XV. KAPITEL

Pflichten

 

Wilo sprang in die Höhe, als steckten Nadeln in seinem Stuhl. »Was soll das heißen ,verschwunden‘?«

Peter stand in der Mitte des Saales, der einst als Amtszimmer des Statthalters von Carlan gedient hatte und fühlte sich ganz elend. Die Weite des Raumes, die massiven, dunklen Holztafeln, die schweren Marmorfliesen, die von Ruß und Alter geschwärzten Gestalten auf den Gemälden an den Wänden ringsum — alles das schien ihm erdrückend, machte ihm das Atmen schwer. Selbst die helle, golden durch die hohen Fenster hinein scheinende Sonne konnte seine Stimmung nicht aufhellen.

Mit stockender Stimme berichtete Peter von Alissandras spurlosem Verschwinden. Tamina stand seitlich hinter ihm und ergänzte, wo nötig, seinen Bericht.

»Habt ihr denn auch überall gründlich nachgeforscht?« Wilo mochte noch immer nicht recht begreifen, wie das hatte geschehen können.

»Natürlich haben wir jeden im Dorf gefragt. Peter und ich haben die ganze Gegend, so weit es ging, durchgekämmt. Aber niemand hat etwas gesehen.«

»Allerdings«, fiel Peter ein, »haben die Leute im Dorf eine Schar Reiter gesehen, die sich in der Gegend aufhielten.«

»Aha! Waren es Soldaten des Regenten?« wollte Wilo wissen. »Von denen treiben sich immer wieder vereinzelte Spähtrupps in der Gegend herum. Wir wissen nie genau, ob es sich nicht vielleicht um die Vorhut einer größeren Streitmacht handelt und sind daher sehr vorsichtig.«

»Nein, die Leute sagten, es wären Zivilisten gewesen. Sie hätten eher wie reisende Kaufleute oder Stadtmenschen ausgesehen. Das war aber am Tag vorher. Sie hätten das Dorf passiert und nur eine kurze Rast eingelegt, um Proviant und Futter einzukaufen. Sie wären schweigsam gewesen und hätten keine Gesellschaft gesucht. — Selbstverständlich haben wir die ganze Gegend nach ihnen abgesucht, aber sie waren verschwunden.«

»Wie konntest du Alissandra nur allein ins Dorf reiten lassen?«

»jetzt hör’ aber auf, Wilo! Es ist wirklich nicht Peters Schuld. Es gab keinen Anlaß zur Sorge. Alles schien sicher und völlig ungefährlich.«

»Laß nur, Tamina. Er hat schon recht. Ich habe wider mal alles vermasselt.«

»So habe ich das nicht gemeint«, versuchte Wilo zu trösten. »Gemeinsam werden wir sie bestimmt bald wiederfinden. Ich muß einfach meine Reise in den Norden verschieben.«

»Wohin willst du?«

Wilo berichtete ihnen von einer Zusammenkunft mit Vertretern der Rebellen aus den beiden Nordprovinzen. Man hatte ihn dringend um ein Treffen mit den Führern der Widerstandsbewegung gebeten; und natürlich wollten sie auch den geheimnisvollen jungen Prinzregenten von Carlan sprechen und kennen lernen. Wilo hatte sie vertrösten müssen, denn vor Peters Rückkehr war er in Carlan, wo so vieles zu regeln, anzuleiten und aufzubauen war, völlig unabkömmlich.

Selbstverständlich war bei der gegenwärtigen Lage der Dinge an eine Reise in den Norden nicht zu denken. Erst mußte das Schicksal Alissandras aufgeklärt werden.

»Wie soll es jetzt weitergehen?« fragte Tamina.

