Schluß
Das
Erscheinen eines fliegenden Pferdes am Himmel versetzte die Menschen im Schloß
in helle Aufregung. Niemand wagte es, nahe heranzutreten. Statt dessen bildete
die Menge einen weiten Kreis um die beiden Neuankömmlinge. Die zerlumpte
Gestalt, die von dem Rücken des weißen Wundertieres herabsprang erregte weit
weniger Aufmerksamkeit, als das Reittier selber. Erst als einer rief: »Das ist
Prinz Peter!« hub ein allgemeines Raunen und Gemurmel an.
Keiner
getraute sich, ihn direkt anzusprechen, und das war Peter auch recht so. Er
bahnte sich einen Weg durch die gaffende Menge und schritt zielstrebig nach dem
Treppenaufgang zur Haupthalle.
Auf
den Stufen der breiten Marmortreppe kam Wilo ihm entgegen, der nachschauen
wollte, was die Ursache für den Menschenauflauf im Hof war.
Als
er Peter erblickte, blieb er stehen. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Überraschung
und Ratlosigkeit. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, war so viel
geschehen, hatte sich so viel unseliges ereignet.
»Peter!
Wo kommst du her?« fragte er, als er die Sprache wieder fand.
»Tag,
Wilo! Ich erkläre alles später. Wo ist Alissandra?« fragte er ohne
Umschweife. Wilo stellte sich ihm in den Weg.
»Sie
ist sehr krank, und du kannst…«
»Ich
weiß, ich weiß. Deshalb bin ich hier. Ich muß sofort zu ihr.« Er stieß Wilo
zur Seite und lief durch das Portal in die große Halle.
»Halt!
Warte! das geht so nicht. Ich denke, du schuldest uns eine Erklärung«, rief
Wilo hinter ihm her und rannte ebenfalls hinein.
»Wo
ist Alissandra?« schrie Peter und versuchte Wilo abzuschütteln, der ihn am Arm
festhielt.
»Sie
ist oben. Es geht ihr nicht gut. Niemand darf zu ihr«, entgegnete Wilo scharf.
»Ich
kann sie retten. Ich muß sofort zu ihr«, sagte Peter aufgeregt. Er riß sich
los und stürzte die große Treppe hinauf, die in den ersten Stock führte.
Alissandra mußte in einem der Räume im zweiten Stock sein, vermutete er und
lief den breiten Korridor entlang, an dessen Ende sich der Aufgang in die
weiteren Stockwerke befand. Alissandras Zimmer mußte sich am Ende des Ganges
befinden, denn es waren zwei Wachen mit polierten Helmen und Hellebarden neben
der Tür postiert. Peter war sicher, daß dies der richtige Raum war, denn das
Zimmer lag an der südwestlichen Ecke des Gebäudes und bot eine wunderbare
Aussicht auf das Meer und die Dünen und war hell und sonnig.
»Halt!
Wer da?« rief einer der Wachen.
»Ich
bin euer Herr! Ich muß zu Prinzessin Alissandra!« rief Peter von weitem.
Aber
die Wächter kreuzten die Hellebarden vor der Tür und verwehrten ihm so den
Einlaß.
»Hört
ihr denn nicht? Ich befehle euch, sofort den weg frei zu geben!« rief Peter
erbost.
»Niemand
darf hier rein!« sagte der andere und sah Peter scharf an.
»Wartet!
Euch will ich Mores lehren!« rief Peter zornig und zog sein Schwert.
Beim
Anblick des goldenen Schwertes wichen die Wächter furchtsam zurück und sahen
abwechselnd das Schwert und Peter an.
In
diesem Augenblick wurde von innen die Tür aufgerissen. Es war Tamina. Sie
schrie wütend: »Was soll der Lärm und…«
Als
sie Peter mit der blanken Waffe in der Hand sah, erschrak sie zuerst, dann aber
stellte sie sich herausfordernd in die Tür und sagte erregt: »Bist du
gekommen, um dein Werk zu vollenden? Aber dazu mußt du erst mich umbringen!«
Ihre Wangen waren stark gerötet und ihre Augen waren mit dunklen Ringen
unterlegt. Man sah ihr an, daß sie in den vergangenen Tagen wenig oder gar
nicht geschlafen hatte.
Peter
senkte schuldbewußt den Kopf und steckte das Schwert ein.
»Wie
geht es Alissandra?« fragte er leise.
»daß
du dich überhaupt noch hierher traust. — Aber komm nur! Sieh dir an, was du
getan hast!« rief sie und zerrte Peter am Ärmel herein. Sie schob ihn bis an
das Bett, welches an der gegenüberliegenden Wand stand.
Peter
stand starr. Alles sah genau so aus, wie er es in seinen Träumen gesehen hatte.
Alissandra lag auf dem Rücken. Sie schlief . Ihr Atmen ging schnell und flach.
Ihr Gesicht war schmal und sehr blaß und auf ihrer Stirn standen Schweißperlen.
Ein leises Seufzen drang von ihren farblosen Lippen. Sogleich war Tamina an
ihrer Seite und kühle Alissandras Stirn mit einem feuchten Lappen.
»Warum,
Peter? Warum hast du das getan?« sagte sie leise. Sie sah Peter mit einem
tiefen anklagenden Blick aus ihren blauen Augen an, der ihm bis in sein
Innerstes traf.
»Wenn
du wüßtest, wie oft ich mir gewünscht habe, an ihrer Stelle hier zu liegen«,
antwortete er leise. »Aber jetzt wird alles wieder gut.«
»Nichts
wird gut!« stieß Tamina heftig hervor. »Alissandra wird sterben!« Diese
letzten Worte sprach sie ganz leise aus.
»Nein,
Tamina. Das lasse ich nicht zu«, sagte Peter und schüttelte heftig den Kopf.
»Ich habe eine Arznei mitgebracht, die sie retten wird. Da schau her!« Peter
zog die Phiole an der Kette unter seinem Hemd hervor.
»Das
wird sie wieder gesund machen.«
»Nein,
Peter. Meister Callidon hat gesagt, daß es gegen die Wirkung von diesem Schwert
keinen Zauber und keine Arznei gibt. Nicht einmal der Blaue Kristall ist stärker
als Thalidon. Nur das goldene Zeichen hat sie bis jetzt am Leben gehalten. Aber
jeden Tag wird sie schwächer. Gestern Nacht sah es so aus, als…« sie brach
ab und verbarg ihr Gesicht.
In
diesem Augenblick trat Wilo gefolgt von dem alten Callidon herein.
»Peter!
Du bist zurückgekehrt. Endlich! Es war Alissandras letzter Wunsch, dich noch
einmal wieder zu sehen. Warum bist du fortgelaufen? Wilo hat dich im ganzen Land
suchen lassen«, sagte Callidon und trat auf Peter zu, um ihn freundlich zu begrüßen.
Tamina und Wilo standen abseits.
»Ich
war weit weg. Ich mußte das Gegenmittel finden, um Alissandra zu retten.«
Callidon
schüttelte betrübt sein weißes Haupt.
»Ich
habe alles versucht, was in meiner Macht stand — vergeblich. Es gibt kein
Heilmittel.«
»Nein,
das ist nicht wahr!« rief Peter. Er hielt Callidon die Phiole vor die Nase und
sagte: »Das hier ist der Saft vom Baum des Lebens. Damit werde ich sie retten.«
Callidon
starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ist
das wahr? Warst du wirklich dort?«
Peter
nickte. Er beschrieb den Berg und den Garten innerhalb der goldenen Mauer und
den Baum des Lebens mit seinen goldenen Früchten. Wilo und Tamina lauschten
Peters Bericht mit Verwunderung, während Callidon ein ganz ehrfürchtiges
Gesicht machte.
