Zweites Kapitel

 

Fatale Neugier

 

 

Der nächste Tag begann für Kirina nicht besonders gut. Bei der Gruppenbesprechung nach dem Frühstück fehlte Naru. Noch bevor Kirina Gelegenheit bekam, sich darüber aufzuregen oder irgendwie zu äußern, wurde sie in das Sprechzimmer des Kommandanten gerufen.

Kapitän Cordian machte ein besorgtes Gesicht, als er Kirina einen Sessel anbot. Das war recht ungewöhnlich, denn normalerweise ließ der Kommandant seine Kadetten gerne stehen, bevorzugt in der Achtungsstellung. Er musterte Kirina aufmerksam, bevor er das Wort an sie richtete.

»Wie du bemerkt hast, ist deine Kameradin Naru heute nicht zum Dienst erschienen. Sie hat gestern eine schlimme Nachricht erhalten. Vielleicht weißt du bereits, wovon ich spreche.«

»Ich vermute, das Oberkommando der Akademie hat sie entlassen, was mich nicht weiter überrascht, angesichts…«

»Unsinn! Wie kommst du bloß darauf? Niemand denkt daran, Naru zu entlassen. Vielmehr hat sie selber mich gestern gebeten, auf ein anderes Schiff versetzt zu werden. Ich habe es mir lange überlegt, ob ich dem Antrag zustimmen sollte. Normalerweise würde ich ein derartiges Ansinnen rundweg ablehnen. Unstimmigkeiten unter den Kadetten oder ein schlechtes Betriebsklima sind für mich kein Grund, davonzulaufen. In diesem Falle aber, habe ich beinahe den Eindruck, daß es wirklich das Beste wäre, wenn ein Mitglied der Mannschaft ausgetauscht würde.«

Kirina traute ihren Ohren nicht. »Naru hat um ihre Versetzung gebeten? Aber wieso? Ich meine, was paßt ihr auf der Pexxt nicht?«

»Ich will es rundweg sagen: das Problem bist du, Kirina.«

»Was? Hat mich diese Intrigantin etwa angeschwärzt?«

»Nein, Kirina, im Gegenteil, Naru war die einzige, die den Antrag nicht unterschrieben hat.«

Cordian nahm ein Dossier zur Hand. Er schlug den Deckel auf und entnahm ihm ein Papier, welches er Kirina über den Tisch zuschob. Es war eine Bittschrift der Kadetten an den Kommandanten. Es enthielt nur einen Absatz, eine einzige Forderung: der Kadett III. Klasse Kirina Aina möge wegen unüberwindlicher Differenzen von dem Schiff entfernt werden. Es trug die Unterschriften aller ihrer Kameraden.

Kirinas Miene war wie versteinert. Mit ruhiger Stimme sagte sie: »In diesem Fall gibt es wohl nicht mehr viel zu bereden. Ich werde unverzüglich meine Sachen packen. Ich nehme an, daß ich auf der Station POLEC abgesetzt werden werde.«

Cordian fixierte sie scharf. »Macht es dir gar nichts aus, wenn deine Kameraden dich geschlossen zum Teufel wünschen?«

Kirina sagte nichts. Sie preßte die Lippen aufeinander, ihre Augen verengten sich. Cordian schüttelte den Kopf. »Du brauchst nicht zu packen«, sagte er langsam. »Ich werde dem Antrag nicht entsprechen. Du bleibst bis auf weiteres auf der Pexxt. Ich erwarte aber, daß ihr die Angelegenheit unter euch bereinigt. So lange ihr euren Dienst pflichtgemäß verseht, mische ich mich nicht ein. Wenn es aber zu Unregelmäßigkeiten kommen sollte, dann werde ich hart durchgreifen.«

Kirina nickte und erhob sich. Im Hinausgehen wandte sie sich noch einmal um.

»Darf ich fragen, was für eine Nachricht Naru erhalten hat? Ich meine, wird sie morgen wieder zum Dienst erscheinen?«

»Ihr Bruder wurde vom Oberkommando für tot erklärt, nachdem sein Schiff nach einem Gefecht mit einer Bande von Piraten vier Wochen lang verschollen war. Es war ihr Zwillingsbruder. — Es wäre gut, wenn sich jemand ein wenig um sie kümmern würde. Ich möchte dich bitten, dich in der nächsten Zeit von ihr fern zu halten und sie in Ruhe zu lassen.« Kirina nickte stumm, grüßte und ging hinaus.

Die Stunden des Vormittags zogen sich schleppend dahin. Kirina arbeitete wie besessen, um ihr Tagespensum möglichst rasch abzuarbeiten.

 

Kirina läutete an Narus Tür. Keine Antwort. Das war merkwürdig, denn um diese Zeit pflegte sie sich gewöhnlich in ihrem Quartier aufzuhalten. Kirina hielt den Knopf gedrückt. Endlich vernahm sie Narus Stimme: »Wer ist denn da?«

»Ich bin’s, Kirina.«

»Verschwinde und laß mich in Ruhe!«

»Ich muß mit dir sprechen. Bitte mach auf.«

»Kannst du Naru nicht endlich in Ruhe lassen?« Kirina drehte sich um. Hinter ihr stand Jokai. Er sah sehr zornig aus.

»Mische dich nicht ein. Hast du nichts zu tun?«

»Ich dulde es nicht länger, daß du Naru weiter quälst.«

»Ich befehle dir, dich in deine Kabine zu begeben.«

»Deine Befehle können mir gestohlen bleiben. Ich denke, es ist an der Zeit, daß dir endlich mal jemand eine Lektion erteilt.« Jokai stellte sich drohend zwischen Kirina und der Kabinentür auf. Kirina schubste ihn zur Seite. Er packte sie am Arm. Es gab eine heftige Rangelei.