»Ich werde alle verfügbaren Männer ausschicken, um nach Alissandra zu suchen«, versprach Wilo und ließ seinen Adjutanten kommen. Jener erschien sogleich. Es handelte sich um einen schnittigen jungen Mann, von etwa fünfundzwanzig Jahren, der einen sehr intelligenten und zuverlässigen Eindruck machte. Peter war überrascht, was Wilo in Carlan alles auf die Beine gestellt hatte. ›Der Kerl hat den Laden wirklich gut im Griff‹, dachte er, nicht ohne einen leichten Anflug von Neid. Es schien ihm gar, als ob Wilo ein größeres Ansehen und mehr Autorität genoß, als er selber. Zum Glück konnte er sich auf Wilo verlassen — zumindest in dieser Beziehung. Andererseits galt Wilo nicht von ungefähr als Windhund und Lebemann, doch hatte er sich in den vergangenen Wochen deutlich zum besseren verändert. Aus dem einstigen Spieler und Tagedieb war ein verantwortungsbewußter und redlicher Offizier und Gouverneur geworden. Allerdings, von Zeit zu Zeit forderten die Leidenschaft und der Wein auch von Wilo ihren Tribut. Doch durfte man auch nicht zu streng mit ihm sein …

»Heute können wir nichts mehr tun. Aber morgen in aller Frühe wird sich ein Suchtrupp auf den Weg nach Trondelheim machen«, sagte Wilo. Peter und Tamina blieb nichts weiter zu tun übrig, als sich im Palast umzuschauen und die Stadt zu besichtigen.

Peter war sehr mißmutig. Er regte sich ständig darüber auf, daß er nichts tun konnte und dazu verdammt war, abzuwarten, was geschehen würde. Aber lange würde er diese Untätigkeit nicht aushalten, das war ihm klar. Tamina brannte darauf, sich in der großen Stadt umzuschauen, und so machte Peter sich mit ihr zu einem gemeinsamen Stadtbummel auf. Vielleicht würde ihn dieser Ausflug ein wenig auf andere Gedanken bringen.

In der Stadt konnten sich die beiden ungezwungen bewegen, da niemand sie erkannte. An nächsten Tag würde er dem Volke vorgestellt werden. Es würde ein großer Empfang stattfinden, eine Audienz und unzählige Staatsgeschäfte mußten abgewickelt werden. Alle die vielen Anordnungen und Befehle, die Wilo inzwischen getroffen hatte, mußten im Nachhinein von Peter formell ratifiziert werden. Es graute ihm, wenn er an die Stapel von Akten dachte, die er in Wilos Büro hatte liegen sehen.

Carlan war eine wunderschöne Stadt. Sie befand sich in einem ausgezeichneten Zustand. Durch ihre günstige Lage war sie das Tor zum Süden und ein wichtiger Umschlagsplatz für Kaufleute und Händler. Ein großer Teil ihres Reichtums hatten die Einwohner in prunkvolle Gebäude und öffentliche Anlagen gesteckt, von denen noch einige aus der Gründungszeit stammten. Anhand der großen Paläste und öffentlichen Gebäuden ließ sich die Geschichte von Jahrhunderten ablesen. Der Sehenswürdigkeiten und Zerstreuungen waren so viele, daß, unter anderen Umständen, Peter mehrere Wochen nur mit Besichtigungen und Studien der Altertümer und Kunstschätze verbracht hätte. So aber blieb ihm nur ein kurzer Rundgang vorbehalten.

Auch Tamina war nicht so heiter wie sonst, obgleich Peter sich alle Mühe gab, sie zu erfreuen und seinen schlechten Mut nicht auf sie abfärben zu lassen.

Es schien gerade so, als wolle er das, was er an Alissandra versäumt hatte, an ihr wieder gutmachen. Er überhäufte das Mädchen geradezu mit Geschenken und kleineren und größeren Aufmerksamkeiten. Für Tamina war dies der erste Aufenthalt in einer größeren Stadt. Ihr kindliches Staunen über die mannigfaltigen großen und kleinen Wunder war so natürlich und arglos, daß endlich auch Peter für einige stunden seines Kummers vergaß und sich mit ihr in das bunte Gewühl in den Gassen und auf den Plätzen stürzte.

Abends verbrachte Peter mehrere Stunden zusammen mit Wilo und dem Adjutanten um über dringende Geschäfte zu sprechen, den kommenden Tag zu planen und so weiter. Peter hörte aber nur mit einem Ohr hin und war mit Wilos Vorschlägen und Entscheidungen völlig einverstanden.