Als
Peter seinen Bericht beendet hatte — die Sache mit Verdels Erpressung und der
Auslieferung des Blauen Kristalls wollte er vorläufig verschweigen —, standen
Tränen in Callidons Augen. Es wären Tränen der Freude. Aufgeregt sagte er: »Jetzt
ist Alissandra gerettet! Gib mir die Phiole, damit ich ihr das Mittel einflößen
kann.«
Peter
zauderte einen Augenblick und sagte dann: »Bitte, ich möchte das lieber selber
tun. Ihr versteht…« Callidon nickte stumm lächelnd.
Peter
trat an das Bett und setzte sich behutsam hin.
»Alissandra,
Liebste!« sprach er sanft und drückte die kalte Hand des Mädchens.
Alissandra
gab ein schwaches Stöhnen von sich. Peter strich ihr zärtlich über die Stirn
und streichelte ihr Haar. Es dauerte eine Weile, bis sie die Augen aufschlug.
Ihre
Augen waren glanzlos und ihr Blick leer. Sie schien Peter nicht zu erkennen,
denn sie zeigte keine besonderer Regung.
»Hier,
Lisa! Du mußt das trinken«, sagte er und stützte ihren Kopf, während er sie
ein wenig aufrichtete. Er konnte mit der Hand deutlich jede Rippe ihres stark
abgemagerten Körpers spüren. Er setzte die Phiole an ihre farblosen Lippen und
flößte ihr vorsichtig das Lebenswasser Tropfen für Tropfen ein, sorgfältig
darauf achtend, daß nicht ein einziger Tropfen von der kostbaren Flüssigkeit
verloren ging.
Alissandra
hatte Schwierigkeiten beim Schlucken, aber es gelang Peter, ihr den ganzen
Inhalt des Fläschchens zu verabreichen. Mit einem tiefen Seufzer sank
Alissandra zurück ins Kissen. Peter, Tamina, Wilo und Callidon standen am Fußende
des Bettes und beobachteten gespannt, was geschah.
Zuerst
geschah gar nichts. Aber dann schnappte Alissandra hörbar nach Luft. Ihre
Finger krallten sich um Peters Hand. Sie riß die Augen weit auf und bäumte
sich auf. Ein halb erstickter Schrei löste sich von ihren Lippen. Ihr ganzer
Leib verkrampfte sich.
Tamina
stieß einen Schreckensschrei aus und hielt sich an Callidons Arm fest.
Alissandras Krämpfe ließen plötzlich nach, und sie sank wie leblos zurück
und blieb regungslos liegen. Ihr Atmen ging rasch und heftig. Für einen
Augenblick sah sie so aus, als wäre sie tot, so fahl und ganz entspannt waren
ihre Züge.
Aber
dann schlug sie die Augen auf und sah die Umstehenden mit stetem Blick an. Als
sie Peter erkannte, erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Peter!«
hauchte sie und schaute ihm tief in die Augen. »Endlich bist du zurückgekehrt.«
»Ja,
Lisa! Jetzt wird alles gut. Du darfst dich nicht anstrengen, nicht viel
sprechen. Aber bald wirst du wieder ganz geheilt sein.« Auf Peters Gesicht
stand eine ungeheure Erleichterung und Freude geschrieben. Seine Augen
schimmerten feucht. Auch die anderen atmeten auf. Das Wundermittel schien
wirklich zu wirken. Jetzt bestand endlich wieder Hoffnung. Callidon kam näher
heran und fühlte nach Alissandras Puls. Er machte ein hochzufriedenes Gesicht.
»Alissandra!
Du mußt jetzt schlafen und dich ausruhen«, sagte er und bedeutete den anderen,
das Zimmer zu verlassen.
»Kann
ich nicht hier bleiben?« fragte Peter.
»Nein,
das würde sie nur aufregen.«
Widerwillig
ließ Peter Alissandras Hand aus und folgte Callidon nach draußen. Tamina und
Wilo warteten vor der Tür auf ihn.
»Ich
muß mit euch beiden reden«, sagte er zu ihnen. Wilo nickte. Er schlug vor,
sich in den kleinen Saal zu begeben, wo sie ungestört wären.
»Kalorim
und Verdel sind geflohen«, sagte Peter. »Wie steht es mit Tiras?«
»Tiras
und sein Sohn haben sich mit einer Handvoll Gefolgsleuten zurückgezogen. Aber
es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie aufspüren werden«, sagte Wilo.
»Dann
habt ihr die Hauptstadt also eingenommen?«
»Ja.
Es war nicht so schwer, wie wir gedacht hatte. Viele von den Regierungstruppen
sind zu uns übergelaufen.«
»Nach
allem, was geschehen ist, werde ich wohl nicht mehr König werden. Wurde bereits
eine Wahl getroffen, wer Tiras ablösen soll?« fragte Peter, ohne die beiden
anzusehen.
»Peter!
Es gibt nur einen, der das Recht hat, König von Arkanien zu werden — das bist
du«, sagte Tamina.
»Aber
ich habe alles falsch gemacht.«
»Nein«,
sagte Tamina und legte ihre Hand auf Peters Arm, »das ist nicht wahr. Du kannst
nichts dafür. Alissandra hat uns alles berichtet. Sie haben sie dazu gezwungen,
dich zu verraten. Und ohne das schützende Amulett konnten die beiden Schurken
Kalorim und Verdel dich verzaubern.«
»Aber
das entschuldigt nicht, was ich…«
»Peter!«
unterbrach ihn Wilo. »Wir alle haben Fehler begangen — und dafür gebüßt.
Laß uns das Vergangene vergessen und nach vorn in die Zukunft schauen. Es gibt
noch so viel zu tun. Arkanien braucht dich. Es bringt nichts, Tiras einfach
durch einen neuen Regenten zu ersetzen. Wir brauchen einen legitimen König; und
der kannst nur du sein. Du bist der rechtmäßige Eigentümer von Thalidon und
dem Blauen Kristall und…«
»Nein!«
entgegnete Peter leise. »Den Kristall habe ich nicht mehr. Ich mußte ihn
Verdel überlassen, sonst hätte ich die Phiole für das Wasser des Lebens nicht
bekommen.«
»Soll
das heißen, daß unsere Feinde jetzt den Blauen Kristall haben?« fragte Tamina
bestürzt. Peter nickt zerknirscht.
»Wenigstens
haben sie das Szepter nicht. Also können sie mit dem Kristall nichts anfangen.«
»Ist
das wahr? das Szepter ist in Sicherheit?« fragte Peter.
Wie
groß war seine Erleichterung, als Tamina aus dem Zimmer lief und kurz darauf
wieder zurückkehrte. Sie trug einen schweren länglichen Gegenstand, der in ein
scharlachrotes Tuch eingewickelt war. Noch bevor Peter das Tuch aufgewickelt
hatte, spürte er bereits, daß er das einzigartige Szepter von König Brunnar
in seinen Händen hielt. Wie glücklich wäre er jetzt, wenn er den Blauen
Kristall in die leere Fassung am Ende des Szepters einsetzen könnte!
»Was
soll jetzt geschehen?« fragte er und legte das Szepter in Taminens Hände.
»Sobald
Alissandra wieder ganz gesund ist, werden wir in die Hauptstadt gehen und dem
Volk den neuem Herrscher vorstellen«, schlug Wilo vor.
»Alissandra…«
»Sie
war sehr tapfer. Obwohl bald erwiesen war, daß ihre Verwundung nur von Thalidon
herrühren konnte, hat sie nie ein Wort darüber verlauten lassen, was wirklich
geschehen war. Sie hat immer wieder nach dir gefragt und verlangt, daß man dich
überall sucht.«
»Peter!
Wie konnte das alles nur passieren?« fragte Tamina.
»Ich
war nicht ich selbst. Ich war völlig von Sinnen. Ich glaubte, alles hätten
sich gegen mich verschworen. Und als Alissandra den Kristall haben wollte, da…
— Ich wollte nicht, daß es geschieht, aber es ging alles so schnell…«
Peter sah sie hilflos an. »Ich kann nur hoffen, daß sie mir verzeihen kann.«
Tamina sah im fest in die Augen und er konnte ihrem Blick standhalten.
