bekam.
Während
der ganzen Prozedur, die keine fünf Minuten dauerte, wurde kein einziges Wort
gesprochen. Bereits nach kurzer Zeit fühlte Peter sich auf die Füße gestellt.
Eine Tür fiel ins Schloß, dann war es stille.
Zwei,
drei Atemzüge später wurde ihm unvermittelt das Tuch vom Kopf abgenommen und
er konnte endlich wieder frei atmen. Vorsichtig sah er sich um.
Vor
ihm in dem geräumigen, mit dunklem Holze getäfelten und bis auf einen Tisch,
einen kleinen Schrank und einige Stühle leeren, Zimmer stand ein Mann von etwas
über dreißig Jahren. Er besaß einen schmalen, kurz getrimmten hellen Bart.
Sein Gesicht spiegelte eine Mischung aus Neugier und Staunen. Er trug. Einen eng
anliegenden grünen Jagdanzug, hohe Schaftstiefel und einen Hirschfänger in
einen silbernen, polierten Scheide. In den Händen hielt er einen schmalen,
zweischneidigen Dolch, mit dem er lässig herumspielte.
Nachdem
er Peter eine Weile schweigend gemustert hatte, sprach er nur ein einziges Wort:
»Nun?«
In
Peters Gehirn arbeitete es fieberhaft. Ihm war klar, daß er sich hier nicht
einfach herausreden konnte, aber irgend etwas mußte er diesem Kerl schließlich
erzählen.
»Also,
ich kam hier zufällig vorbei, als ich einen Spaziergang im Park machte und da
habe ich den schönen Rosengarten gesehen und dachte mir, ich könnte vielleicht
einen Blick hineinwerfen. Ich wollte natürlich niemanden stören und…«
»Ach,
ja? Rein zufällig?« höhnte der Kerl, als auf seinen Lippen auf einmal ein
schmales und sehr gemeines Grinsen sich breit machte, welches Peter nichts gutes
ahnen ließ. Dieser Mann war gefährlich, sehr gefährlich, schoß es ihm durch
den Kopf. Wer mochte er sein?
»Ich
— äh — gehöre zur Palastwache«, sagte Peter, »und wollte mich nur mit
den örtlichen Begebenheiten vertraut machen. Niemand hat mir gesagt, daß es
verboten sei, den alten Turm zu besichtigen. Außerdem war er nicht
abgeschlossen.«
»Sei
wann bist du hier?«
»Seit
zwei Tagen.«
»Und
wie kommst du auf die Idee, es sei erlaubt, in den Privatgemächern des
Herrschers herumzuschnüffeln?«
»Ich
dachte, der Turm werde nicht mehr benutzt, und diene nur als Aussichtsturm.«
»So!
Das reicht mir jetzt allmählich!« rief der andere erbost und fuchtelte drohend
mit dem Dolch vor Peters Nase herum.
»Ich
weiß genau, wer du bist und was du hier willst, und du kannst sicher sein, daß
du dafür deine Strafe erhalten wirst.« Er wandte sich ab und steckte den Dolch
in den Gürtel.
»Ich
komme gleich wieder. Also geh’ nicht fort, sondern mach’ es dir inzwischen
bequem«, meinte er zynisch und verließ den Raum.
An
eine Flucht war allerdings nicht zu denken, denn nicht nur Peters Handgelenke,
sondern auch seine Knöchel waren so fest mit starken Stricken zusammengeschnürt,
daß jede Bewegung weh tat und er sich kaum hüpfend vorwärts bewegen konnte.
Was blieb ihm also anderes übrig, als sich seufzend in sein Schicksal zu
ergeben.
Es
währte indes nicht lange, da ging die Tür auf und ein Mann in einem grauem
Kaputzenumhang, gefolgt von zwei Wachsoldaten mit Kerzenleuchtern trat herein.
Die Soldaten stellten sich zu beiden Seiten neben Peter und hielten ihm die
Leuchter so dicht ans Gesicht, daß ihm der Geruch von heißem Wachs und Ruß in
die Nase stieg und ihm die Flammen beinahe die Haare auf dem Kopf
versengten. Der Fremde, dessen Gesicht Peter nicht erkennen konnte, da es
von der Kapuze verdeckt war und er sich zudem sorgfältig im Schatten hielt,
trat näher heran und musterte ihn gründlich von oben bis unten. Dann machte er
auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinaus. Die beiden Wächter bleiben bei
Peter zurück
Nach
ungefähr fünf Minuten kehrte der Bärtige wieder zurück. Auf seinem Gesicht
lag ein besonderer Ausdruck. Mit einer Stimme, die vor zuckersüßer Bosheit nur
so strotzte, sagte er: »Willkommen in unserem bescheidenen Hause, Prinz Peter!
Seid unser Gast!«
Peter
schluckte leer. In seinem Kopfe drehte sich alles. Ihm war, als hätte er keinen
einzigen Tropfen Blutes mehr im Leib. Er war entdeckt und erkannt worden. Jetzt
war alles aus!
Vorheriges Kapitel | ||
© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:30 |