Später, im Bett, warf er sich unruhig hin und her. Schließlich sank er in einen unerquicklichen Schlaf, wo ihm immer wieder Alissandra vorwurfsvolles Gesicht erschien.

Als er am Morgen aufstehen mußte, fühlte er sich zermartert und war dementsprechend lustlos und verdrießlich. Einsilbig verzehrte er sein Frühstück, und die Menschen in seiner Umgebung waren so rücksichtsvoll, ihn in dieser Laune nicht weiter zu behelligen.

Nach dem Frühstück wollte er als erstes zu Wilo, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen. Wilo aber war bereits seit Stunden auf den Beinen. Er gehörte zu jenen beneidenswerten Menschen, die mit wenigen Stunden Schlaf auskamen und dennoch den ganzen Tag über vor Energie und Tatendrang nur so strotzten.

Als Peter Wilo weder in seinem Büro noch in seinen Privatgemächern antraf, ließ er den Adjutanten rufen. Von ihm erfuhr er, daß die Reiter bereits im Morgengrauen aufgebrochen waren und nicht vor dem Abend zurück erwartet wurden. Wilo würde gegen Mittag aus der Stadt zurück kehren, um dann mit ihm und verschiedenen Abgeordneten des Stadtrates und Legationen aus der Landprovinz von Carlan gemeinsam zu Mittag zu speisen.

Tamina wollte unbedingt noch einige Besorgungen in der Stadt erledigen. Also überließ Peter sie der Obhut ihrer Dienerin, welche ihr, ungeachtet ihres Protestes, von Wilo zugeteilt worden war.

So fand sich Peter bald allein in dem gewaltigen Palastgebäude wieder, wo er sich ziemlich verloren vorkam. Zwar wimmelte es geradezu von Leuten, die geschäftig über die langen, dumpf hallenden Gänge eilten. Da er niemanden kannte, sprach er auch mit keinem, sondern schlenderte ziellos auf den Etagen herum, bald diese bald jene Tür aufstoßend, stets aufs Neue überrascht, wo er landen würde.

Das Personal trat ihm gegenüber höchst ehrerbietig, ja geradezu unterwürfig auf, was ihm, nach anfänglicher Befangenheit, bald nur mehr lästig wurde. Schließlich ließ er sich in seine Amtszimmer führen. Sie befanden sich im ersten Stock. Hier hatte unlängst noch der Statthalter des Regenten residiert. Neben unzähligen gleichermaßen prächtig wie auch eintönig eingerichteten Salons und Vorzimmern, wo eine kleine Armee von Sekretären, Inspektoren, Präfekten und Beamten installiert waren, befanden sich hier auch die Audienzhalle, das Privatkabinett, das große Amtszimmer und die Bibliothek. Letztere erregte Peters größtes Interesse.

Der Saal maß mindestens einhundert Quadratmeter, war gute fünf Meter hoch und über und über mit kostbaren, zumeist in Leder gebundenen Büchern bestellt. Die Stellagen reichten in schwindelerregende Höhen, wo man nur auf langen hölzernen Leitern hinreichte. Alles war prächtig verziert und gemahnte an die barocke Pracht europäischer Fürstenhäuser. Wenn auch der arkanische Stil nicht ganz mit dem europäischen zu vergleichen war, so kam ihm die Bezeichnung ,barock‘ noch am nächsten.

Die Bibliothek war vielleicht nicht der prächtigste, dafür aber der gemütlichste der Säle, die Peter bisher gesehen hatte. Das Amtszimmer war von riesigen Ausmaßen, dabei aber sehr spartanisch möbliert und mußte auf jeden Besucher sehr abschreckend wirken. Vor dem riesigen, fast die ganze Wand einnehmenden Fenster stand ein gewaltiger, mit üppigen Schnitzereien und Verzierungen von Blattgold versehener Schreibtisch. Vor dem Tisch standen zwei niedrige, hart gepolsterte Stühle in einiger Entfernung, und bis zur Tür waren es gute fünfzehn Schritte. Kein Wunder, daß kaum je ein Bittsteller bis zum Statthalter vorgedrungen war. Wenn man vor dem Schreibtisch saß, kam man sich derart klein und unbedeutend vor, daß man dem dahinter Sitzenden kaum ins Gesicht zu blicken wagte, zumal jener das Licht im Rücken hatte.