Vor
der Tür erscholl Callidons aufgeregte Stimme: »Peter, Tamina, Wilo, schnell!
Kommt und seht euch Alissandra an!« Callidons Kopf erschien in der Tür. Sein
Gesicht war stark gerötet und er war ganz außer Atem.
»Was
ist los? Geht es Alissandra schlechter?« fragte Peter bestürzt und eilte im
Laufschritt nach Alissandras Zimmer. Die anderen folgten ihm auf den Fersen.
Als
Peter die Tür zu Alissandras Schlafzimmer aufstieß, mochte er seinen Augen
nicht trauen. Alissandra saß aufrecht im Bett. Sie sah viel kräftiger aus. Ihr
Gesicht hatte eine frische, gesunde Farbe angenommen und ihre Augen strahlten im
alten Glanz.
»Peter,
mein Peter! Endlich bist du wieder da!« rief sie und machte Anstalten,
aufzustehen. Aber Peter war sofort bei ihr und drückte sie sanft ins Bett zurück.
»Du
darfst noch nicht aufstehen. Du mußt dich noch schonen«, sagte er, aber er kam
kaum zu Worte, denn sogleich schloß sie ihn in ihre Arme und drückte ihn feste
an sich.
»Alissandra!
Es tut mir so leid. Ich…« Weiter kam er nicht, denn sie drückte ihm einen
dicken Kuß auf die Lippen.
»Pssst!
Sag nichts! Du hast keine Schuld.«
»Heißt
das, du vergibst mir?«
»Peter,
du Dummer! Ich kann dir nicht vergeben, denn dazu müßte ich dir böse sein.
Ich bin so froh, daß du gesund zurückgekehrt bist. Jetzt wird alles wieder
gut. Ich habe gedacht, ich müßte dir den Blauen Kristall wegnehmen, damit ihn
die Bösewichte nicht bekommen. Aber jetzt ist das nicht mehr nötig.«
»Nein«,
sagte Peter. Er wich etwas zurück. Alissandra merkte sofort, daß etwas nicht
stimmte.
»Was
ist, Peter?«
»Sie
haben den Kristall. Ich mußte ihn ihnen überlassen.«
»Was?!
Aber wieso?« rief sie bestürzt und wäre beinahe aus dem Bett gesprungen.
»Nur
so konnte ich dich retten. Sie haben mich gezwungen. Ich habe ihn gegen ein
kleines Kristallfläschchen eingetauscht und…«
»Bist
du wahnsinnig! Peter! Wie konntest du das tun? Jetzt haben sie den Blauen
Kristall. Wer weiß, was sie damit anstellen.«
»Ich
weiß, aber es war die einzige Möglichkeit. Ich hatte doch keine Wahl.«
»Soll
das heißen, du hast, nur um mich zu retten, die Zukunft Arkaniens auf’s Spiel
gesetzt?« Alissandras Augen funkelten gefährlich.
»Ja,
aber…«
»Du
bist wirklich nicht mehr zu retten!«
»Alissandra!
Was kümmert mich der Kristall, wenn es um dein Leben geht. Das ist alles, was für
mich zählt.«
»So
ein Esel! Prinzessinnen gibt es viele in Arkanien, aber nur einen Blauen
Kristall. Ich hätte es auch so geschafft; und außerdem…«
»Ach
du meine Güte! Was ist denn hier los?« fragte Tamina.
»Unglaublich!
Sie streiten schon wieder. Na, dann ist ja alles wieder gut«, meinte Wilo
lachend und machte leise von außen die Tür zu.
»Lassen
wir die beiden eine Weile allein.«
»Armer
Peter!« murmelte Callidon schmunzelnd in seinen Bart.
Aber
ihre Befürchtungen waren unbegründet, denn schon wenig später lagen Peter und
Alissandra sich in den Armen, und alle Vorwürfe und bösen Worte waren
vergessen.
»Lisa!«
»Ja,
mein Peterchen?«
»Versprich
mir, daß du mich nimmermehr verlassen wirst. Das würde ich nicht überstehen.«
»Nein,
jetzt sind wir für immer beisammen.« Sie drückte ihn an sich und zauste sein
struwweliges Haar.
»Tut
es noch weh?« fragte Peter besorgt, als es den dicken Verband unter Alissandras
Nachthemd spürte.
»Nein.
Ich spüre gar nichts. Hilf mir, den Verband abzumachen.2
»Ich
weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Wir sollten besser Callidon fragen.«
»Ach,
stell dich nicht so an! Der würde doch nur schimpfen und mahnen. Ich will mir
das jetzt anschauen.« Sie hob das Hemd hoch und versuchte es gleichzeitig
festzuhalten und den Knoten, mit dem die Mullbinde verknotet war, aufzulösen.
»Laß
nur, ich mach’ das schon«, brummte Peter und fing an, an dem Knoten
herumzufingern.
»Du
stellst dich aber an!« nörgelte Alissandra, der es wieder einmal nicht schnell
genug ging.
Endlich
gelang es Peter den Knoten zu lockern. Er begann, vorsichtig die Leinenbinde
abzuwickeln, die rings um Alissandras Bauch gewickelt war. Als unter den
obersten Schichten ein großer eingetrockneter Blutfleck sichtbar wurde, hielt
er zaudernd inne.
»Mach
nur«, sagte Alissandra und berührte sanft seine Hand.
»Unglaublich!«
rief sie, als die letzte Windung abgewickelt und die dicke Wundkompresse ab war.
»Das
sieht böse aus«, meinte Peter schaudernd.
»Das
ist nur eingetrocknetes Blut und Wundsalbe. Reich mir bitte den Lappen in der
Schale.«
Peter
brachte das Gewünschte, und Alissandra fing an, vorsichtig die Wundstelle
auszuwaschen. Wie groß war ihr beider Staunen, als unter der dicken gelbbraunen
Kruste nichts weiter zum Vorschein kam, als eine lange helle Narbe. Fassungslos
betastete Alissandra die Narbe und auch Peter konnte sich nicht zurückhalten,
behutsam mit den Fingerspitzen über ihre weiche Haut zu streichen.
»Iiih!
das kitzelt!« rief sie lachend. »Da schau her! Alles ist verheilt.« Sie
klopfte mit der flachen Hand auf die Narbe.
»Ich
bin so froh«, sagte Peter, der vor Staunen und Rührung kaum ein Wort
hervorbrachte.
»Du
mußt in nächster Zeit tüchtig etwas essen; bei dir kann man alle Rippen zählen«,
meinte er schließlich.
»Ja,
das ist wahr. Aber auch du bist ziemlich dünn geworden, Peter.«
Sie
sprang aus dem Bett, um zum Spiegel an der Wand zu laufen, aber ihre Beine waren
vom langen Liegen noch ziemlich schwach. Sofort war Peter an ihrer Seite und stütze
sie.
»Laß
nur! Ich kann schon gehen. Das war nur im ersten Augenblick«, meinte sie
abwehrend. Als sie dann vor dem Spiegel stand, erschrak sie allerdings sehr.
»Meine
Güte! Wie sehe ich denn aus! Und diese Haare!«
»Du
siehst bezaubernd aus, Lisa«, sagte Peter und legte seinen Arm um ihre
Schultern.
»Heute
Abend wollen wir ein Festmahl zur Feier deiner Rückkehr und meiner Genesung
geben. Was hältst du davon?«
»Wird
das nicht zu anstrengend für dich?«
»Unsinn!
Es geht mir prächtig. Ich fühle mich stark und gesund. Und ich lasse mich
weder von dir noch von Meister Callidon zurück ins Bett schicken.« Sie sprach
diese Worte in jenem überzeugten Ton, den Peter von früher nur zu gut kannte,
um gar nicht erst auf die Idee zu kommen, ihr zu widersprechen.
Als
Peter dem alten Callidon von der vollständigen Heilung Alissandras berichtete
und von dem geplanten Festmahl, war dieser hocherfreut — was ersteres anbetraf
— und besorgt — was letzteres anbelangte. Aber es gelang Peter endlich, ihn
von Alissandras Vorhaben zu überzeugen.
So
kam es, daß alle im Schloß jede Menge zu tun hatten, um alles für den großen
Abend vorzubereiten.
Endlich
war es soweit, da die Trompeten erschollen und die Glocke geläutet wurde. Als
Peter mit Alissandra im Arm die breite Marmortreppe hinunter schritt, die zu
beiden Seiten von der versammelten Leibgarde gesäumt wurde, hub ein lautes
Hurra! und Jubelgeschrei an.
Peter
trug einen nachtblauen, im Kerzenlicht leicht schimmernden Anzug mit Kniehosen
und goldbestickten Bändern. Alissandra war mit einem hellblauen Kleid mit einer
kurzen Schleppe und zahlreichen Applikationen in schneeweißer Seide angetan.
Auf dem kunstvoll frisierten Haupt trug sie das Diadem, welches Peter ihr einst
geschenkt hatte.
Hinter
ihnen gingen Wilo und Tamina. Wilo trug die neue Gardeuniform, was ihm aber
sichtlich unangenehm war, denn in dem engen, hohen Kragen bekam er kaum Luft, so
daß er ständig den Kopf hin und her drehte, was einen komischen Eindruck
machte. Tamina kam in einem etwas altmodischen rotbraunen Kleide daher, welches
ihr aber gut stand. Das lange hellblonde Haar trug sie zum ersten Male offen,
was ihr zahlreiche Blicke seitens der Herren eintrug, die sie mit einem Anflug
schamhafter Röte genießend zur Kenntnis nahm. Auch sie trug das Geschmeide,
das Peter ihr geschenkt hatte.
Das
Festmahl fand in der großen Halle statt, wo eine hufeisenförmige Tafel
errichtet worden war. In der Mitte nahmen Peter und Alissandra Platz.
Kaum
hatten sie sich hingesetzt, da spielte die Musik auf und die Becher wurden mit
Wein gefüllt. An Speisen wurde aufgetischt, was Küche und Keller hergaben, und
was in der Kürze der Zeit aus der Umgebung besorgt werden konnte. Die besten
Weinfässer wurden angestochen. Es sollte an nichts gespart werden, um diesen
Freudentag würdig zu begehen.
Peter
betrachtete die Runde der versammelten Gäste; manche Gesichter kamen ihm
bekannt vor, die meisten aber nicht. Doch das war ihm jetzt gleich. Für ihn zählte
einzig, daß er wieder mit seinen Freunden vereint war.
Der
Krieg war vorbei, der Tyrann gestürzt, die Zeit der Unterdrückung und des
Elends war endgültig vorüber. Doch nun stünde für ihn viel Arbeit an. Er würde
in naher Zukunft ein riesiges Reich beherrschen müssen, was ihm wie eine unlösbare
Aufgabe erschien, denn er war fest entschlossen, ein guter und gerechter
Herrscher zu sein.
Irgendwie
aber wurde es ihm schon ein wenig unheimlich angesichts der Geschwindigkeit, mit
der die Dinge sich entwickelten.
»Was
ist, Peter? Du siehst so nachdenklich aus«, sagte Alissandra und stieß ihn
sachte mit dem Ellbogen an.
»Ich
habe an die Zukunft gedacht. Wie wird alles werden? es gibt so viel zu tun, und
ich weiß nicht, wo ich anfangen und wie ich alles fertigbringen soll.«
»Peter!
Mach dir darüber nicht allzu viele Gedanken. Gemeinsam werden wir alle
Schwierigkeiten bestehen. Und den Blauen Kristall holen wir uns auch zurück.
Meister Callidon hat versprochen, uns mit seiner Kunst zu helfen. Er hat den
Kristall bereits einmal aufgespürt, und das wird ihm wieder gelingen. Aber
jetzt wollen wir feiern und uns nicht verdrießen lassen.«
Sie
schenkte ihm seinen Becher voll roten Wein und stieß mit ihm an.
»Auf
die Zukunft Arkaniens!«
Dem
schlossen sich alle Tischgenossen gerne an. Die Stimmung im Saale war fröhlich
und heiter, und so währte es nicht lange, bis auch Peter seiner trüben
Gedanken vergaß und sich von der allgemeinen Heiterkeit anstecken ließ.
So
wurde dieses fest eines der fröhlichsten und ungezwungensten, die seit langer
Zeit in Arkanien gefeiert wurden. Hier, fern der Hauptstadt und fern von dem
Hofe, achtete man nicht so sehr auf Förmlichkeiten und strenge Zeremonien,
welche die Stimmung hätten verderben und Langeweile aufkommen lassen können.
Das
Fest dauerte bis spät in die Nacht. Es wurde nach Herzenslust gegessen,
getrunken, musiziert, gesungen und getanzt. Peter und vor allem der alte
Callidon hatten ein scharfes Auge auf Alissandra. Obgleich sie durch das
Lebenswasser vollständig geheilt und wieder hergestellt war, fürchtete
Callidon doch, sie könnte durch das lange Liegen noch geschwächt sein und sich
vielleicht überanstrengen. Aber Callidons Befürchtungen erwiesen sich als
unbegründet. Alissandra hatte ihre alte Kondition wiedergewonnen und ließ sich
nur höchst widerwillig ermahnen, behutsamer und gemächlicher zu sein.
Spät
erst gingen die vier Freunde zu Bett; Callidon hatte sich allerdings schon viel
früher zur Ruhe begeben. Ein solches Spektakel, hatte er gesagt, sei nichts für
einen Mann in seinem Alter. Es wurde ihm kam widersprochen, was vielleicht nicht
ganz höflich war, aber verständlich, denn junge Leute sind nun einmal gerne
unter sich.
Am
nächsten Tag kamen die Festgenossen erst sehr spät und ziemlich verkatert aus
den Federn; mit Ausnahme von Alissandra, die ihrer Gewohnheit treu blieb und
lange vor Wilo, Tamina und Peter aufstand. Wilo, der am Vorabend ein bißchen
tief ins Glas geschaut hatte, brauchte seinen Schlaf dringend, Tamina war es
gewohnt, lange aufzubleiben und dementsprechend länger zu schlafen, und Peter
schließlich war eine unverbesserliche Schlafmütze, und würde, wenn man ihn
ließe, wohl den ganzen Tag im Bett verbringen. Für einmal ließ Alissandra ihn
in Ruhe schlummern und zerrte ihn erst zum Mittagessen aus dem Bett.
Den
Nachmittag verbrachten die vier größtenteils jeder für sich, denn sie hatten
alle viel zu tun und für die bevorstehende Abreise in Richtung Hauptstadt
vorzubereiten. Dort wurde Peter nämlich schon lange sehnlich erwartet. Um das
Volk nicht länger im Ungewissen zu lassen, beschloß Peter, daß es das Beste
sei, wenn sie so schnell wie möglich nach Tirania aufbrächen.
So
wurde alles notwendige bereitet, um bereits am folgenden Tage aufbrechen zu können.
Die Vorbereitungen nahmen mehr Zeit in Anspruch, als erwartet, so daß sich die
Abreise um einen halben Tag verzögerte.
Alissandra
pochte vergeblich darauf, zu Pferde zu reiten — Callidon hatte ihren Hengst
Wirbelwind mitgebracht —, denn Peter hielt es für angemessener und auch
bequemer — vor allem für den alten Callidon — sich eines geräumigen, gut
gefederten Reisewagens zu bedienen.
So
zog also nach Mittage ein recht ansehnlicher Troß von Reitern, Wagen und Fußvolk
aus dem alten Königsschloß Caliban aus, welchem sich viele Menschen aus der
Umgebung spontan anschlossen, in Richtung Tirania.