Peter beschloß, hier keine Besucher zu empfangen, sondern ausschließlich das Privatkabinett zu benutzen. Er ließ alle Akten und Berichte dorthin schaffen. Obzwar er sich redlich bemühte, sich durch den Wust von Papieren hindurch zu arbeiten, bekam er doch bald ein dumpfes Gefühl im Kopf und verspürte das dringende Bedürfnis nach frischer Luft und Sonnenschein. Er wunderte sich selbst, welche Veränderung in ihm vorgegangen war. Früher hatte es ihm nicht das geringste ausgemacht, tagelang das Haus nicht zu verlassen; jetzt fühlte er sich bereits nach einigen Stunden am Schreibtisch unbehaglich und eingesperrt.

Er verließ das Gebäude und spazierte ziellos durch die Höfe und Gärten. Er ließ sich von den Gärtnern ihre Arbeit an der Bepflanzung erklären, steckte den Kopf in die Ställe und erregte bei dem Gesinde und den Dienstleuten nicht geringes Aufsehen und Verwunderung. Noch nie zuvor war einer ihrer früheren Herren in diese Bereiche vorgedrungen, oder hatte ein persönliches Wort für das Personal übrig gehabt.

So verging die Zeit bis zum Mittag in Windeseile, und Peter war ganz überrascht, als ein Junge in gelber Livree atemlos auf ihn zugestürzt kam und ihm meldete, daß Wilo überall im Palaste nach ihm suchen lasse.

Das Mittagessen verlief in einer sehr förmlichen, diplomatischen Atmosphäre. Die Unterhandlungen mit den Abgeordneten waren für Peter ungeheuer lästig, und er befürchtete, auf manchen Teilnehmer nicht den besten Eindruck gemacht zu haben. Aber man darf ihm keinen Vorwurf machen, wenn ihn die Amtsgeschäfte eines Regenten und Gouverneurs schlicht überforderten. Gerade jetzt, als so viele fremde Menschen mit ihren Anliegen und Bedürfnissen auf ihn zukamen, entbehrte er besonders der Nähe und Unterstützung seiner Freunde.

Eine noch größere Prüfung stand Peter aber noch bevor: die große Parade am Nachmittag. Für ihn war es der reinste Alptraum.

Es begann damit, daß die Uniform mit dem polierten Brustharnisch nicht nach Maß gefertigt war und ihn so entsetzlich scheuerte und drückte, daß er zuweilen das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Da sein Pferd Mondenglanz mit Alissandra verschwunden war, mußte er auf Wirbelwind reiten. Zwar hatte Peter in den vergangenen Monaten — nicht zuletzt dank Alissandras Anleitung und auf Grund täglicher Übung — recht passabel reiten gelernt, aber dem feurigen Hengst war er nicht gewachsen. Das schlaue Tier merkte wohl, mit wem es es zu tun hatte und versuchte seinen Spielraum so weit als möglich auszureizen. Das Geschrei und die vielen aufgeregten Menschen, welche die Straßen säumten, trugen ein weiteres dazu bei, daß Peter alle Hände voll damit zu tun hatte, daß das Roß nicht mit ihm durchging oder er herabstürzte.

Er wußte, daß er eine schlechte Figur abgab und schämte sich darob in Grund und Boden. Im runden Amphitheater von Carlan mußte er zu den Menschen sprechen. So weit das Auge reichte war alles schwarz von Menschen. Zehntausende waren gekommen, um den Retter, den Befreier von Arkanien zu sehen.