Während
Peter, Alissandra, Tamina und Callidon im Wagen in der Mitte des Zuges reisten,
ritt Wilo an der Spitze mit einer Kompanie Reitern. Dahinter folgte ein spontan
gebildeter Spielmannszug aus Trommlern, Pfeifern und Trompetern, die eine fröhliche
Marschmusik anstimmten, was dem Zuge den feierlichen Anstrich einer Prozession
verlieh. Überall waren Flaggen, Wimpel und Standarten zu sehen, deren
vergoldete Spitzen im Sonnenlicht glänzten. Außer den Soldaten zu Fuß und der
Kavallerie, einem großen Teil der Dienstleute aus dem Schloß, einer fahrbaren
Feldküche, Wagen mit Gerätschaften, Zelten und Vorräten, marschierten auch
nicht wenige Zivilisten aus den umliegenden Dörfern mit.
Bedingt
durch seine Größe und auch durch die Tatsache, daß die meisten Teilnehmer zu
Fuß unterwegs waren, kamen sie nicht sehr geschwind voran, was aber wenigstens
zum Teil dadurch ausgeglichen wurde, daß die täglich bewältigten Strecken
sehr groß waren. Dies zog den Zug allerdings sehr in die Länge, da nicht alle
dem vorgeschriebenen Tempo gleichermaßen zu folgen im Stande waren.
Wo
immer sie vorbei kamen, standen jubelnde Menschen am Straßenrande. Peter konnte
es noch gar nicht fassen, was da geschah. Auf einmal war er der einzige und von
allen umjubelte Regent Arkaniens. Irgendwie kam er sich seltsam dabei vor, auf
einmal im Mittelpunkte des öffentlichen Interesses zu stehen. Hatte er bislang
seine Thronanwartschaft und auch seine spätere oppositionelle Regentschaft
stets als etwas eher theoretisches, rein formelles betrachtet, so genoß er
jetzt auf einmal den tatsächlichen Ruhm und Respekt der Bevölkerung. Ein wenig
unbehaglich, wenn nicht unheimlich war ihm dieser neue Zustand freilich schon,
denn was hatte er schon dazu beigetragen, um Regent oder gar König zu werden?
Durfte er diese Würde überhaupt für sich beanspruchen? Einfach ein magisches
Schwert aus einem Felsblock zu ziehen, das konnte doch nicht ausreichen, um sich
als Herrscher über ein gewaltiges Königreich zu qualifizieren. Das Königsszepter
hatten die Bösewichte für ihn gestohlen, den Blauen Kristall hatte die kleine
Tamina auf abenteuerliche und gefahrenvolle Weise für ihn beschafft. Und er
selber?
Er
hatte es an seine Feinde übergeben, nachdem er sich von ihnen hatte
manipulieren und für ihre schändlichen Pläne mißbrauchen lassen. Er war zwar
nur gerade einen Monat lang »König von Arkanien« gewesen, aber während
dieser Zeit hatte er sich mindestens genau so schlimm wie der alte Tiras aufgeführt.
Warum also sollten die Menschen Vertrauen zu ihm haben, und ihn als ihren rechtmäßigen
Herrscher akzeptieren? Darauf wußte Peter in der Tat keine Antwort.
Doch
er spürte ganz deutlich, daß die Zuneigung und Ehrfurcht der Menschen echt war
und von Herzen kam. Das waren keine bestellten Huldiger, welche auf Kommando
klatschten und ihn hoch leben ließen, die zu Hunderten und Tausenden die Straßen
säumten. Und so wuchs in seinem tiefsten Inneren der Wunsch, sich dieser
Zuneigung würdig zu erweisen. Er wollte ein richtiger König werden, der an
erster Stelle immer nur das Wohl seines Volkes im Sinne hatte, der alles Übel
und jede Gefahr von ihm abwandte. Er würde den Blauen Kristall wiedererlangen
und die Bösewichte endgültig besiegen und bestrafen. Das war er den anderen
schuldige, Tamina, Alissandra, Wilo und allen anderen, die in der Not zu ihm
gestanden waren und für Arkanien jede Gefahr und viel Pein auf sich genommen
hatten.
Das
Nachtlager bezogen Peter und seine Freunde in einer kleinen Stadt am Rande der
Handelsstraße, welche die Küste mit dem Landesinneren und der Hauptstadt
verband. Für sie wurde im besten Hause ein Quartier eingerichtet, und alle
Honoratioren gaben sich die Ehre, ihren neuen Regenten mit einem opulenten
Festmahl zu bewirten. Der Rest des Trosses lagerte auf einem Felde vor der
Stadt, wo zahlreiche helfende Hände sich bereit fanden, ein Feldlager
aufzuschlagen und die Reisenden großzügig mit Wasser und frischen
Lebensmitten, vor allem Brot zu versorgen.
»Freust
du dich nicht, Peter? Du siehst so müde und nachdenklich aus«, meinte Tamina
zu ihm, als sie ihn während des mehrere Stunden dauernden Banketts beim
Spazieren im Garten des Rathauses — dort fand die Feierlichkeit statt —
fand.
»Weißt
du, Tamina, ich fürchte, jetzt fängt das gleiche wieder an, wie damals nach
der Schlacht mit den Schatten und der Eroberung von Carlan. Jeden Tag Empfänge
und Termine, Pflichten über Pflichten. Wo bleibt da die Zeit zum Nachdenken,
oder um sich mit seinen Freunden ein paar schöne Stunden zu machen?«
»Sei
nicht traurig, Peter! Das geht vorbei. Wenn sich die ganze Aufregung erst einmal
gelegt hat, dann werden wir wieder viel mehr Zeit für einander haben.«
»Das
glaube ich nicht. Wenn ich erst einmal in dem riesigen Palast in der Hauptstadt
sitze, dann komme ich überhaupt nicht mehr weg. Ich habe jetzt schon Angst
davor. Ich werde wieder ein Gefangener sein, nur diesmal nicht in einem dunklen
verließ, sondern in einem goldenen Käfig. Manchmal sehne ich mich an die
Zeiten zurück, als unsere Abenteuer erst begonnen hatten. Wir waren frei und
alle aufregenden Dinge lagen noch vor uns. Aber jetzt bin ich schon so etwas wie
eine Institution geworden.«
»Aber
Peter! Denk’ doch nur an die vielen Abenteuer, die noch vor uns liegen. Der
Blaue Kristall muß wiedergefunden werden und die goldene Krone auch.«
»Ja,
die Krone — vielleicht wird sie nie gefunden werden…« Peters Augen schauten
weit in die Ferne.
»Das
klingt beinahe, als wolltest du sie gar nicht finden.«
»Vielleicht
hast du damit gar nicht so unrecht«, murmelte er leise.
»Wie
bitte?«
»Ach
nichts. Laß uns wieder hinein gehen. Hier draußen wird’s langsam zu kalt.«
Das
Fest nahm den üblichen Verlauf. Auch am darauf folgenden Tage geschah nichts
besonderes, außer daß noch mehr Menschen den neuen Regenten sehen wollten.
Am
Abend des dritten Tages schließlich, es war bereits dunkel, tauchten die ersten
Festungswerke der Hauptstadt am Horizont auf. Man konnte sie von weitem an den
Signalfeuern erkennen, mit denen sich die Besatzungen der einzelnen Festungen
bei Nacht über große Entfernungen verständigten.
Hätte
es in Arkanien zu dieser zeit Kanonen gegeben, so wären sie jetzt bestimmt zum
Salut abgefeuert worden. So aber scholl der Ruf der Trompeter und Signalhörner
von allen Bollwerken. Die Stadttore standen weit offen, was früher zu dieser
Nachtzeit undenkbar gewesen wäre. Von der Stadt aus kam dem Troß ein langer
Fackelzug von Bürgern und Stadtknechten entgegen. So zog sich ein funkelndes
Band von Lichtern in vielen Windungen durch die nächtliche Landschaft.