Die Zeremonie war — in der kurzen Zeit war es nicht anders möglich gewesen — schlecht geplant und es mußte viel improvisiert werden. Die Stadtknechte, unterstützt von den Garnisonstruppen hatten ihre liebe Mühe, die Volksmassen in Schranken zu halten.

Peter stand umringt von zwei Dutzend Leuten, von denen er die wenigsten je gesehen hatte, auf der Bühne. Zu seiner Rechten stand Wilo, zur Linken Tamina, daneben und dahinter befanden sich Mitglieder des Stadtrates, Beamte, Militärs und weitere Honoratioren der Stadt.

Nach verschiedenen einführenden Worten des Stadtkommandanten, des Bürgermeisters und des Obersten der Wache, sprach Wilo über die militärische Lage, über die geplanten Verteidigungsmaßnahmen und ähnliches. Nach ihm war Peter an der Reihe.

Peters Knie fühlten sich an wie aus Gummi, auf seiner Stirn stand kalter Schweiß und seine feuchten Hände wollten einfach nicht trocknen, so oft er sie auch an den Hosenbeinen abwischte. Sein hilfesuchender Blick fiel auf Tamina, aber diese sah selber aus, wie ein erschrockenes Reh. Nie zuvor hatte sie so viele Menschen an einem Orte gesehen, und jetzt stand sie im Mittelpunkt aller Blicke. Peter spürte, wie sie immer dichter an ihn heranrückte, sich halb hinter seinem Rücken zu verstecken suchte, und er wünschte sich inniglich, selbiges ebenfalls zu tun. Allein er stand in der ersten Reihe und in wenigen Augenblicken erwartete die ganze Welt eine tief ergreifende, bewegende, die Herzen erhebende Ansprache. Er fühlte Taminens Hand, die nach der seinen suchte. Warum nur konnte man nicht in einem solchen Augenblick von einer gnädigen Ohnmacht, einem Erdbeben, Blitzschlag oder einer plötzlichen Sonnenfinsternis erlöst werden? Er drückte ihre kalten Finger und spürte, wie ihm diese Berührung ein wenig neuen Mutes gab, als er einen leichten Stups von rechts wahrnahm. Wilo hatte seinen Vortrag beendet und jetzt wartete alles auf seine Rede.

Peter fing also an zu sprechen. Was er sagte, das sollte er später selber nicht mehr wissen, aber es schien der Menge zu gefallen, denn Seine Worte wurde mit lautstarken Ovationen und Sprechchören gewürdigt. Er tröstete sich damit, daß ohnehin nur etwa die Hälfte der Menschen seine Worte vernehmen konnten, angesichts der gewaltigen Dimension des Stadiums. Er unterschätze dabei aber die ausgezeichnete Akustik des Rundbaus, die es den Zuschauer auch ohne Lautsprecherverstärkung ermöglichte, zu verstehen, was auf der Bühne gesprochen wurde.

Als der Troß endlich aufbrach, da fühlte Peter eine so große Erleichterung, daß er aller Mühen und Anstrengungen vergaß, denn er hatte nur noch einen Wunsch: nach Hause, ins Bett, allein sein, schlafen …

Natürlich war der Weg zum Palast ein sehr beschwerlicher. Noch mehr Menschen wollten einen Blick auf ihn erhaschen, seine Hände berühren; aber irgendwie brachte er auch dies hinter sich.

Im Palaste erfuhr er, daß für den Abend ein weiteres Festgelage anberaumt worden war.

»Muß das denn wirklich sein?« fragte er Wilo entnervt und sichtlich angegriffen.

Wilo gab sich große Mühe, Peter die Notwendigkeit derartiger gesellschaftlicher Anlässe klar zu machen. Für den Freiheitskampf benötigten sie jede nur erdenkliche Unterstützung, nicht nur beim gemeinen Volke, sondern auch im Adel und unter der bürgerlichen Stadtbevölkerung.