Da
es schon spät war, als Peters Zug die Stadt erreichte, kam man überein, daß
man die Begrüßungsfeierlichkeiten auf eine kurze Ansprache des Bürgermeisters
beschränken wollte und dafür am nächsten Tage einen feierlichen Triumphzug
quer durch die Stadt bis zum Herrscherpalast organisieren wollte.
Da
der feierliche Einzug Peters in den Palast den krönenden Abschluß des
Triumphzuges bilden sollte, wurde für diese Nacht ein Quartier im Zunfthaus der
Schiffer eingerichtet, welches am Rande der Stadt, nahe dem Flußufer lag. Hier
war es ziemlich ruhig und es standen genügend Betten zur Verfügung, da das
Zunfthaus auch eine Art von Herberge für Zunftbrüder auf der Durchreise war.
Nach
einem letzten Umtrunk mit dem Zunftmeister war Peter froh, daß er endlich sein
müdes Haupt zur Ruhe betten durfte. Er fiel sogleich in einen tiefen Schlaf und
hätte wohl auch die ganze Nacht durchgeschlafen, wenn nicht etwas höchst ungewöhnliches
geschehen wäre.
Es
ereignete sich gegen drei Uhr Nachts, daß ein helles Leuchten den Himmel in ein
gespenstisches, blendendes, blauweißes Licht tauchte, kurz darauf entlud sich
ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Das wäre nicht besonders ungewöhnlich
gewesen, und hätte ganz nach einem plötzlich einsetzenden Gewitter ausgesehen,
wenn nicht zugleich die Erde heftig gebebt hätte. Ein Erdbeben dieser Stärke
hatte sich seit Menschengedenken in dieser Gegend nicht ereignet.
Peter
schrak aus dem Schlaf
hoch. Das erste, was er wahrnahm, war ein dichter Rauch im Zimmer und das
kreischende Geschrei vieler Menschen.
Noch
bevor er begriff, was los war, ging die Tür auf und ein halbes Dutzend Leute,
darunter Alissandra und Tamina stürzten herein. Alle waren leicht bekleidet, so
daß Peter bei ihrem Anblick unwillkürlich grinsen mußte.
Im
Lichte des Kerzenleuchters, den einer trug, erkannte Peter, daß der Rauch im
Zimmer keiner war, sondern eine Staubwolke aus Ruß aus dem Kamin und Verputz,
der in mehreren größeren und kleineren Brocken von der Decke gefallen war.
»Peter!
Bist du in Ordnung?« fragte Alissandra. Sie war sehr aufgeregt. Auch Tamina
stak der Schrecken noch in den Gliedern.
»Was
ist den los? was hat das alles zu bedeuten?« fragte er, aber statt einer vernünftigen
Antwort zerrte Alissandra ihn aus dem Bett, und einer der Herren rief, sie
sollten schleunigst das Haus verlassen, bevor alles einstürze.
»Bitte,
Hoheit, hier entlang. Auf der Straße ist es nicht sicher«, sagte der
Zunftmeister, als sie fröstelnd in ihren Nachthemden auf der Straße standen,
wo überall verängstigte Menschen schreiend und weinend herum liefen. Peter kam
sich ziemlich unbehaglich vor.
Jetzt
erst sah Peter das Ausmaß der Zerstörung: das Straßenpflaster war übersät
mit Glassplittern, zerbrochenen Dachziegeln und Mörtelbrocken.
»Was?
Ein Erdbeben? Gibt es Opfer?« fragte er bestürzt. Erst langsam begriff er, was
vorgefallen war. Er hatte so fest geschlafen, daß er erst aufgewacht war, als
das Beben bereits vorüber war.
»Das
weiß niemand, Hoheit. Aber wie es scheint, sind keine Häuser eingestürzt, so
daß das Schlimmste verhütet wurde.«
»Die
Leute sollen aufpassen. Nach einem Erdbeben ereignen sich meistens mehrere
Nachbeben«, warnte er.
In
der Stadt herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Alles was Beine hatte war auf
der Straße. Überall hörte man Lärm und Geschrei, dazu bimmelten die
Feuerglocken und die Hörner der Türmer bliesen Alarm.
»Was
sollen wir jetzt tun?« fragte Tamina frierend. Sie zitterte am ganzen Leib, was
aber von der Kälte herrührte, denn sie stand barfüßig und nur mit einem dünnen
Nachthemd angetan neben Peter.
»Ihr
müßt sofort die Stadt verlassen und euch in Sicherheit bringen!« sagte einer
der Umstehenden.
»Nein,
nein! Das ist ganz ausgeschlossen. Ich bleibe hier, um nach dem rechten zu
sehen. Und ihr beiden geht sofort wieder hinauf und zieht euch etwas an!«
befahl er den beiden Mädchen, ganz vergessend, daß auch er nicht gerade
standesgemäß adjustiert war.
Gerade
wollten sich die drei umwenden, um wieder ins Haus zurückzukehren, als ihnen
der alte Callidon entgegen lief. Er war aufgeregt und rief immerzu etwas unverständliches.
»Ach,
da seid ihr ja! Ich muß sofort mit dir sprechen, Peter. Es ist dringend.«
»Ja,
ja, aber regt Euch bitte nicht so auf. Es war doch nur ein leichtes Erdbe…«
»Papperlapapp!
Erdbeben! Das war kein Erdbeben«, brummte er verdrießlich.
»Aber
war soll es denn sonst…« Peter kam gar nicht zu Worte, denn Callidon zupfte
ihn am Ärmel und zog ihn ins Haus.
»Kommt
mit hier hinein. Das muß nicht jeder hören«, sagte er und stieß eine Tür
auf.
Nachdem
er die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen und einige Kerzen angezündet
hatte, sah er in die gespannten Gesichter der drei und hub an zu sprechen: »Was
ihr heute Nacht erlebt habt, war das, was geschieht, wenn einer versucht, den
Blauen Kristall ohne das Szepter zu gebrauchen.«
»Der
Blaue Kristall!« riefen Alissandra, Peter und Tamina wie aus einem Munde.
»Ja,
das hätte ich mir denken können«, sagte Peter leise. Auch er hatte einmal den
Blauen Kristall benutzt, ohne den Schutz des Szepters. Aber er hatte die Wirkung
nicht erlebt und die Zerstörungen nicht gesehen, die der Kristall hinterlassen
hatte.
»Begreifst
du jetzt, was für eine Macht der Blaue Kristall hat? Und das ist nur der
Anfang. Bei jedem Male, wo der Kristall gebraucht wird, gibt er mehr Energie ab,
bis er eines Tages die ganze Welt zerstört.«
»Das
ist ja schrecklich«, sagte Alissandra.
»Wir
müssen uns sofort auf die Suche nach Kalorim und Verdel machen, dann finden wir
auch den Kristall«, sagte Peter.
»Meister!
Könnt Ihr uns nicht helfen, den Kristall aufzuspüren?« fragte Alissandra.
»Ich
will es versuchen. Aber mein Gefühl sagt mir, daß ich dieses Mal wenig Erfolg
haben werde«, erwiderte Callidon geheimnisvoll.
»Was
können sie mit dem Blauen Kristall angestellt haben?« fragte Tamina. Peter
runzelte die Stirn und zuckte ratlos mit den Schultern.
»Ich
schlage vor, daß ihr beiden euch jetzt wieder in eure Betten legt und schlaft,
während ich versuche, Wilo zu finden und ein wenig Ruhe zu stiften«, sagte
Peter zu den beiden Mädchen.
Noch
bevor Alissandra Gelegenheit bekam, Protest zu erheben, war Peter schon fort. Er
brauchte gar nicht lange nach Wilo zu fahnden, denn er traf diesen gleich vor
dem Hause.
»Wie
steht’s?« fragte er.
»Es
gibt einige Hundert leicht Verletzte, drei Leute sind vor Schreck gestorben,
sonst keine Verluste. Aber ein ganz schöner Schaden. Das Beben muß ganz in der
Nähe stattgef…«
»Kein
Beben!« unterbrach Peter ihn knapp. »Ich erklär’s dir gleich.« Er zog Wilo
in einen Hauseingang und klärte ihn mit wenigen Worten über die Lage der Dinge
auf.