Nicht daß Wilo sich auf dem diplomatischen Parkett sonderlich wohl fühlte, sein liebster Wirkungskreis war immer noch das Militär, und als Oberst des Freiwilligen-Regiments verbrachte er die meisten Stunden des Tages bei seinen Männern, aber er genoß es auch, im Mittelpunkt zu stehen und von allen respektiert und geachtet zu werden. Zu lange hatte er als verarmter und in Ungnade gefallener Herrensohn unter der Schmach und Unbill öffentlicher Demütigung und Ausgrenzung leiden müssen. Die Machtfülle und Verantwortung, welche ihm in den vergangenen Tagen zu teil geworden war, hatte ihn einfach überwältigt. Er genoß freilich der Aufmerksamkeit, die man seiner Person schenkte, und der Autorität, die er unversehens besaß, andererseits war er aber auch froh, daß er mit Peters Eintreffen einen großen Teil dieser Last ablegen durfte. Eine Truppe zu befehligen und auszubilden, Rekruten auszuheben, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, diplomatische Verbindungen anzuknüpfen, Unterhandlungen zu leiten, den Richter spielen und Gesetze und Vorschriften zu erlassen, das alles war einfach zu viel für ihn. (Für Peter übrigens auch, was er in den folgenden Tagen noch zur Genüge feststellen sollte.)

Peter beschloß daher, einen für arkanische Verhältnisse ungewöhnlichen und geradezu revolutionären Weg einzuschlagen. Carlan sollte fürderhin nicht mehr durch einen Gouverneur regiert werden, sondern von einem durch die Stände gewählten Stadtparlament. Das war zwar ein gewisses Risiko — waren die Menschen schon reif für eine Demokratie? — aber die Vorteile schienen dieses Risiko zu rechtfertigen. Erstens wurde der frischgebackene Gegen-Regent Peter und dessen noch junge Staatsverwaltung sehr entlastet und zweitens würden die Menschen, welche noch unentschlossen waren, und in dem bevorstehenden Konflikt noch keine eindeutige Stellung bezogen hatten, ihre einmal gewonnene Freiheit und Rechte heftiger verteidigen, als wenn ,nur‘ der eine Regent durch den anderen ersetzt würde.

Kaum in den Palast zurückgekehrt, fragte Peter nach der ausgeschickten Expedition. Aber von dem Suchtrupp lag noch keine Nachricht vor.

Das festliche Abendmahl und die daran anschließenden Gespräche zogen sich bis spät in die Nacht hinein, so daß Peter genügend Ablenkung fand, seinen tief empfundenen Verdruß wenigstens für eine Weile zu vergessen.

Aber später, als er allein in seinem Bette in dem riesigen dunklen Schlafgemach lag, kehrte die Sorge mit um so größerer Bedrängnis zurück. Das fahle Licht, welches durch die Fenster hereindrang, verlieh den Möbeln und Gegenständen unheimliche Konturen.

Peter wälzte sich auf die andere Seite und hielt das Kissen mit beiden Armen umklammert. Er träumte davon, anstelle jener leblosen Daunenmasse, sein geliebtes Mädchen in Armen zu halten. Arme, schöne, stolze Alissandra! Wie mochte es ihr im Augenblick ergehen? Wohin hatte man sie verschleppt? An ein Unglück mochte Peter nicht glauben, denn in diesem Falle hätte man sie oder das Pferd längst gefunden.

Ein leises Kratzen an der Tür ließ ihn aufhorchen. Er sah, wie sich die schwere eisenbeschlagene Tür langsam in den Angeln drehte. Eine weiße Gestalt glitt lautlos hinein. Für einen kurzen Augenblick dachte Peter schon, ein Gespenst zu sehen. Es war aber Tamina, die nur mit einem langen weißen Nachthemd bekleidet, barfüßig herein trat. Das Licht der Öllampen auf dem Flur ließ ihr goldenes Haar erglänzen.

»Pssst! Peter, bist du noch wach?« flüsterte sie.

»Ja, komm herein und bringe ein Licht mit«, erwiderte er. »Was läufst du denn mitten in der Nacht herum? Auf den kalten Steinplatten kann man sich den Tod holen.«

»Ich kann nicht schlafen und ganz allein in diesem riesigen Zimmer hielt ich’s einfach nicht mehr aus. Kann ich eine Weile bei dir bleiben?« Natürlich durfte sie. Peter konnte sie gut verstehen. Auch ihm war es nicht ganz geheuer in dem riesigen Palast.

»Haben dich die Wachen nicht aufgehalten?« fragte er, denn er konnte sich gar nicht vorstellen, wie man in diesem Schlosse auch nur einen einzigen unbemerkten Schritt tun konnte. An jeder Ecke standen Lakaien und mit Hellebarden bewehrte Wachen.

»Ich habe mich vorbeigeschlichen, als die Wache am anderen Ende des Ganges war.« So einfach war es also, in das Schlafzimmer des Regenten einzudringen. Es war eigentlich ein Wunder, daß er noch lebte, fand Peter. Eigentlich könnte man das Geld sparen und die Wachen halbieren oder bis auf die Schildwache vor den Toren ganz abschaffen.

»Komm her, Tamina! Du kannst in meinem Bett schlafen. Ich werde es mir auf dem Diwan bequem machen — Keine Widerrede! Ich will doch nicht, daß du dich erkältest.« Die beiden sprachen nicht mehr viel miteinander, dafür waren sie nach den Anstrengungen des vergangenen Tages zu erschöpft, aber sie genossen beide der gegenseitigen Nähe und Anteilnahme. In einer solchen Nacht war man besser nicht allein.

So vergingen die Tage in Carlan. Tagsüber hatten Peter und Wilo jede Menge dringender Geschäfte zu erledigen, des Nachts war jeder mit seinen Gedanken, Ängsten und Sorgen allein.

Es geschah eine knappe Woche nach ihrer Ankunft in Carlan, als Wilo Peter und Tamina zu sich bestellte.

Aus Wilos Zügen und seiner Haltung erkannte Peter sofort, daß etwas vorgefallen war.

»Was ist geschehen, Wilo? — Nun rede endlich!«

Wilo wand sich; er wußte nicht recht, wie er beginnen sollte. Auf dem Tisch lag ein Papier, das heißt eigentlich war es mehr ein Plakat. Noch bevor Wilo ein Wort herausgebracht hatte, war Peter hinzu geeilt und hatte das Papier ergriffen. Seine Augen flogen über den Text.

»Das darf doch nicht wahr sein! Arme Lisa! Warum hat mir das niemand gesagt?« fuhr er Wilo scharf an.

»Ich dachte, es sei besser, wenn ich dich schonend darauf …«

»Genug! Wir müssen sofort in die Hauptstadt. Diese Hochzeit darf auf keinen Fall stattfinden!«

»Was für eine Hochzeit? Was ist mit Alissandra?« Tamina versuchte Peter über die Schulter zu sehen.

»Sie haben sie entführt. Diese Schweine! Jetzt zwingen sie sie, den Sohn des Regenten zu heiraten. Die Hochzeit soll bereit in …« Peter sah nach dem Kalender auf Wilos Schreibtisch und zuckte zusammen. »…in zehn Tagen stattfinden.« er sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, Peter, um so viele Männer wie möglich zu mobilisieren, aber ich fürchte, in der knappen Zeit … — Die Hauptstadt wird von drei Garnisonen beschützt. Wir können sie nicht angreifen. Sie haben zehn-, nein zwanzigmal so viele Soldaten als wir jemals aufbieten könnten. Wenn es uns gelingt, Verstärkung aus dem Norden zu erhalten, dann könnten wir in ein bis zwei Monaten …«

»Nein! Das ist viel zu spät!« rief Peter zornig. »Ich werde sie retten und befreien, auch ohne Soldaten; wenn sein muß, auch ganz allein!« Er sprang auf und stürzte aus dem Zimmer.

Wilo wollte ihm nacheilen, aber Tamina hielt ihn zurück. »Laß ihn, er wird sich beruhigen. Ich werde nach ihm schauen.« Aber da irrte sie sich; Peter dachte nicht daran, sich zu beruhigen. Er würde seine Geliebte befreien, koste es, was es wolle!

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