»Kannst
du einen kleinen, aber schlagkräftigen Trupp von zuverlässigen, kampferprobten
Leuten zusammenstellen, damit wir sobald Callidon den Blauen Kristall aufgespürt
hat, sofort zuschlagen können?«
»Das
geht in Ordnung. Ich kümmere mich sogleich darum.«
In
diesem Augenblick kam ein Reiter im Galopp um die Straßenecke geprescht, daß
die Hufeisen Funken schlugen.
»Das
ist einer von meinen Männern«, sagte Wilo. »Was mag der hier wollen?«
Der
Reiter hielt an, sprang vom Pferd, grüßte Wilo und wollte gerade Meldung
erstatten, als er Peter sah und zögernd inne hielt. Peter bemerkte dies wohl
und sagte leicht verdrießlich: »Ihr könnt ruhig vor mir sprechen. Ich bin
zwar nur der neue Regent von Arkanien, aber falls Ihr Herrn Wilbur lieber allein
sprechen wollt…«
Der
junge Mann wurde tiefrot, sank auf die Knie und stotterte untertänigst eine
Entschuldigung. Mit gesenktem Haupt verharrte er in dieser Stellung, ohne Peter
dabei anzusehen. Wahrscheinlich wartete er darauf, daß ihm der Kopf
abgeschlagen wurde, was bei dem alten Regenten in dieser Situation sogar höchst
wahrscheinlich geschehen wäre.
Peter
aber hieß ihn grinsend sich zu erheben und seine Meldung zu machen.
»Hoheit!
Es ist uns gelungen — ich meine, ein Spähtrupp hat vor zwei Stunden —
also…« Er war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte.
»Was
denn? Mann, rede endlich!« rief Peter heftig.
»Der
Regent Tiras… äh — Ich meine, der abgesetzte, ehemalige Regent Tiras und
sein Sohn Tibor wurden gefangen genommen. Aber Tiras ist tot. Er muß wohl ein
Gift geschluckt haben. Unser Feldarzt hat ihn untersucht, aber es war zu spät.
Die anderen sind im Feldlager. Was soll mit Ihnen geschehen? Oberst Mundo schlägt
vor, sie auf die Feste Sternberg zu bringen und dort einzusperren.«
»Ausgezeichnet!
Sternberg, ist das nicht die große Festung im Osten der Stadt?«
»Jawohl,
Hoheit!«
»Gut,
es soll so geschehen. Alle Gefangenen sollen dort festgesetzt werden, bis ich
entscheide, was weiter mit ihnen geschehen wird«, befahl Peter. Der junge Mann
grüßte militärisch und stieg wieder auf sein Pferd.
»Wenigstens
eine Sorge weniger«, murmelte Peter, während er mit Wilo zurück ins
Schifferhaus ging.
»Vielleicht
kann ich heute doch noch eine oder zwei Stunden schlafen«, brummte er.
Die
Nachricht vom Tode des verhaßten Tyrannen und der Gefangennahme seines Sohnes
und mehrerer hoher Beamter und Generäle verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die
angekündigte Parade des neuen Herrschers Peter sollte trotz des Bebens planmäßig
stattfinden. So waren in dem allgemeinen Jubel die Schrecken der vergangenen
Nacht bald vergessen.
Seit
den frühen Morgenstunden waren alle Einwohner auf den Beinen, um die Trümmer
zu beseitigen und die Marschroute des Zuges mit Blumen und Flaggen zu schmücken.
Natürlich gab es noch keine neuen Flaggen, so behalfen sich die Leute
einerseits mit antiken Flaggen aus der Zeit König Brunnars, andere wiederum
schnitten das Wappen von Tiras aus den vorhandenen Flaggen heraus, was zwar
nicht schön aussah, aber von um so tieferer Symbolik war.
Der
Triumphzug sollte am Schifferhaus beginnen und quer durch die Stadt zum Palast führen,
wo Peter feierlich seinen Einzug halten sollte. Irgend jemand hatte
vorgeschlagen, Peter solle in einem alten Streitwagen mit einem Viergespann von
Schimmelhengsten fahren. Zum Glück konnte Peter den anderen, die von dieser
Idee ganz begeistert waren, wieder ausreden. Am liebsten würde er auf
Mondenglanz reiten, aber sein geliebtes Pferdchen war seit Alissandras Entführung
verschollen. Alissandra bot ihm an, Wirbelwind zu reiten. Anfangs war er noch
skeptisch, da er an seine Erfahrungen bei der Parade in Carlan dachte, aber weil
er inzwischen schon viel besser reiten konnte, und er Alissandra nicht
verletzten wollte, nahm er das Angebot dankend an.
Das
Wetter war trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch warm und zuweilen zeigte
sich sogar die Sonne, so daß der Triumphzug ein Riesenspektakel und ein voller
Erfolg wurde. Hunderttausende säumten die Straßen. Neben den Einwohnern von
Tirania — der Name der Stadt sollte baldmöglichst geändert werden —
vielleicht in Petersburg, wie Peter scherzhaft vorschlug — waren auch viele
Menschen, zum Teil von weither, eigens angereist, um diesem denkwürdigen
Schauspiel beizuwohnen.
An
der Spitze des Zuges ritt ein Fahnenträger, dahinter kam ein riesiger
Spielmannszug, dann folgte Peter mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupt und mit
einem purpurroten Umhang angetan auf Wirbelwind reitend. Hinter ihm folgte ein
offener Wagen mit Tamina, Alissandra und Callidon, darauf Wilo an der Spitze der
Ehrengarde; dahinter folgten dann weitere Musikzüge der einzelnen Regimenter
und Garden, sowie mehrere Kompanien Soldaten, Bogenschützen und Kavallerie. Den
Abschluß bildete eine bunte Volksmenge, der sich jeder anschloß, der Lust dazu
hatte.
Der
Umzug dauerte gute zwei Stunden und war für alle Beteiligten sehr anstrengend,
aber keiner wollte dieses unbeschreibliche, einmalige Erlebnis missen.
Der
Zug endete auf dem großen Platz vor dem Hauptportal des Palastes. Die
Stadtknechte hatte alle Hände voll damit zu tun, die vor Begeisterung tobende
Volksmenge zurückzuhalten.
Peter
erlebte diesen Triumphzug wie im Rausch. Alles kam ihm so unwirklich vor, wie in
einem Traum.
Auf
dem Platz fand in einer schlichten Zeremonie die Übergabe der Stadtschlüssel
an Peter durch den Schultheiß statt. Peter mußte eine kurze Ansprache halten,
was ihm nicht so schwer fiel, insbesondere, da vermutlich die wenigsten der
Anwesenden seine Worte vernehmen konnten. Trotzdem jubelten alle und riefen
dreimal »Hurra!« als Peter seine Rede beendet hatte. Daraufhin verschwand der
Troß hinter den Palastmauern und die Volksmenge verlief sich allmählich in die
Wirtshäuser und Schankstuben, um dort gebührend weiter zu feiern.
Peter
und sein Gefolge indessen betraten den Palast, wo das gesamte Dienstpersonal und
die Palastwache am Eingang Spalier standen, um ihren neuen Herrn willkommen zu
heißen.
Das
Innere der Palasträume, soweit Peter sie in Augenschein nahm, präsentierten
sich in einem nur notdürftig aufgeräumten Zustande. Die früheren Bewohner
hatten den Palast Hals über Kopf verlassen und dabei einiges beschädigt oder
mitgenommen. Aber im Wesentlichen waren die Schäden gering und konnten innert
wenigen Wochen beseitigt werden.
Peter
beschloß, nicht in die Privatgemächer von Tiras einzuziehen, sondern sich
provisorisch in einem anderen Flügel des riesigen Gebäudes einzurichten, bis
alles nach seinem Geschmack angepaßt wäre. Zimmer gab es genug, zählte doch
allein das Hauptgebäude annähernd eintausend Räume.
»Irgendwie
ist es unheimlich hier«, meinte Tamina angesichts der gigantischen Ausmaße,
und sprach damit allen aus der Seele.
»Keine
Sorge, mit der Zeit werden wir schon eine Lösung finden. Aber ich denke, fürs
erste wird es reichen«, sagte Peter und lachte.
Die
erste Nacht in ihrem neuen »Heim« war für die vier Freunde alles andere als
behaglich. Jeder fühlte sich in den riesigen Sälen und endlosen Korridoren
verlassen und fremd, aber keiner wagte es, dies den anderen gegenüber
einzugestehen. So sagte jeder, er sei mit seiner Unterbringung zufrieden und
ging zu Bett. Doch weder Peter noch Alissandra, noch Tamina löschten in dieser
Nacht das Licht.
Am
anderen Morgen wurden sie von ihren persönlichen Leibdienern geweckt, welche
ihnen das Frühstück ans Bett servierten, worüber Peter sich freute,
Alissandra sich erboste und Tamina sich sehr wunderte.
Aber
sie konnten froh darüber sein, denn als Callidon sie wenig später
zusammenrufen ließ und ihnen die letzten Neuigkeiten berichtete, hätten sie
keinen Bissen mehr hinabgebracht.
»Meister
Callidon, was habt Ihr uns wichtiges zu berichten, daß Ihr uns so früh
aufsucht?« fragte Wilo, der noch ein Brötchen vom Frühstück in der Hand
hielt.
»Es
ist sehr ernst; es geht um den Blauen Kristall«, sagte Callidon und seine
ernste Miene ließ sogar dem abgebrühten Wilo des Bissen im Halse stecken
bleiben.
»Sagt,
habt Ihr ihn aufspüren können? Wo ist er?« fragte Peter.
»Er
ist nicht mehr hier«, sagte Callidon langsam.
»Ja,
ja, das wissen wir.«, entgegnete Alissandra ungeduldig.
»Ich
meine damit, daß er sich nicht mehr in Arkanien befindet.
»Sie
haben das Land verlassen? Aber wohin? Nach Tribanthia?« fragte Wilo.
»Oder
über das Meer?« mutmaßte Tamina. Callidon schüttelte langsam den Kopf.
»Nein,
der Blaue Kristall ist nicht mehr in dieser Welt.«
»In
welcher denn?« fragte Tamina verblüfft.
»In
meiner natürlich«, sagte Peter niedergeschlagen. »Und ich habe sie noch auf
die Idee gebracht, weil ich ihnen davon erzählt habe. Und sie waren sehr
interessiert.«
»Aber
was wollen sie dort?« fragte Wilo.
»Sie
werden sich Waffen und Technologien beschaffen, mit denen sie Arkanien erobern können.«
»Wir
müssen sie aufhalten. Aber wie? Gibt es keine Möglichkeit, ihnen hinterher zu
folgen?« fragte Alissandra. Callidon dachte lange schweigend nach, dann sagte
er bedächtig: »Es gibt einen Weg, Alissandra, aber er ist gefährlich.«
»Das
macht nichts. Wir werden sie verfolgen und ihnen den Kristall abnehmen. Außerdem
sind wir ihnen gegenüber im Vorteil. Ich kenne mich dort gut aus, Kalorim und
Verdel aber nicht.«
»Nein,
Peter. Du kannst nicht zurück gehen.«
»Aber
warum nicht? Ihr habt doch gesagt, wenn ich wollte, dann…«
»Ja,
das stimmt. Aber jeder kann nur ein einziges Mal hinüber; wenn er zurückkehrt,
dann muß er für immer dort bleiben. Das gilt genauso für einen Arkanier.«
Peter
schwieg betroffen.
»Dann
gegen Alissandra und ich«, sagte Tamina zur Überraschung aller.
»Das
ist doch nicht dein Ernst, Tamina!« rief Peter.
»Doch,
es sei denn Alissandra will nicht…«
»Natürlich
bin ich mit dabei!«
»Es
wäre mir lieber, jemand anderer ginge«, sagte Peter.
»Aber
überlege doch, Peter! Tamina und ich sind die einzigen Menschen in Arkanien,
die ein wenig Bescheid wissen über deine Welt, weil du und so viel erzählt
hast. Das wird ein großer Vorteil sein.«
»Es
können aber nur zwei die Reise antreten. Der Durchgang ist nicht größer«,
sagte Callidon geheimnisvoll, ohne sich weiter zu erklären. »Und ihr müßt
sofort aufbrechen.«
»Wie
können wir in Peters Welt gelangen?« fragte Tamina.
»Es
gibt einen Ort, wo sich zuweilen ein Durchgang öffnet — Fragt mich nicht wo.
Das muß ich verschweigen, aber ich kann euch dorthin führen.«
»Alissandra,
willst du das wirklich?«
»Ja,
Peter! Wir werden schon gut auf einander achtgeben. Das verspreche ich dir.«
»Ich
muß noch einiges vorbereiten. Um drei Uhr brechen wir auf. Haltet euch bereit«,
sagte Callidon und machte sich unverzüglich auf den Weg.
Die
folgenden Stunden vergingen wie im Fluge. Peter versuchte, den beiden Mädchen
noch so viel wie möglich über seine Welt zu erzählen. Beide machten sich
Notizen ein einem kleinen Bächlein. Ob das helfen wird?
Dann,
endlich, nahte die schwere Stunde des Abschiedes. Peter und Alissandra lagen
sich in den Armen.
»Kehre
bald wieder, Lisa! Ich wüßte nicht, was ich ohne dich anfangen sollte«, sagte
Peter leise in ihr Ohr.
»Ich
werde immer an dich denken, Peter. Und ich verspreche dir, das ich den Blauen
Kristall wiederbeschaffe, für dich und für Arkanien.«
Sie
küßten sich lange und innig, und für diesen kurzen Augenblick vergaßen sie
alles, ihre Mission, den Blauen Kristall, Arkanien. Dieses überwältigend Gefühl
von Liebe und Schmerz durchdrang beide und machte diesen Augenblick zu dem schönsten
in ihrem Leben.
Wird
es den beiden Mädchen gelingen, den Zauberer Kalorim und der Hexe Verdel den
Blauen Kristall abzujagen?
»Ja«,
sagte Alissandra, »ganz bestimmt!«
Und
natürlich hatte sie damit recht.
Ende
Epilog
Alissandra
und Tamina begaben sich mit dem alten Meister Callidon fort. Sie gelangten nach
kurzer Reise an den magischen Ort, dessen Geheimnis Callidon hüten mußte, wo
ihre abenteuerliche Reise in die neue, geheimnisvolle, unbekannte Welt ihren
Anfang nehmen sollte.
»Seht
ihr diesen Schacht, wo es glitzert und flimmert? Da müßt ihr hinein. Ihr müßt
euch gut aneinander festhalten, damit ihr nicht etwa getrennt werdet. Das ist
sehr wichtig«, schärfte Callidon ihnen ein.
»Viel
Glück! Und auf Wiedersehen!«
»Auf
Wiedersehen, Meister Callidon! Und sagt Peter, er soll nicht traurig sein und…«
Alissandra wußte nicht mehr, was sie noch sagen sollte. »Bist du bereit,
Tamina?«
»Ja!«
»Dann
los!«
Alissandra
packte Taminas Hand, und mit einem großen Satz sprangen sie in die flirrende Öffnung
im Boden.
Der
alte Callidon blieb allein zurück. Lange blieb er noch stehen und schaute den
beiden hinterher.
»Macht’s
gut, ihr beiden tapferen Mädel!« sagte er mit einem zuversichtlichen Lächeln
auf den Lippen.
Für Alissandra und Tamina aber war dies der Anfang eines neuen, aufregenden Abenteuers, der
Jagd
nach dem Blauen Kristall.
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