Das Ergebnis war, daß Jokai mit einer heftig blutenden Nase auf dem Boden lag, während Kirina von zwei Sternenkriegern mit Gewalt von ihm weggezerrt werden mußte.

Jokai erhielt ein Pflaster und zwei Tage Arrest wegen Befehlsverweigerung und Tätlichkeit, Kirina wurde verwarnt und mit zehn Stunden zusätzlicher Arbeit belegt.

Dieser Zwischenfall bildete die Grundlage der kommenden, folgenschweren Ereignisse.

 

An nächsten Tag erhielt die Pexxt einen dringenden Funkspruch des Transportschiffes K-155-009. (Leider war es in den letzten Jahren aus der Mode gekommen, neuen Raumschiffen einen Namen zu geben. Das Sternenflottenkommando hielt es anscheinend für völlig ausreichend, wenn jedes Schiff eine Seriennummer trug.)

Der Inhalt des Funkspruches war folgender: Aufgrund eines schweren Maschinenschadens an den Hauptantriebsaggregaten, konnte das Schiff, den Planeten P XXIV nicht anfliegen. Die Pexxt wurde gebeten, zwei Gefangene und einen Behälter mit einer fremdartigen Lebensform zu übernehmen und nach Patallar zu transportieren, der nur wenige Tagesreisen entfernt war. Der Transport von Gefangenen gehörte zwar nicht zu den Standardaufgaben der Pexxt, aber in der Vergangenheit war dies schon öfter vorgekommen, so daß der Auftrag nicht als sonderlich spektakulär oder gefährlich eingestuft wurde.

Das Schiff verfügte über zwei ausreichend gesicherte Arrestzellen, von denen eine zur Zeit von Jokai belegt war. Da die Gefangenen als besonders gefährlich geschildert worden waren, hatte man sie sicherheitshalber tiefgefroren.

Die Kryogenik galt als eine bewährte Technologie, welche nicht nur zum Transport besonders gefährlicher Individuen eingesetzt wurde, sondern auch auf langen Forschungsreisen, die trotz modernster Hypertunnelantriebe zum Teil mehrere Jahre dauern konnten, wobei die Mannschaft die Reise ganz oder teilweise in tiefgefrorenem Zustand überdauerte.

Der Stoffwechsel kommt durch die Kälte beinahe völlig zum Erliegen. Durch eine besondere Technik nimmt der Körper aber keinen Schaden und kann nach Jahren wieder aufgetaut werden, ohne daß sich der Betroffene der Dauer des Schlafes bewußt ist. Theoretisch soll es sogar möglich sein, einen Menschen über hundert Jahre lang in diesem Zustand zu erhalten, was aber bislang noch niemand ausprobiert hatte. Mehr als zehn Jahre hatte noch kein Mensch in einer Kälteschlafkammer zugebracht, obgleich nach einem Beschluß des Unionsrates eine maximale Aufenthaltsdauer von zwanzig Jahren zulässig war.

Das Treffen mit der K-155-009 war vor allem für die Kadetten der Pexxt ein denkwürdiges Erlebnis. Das Transportschiff der Krypton-Klasse gehörte zur Ersten Sternenflotte. Es war gut zweieinhalb Mal größer als die Pexxt, seine Besatzung bestand aus nur vierundzwanzig Mann, was für die Bedienung des Schiffes aber völlig ausreichte. Die Aufgabe der K-155-009 war der Transport von Truppen, militärischer Fracht und von Nachschub für die Raumbasen.

Die Kadetten erhielten alle — mit Ausnahme des unglücklichen Jokai — die Erlaubnis, das Transportschiff zu besichtigen. Für die Besichtigung und die Übergabe der Gefangenen waren zwei Stunden vorgesehen.

Tief beeindruckt von der Größe des Schiffes und dessen modernster Technik kehrten die Kadetten auf die Pexxt zurück.

Während den folgenden Tagen versuchte Kirina mehrmals vergeblich mit Naru ins Gespräch zu kommen.

Dafür fand aber ein anderes Gespräch statt; nämlich zwischen Jokai und Yoshi.

»Ich finde, es ist an der Zeit, Kirina ein Lektion zu erteilen«, sagte Jokai. »Sie soll mal so richtig auf die Schnauze fallen.«

»Ich weiß, was du meinst. Aber handeln wir uns damit nicht noch mehr Ärger ein? Auf dich hat der Alte ohnehin ein Auge.«

»Willst du etwa kneifen?«

»Nein, nein«, beeilte sich Yoshi zu versichern. »Hast du schon eine Idee?«

»Vielleicht — Ich muß gerade daran denken, daß Kirina die unteren Frachträume aufräumen muß. Dort ist es ziemlich ruhig und abgelegen.«

»Willst du ihr dort unten auflauern? Ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß du mit ihr allein fertig wirst und auf meine Hilfe kannst du dabei nicht zählen. Ich bin gerne bereit jemandem einen derben Streich zu spielen, aber ein Mädchen verprügeln ist nicht meine Sache.«

»Ich dachte an etwas anderes. Hast du die Gefangenen schon gesehen?«

Yoshi kicherte. »Willst du ihr einen Psyllion ins Bett legen? Das wäre komisch. Da würde ich gerne ihr Gesicht sehen. Aber die Biester sind zu gefährlich und außerdem hat sie der Doc im Laboratorium sicher verwahrt.«

Jokais Augen leuchteten. »Das ist die Idee. Natürlich, die Psyllion!«

»Du denkst doch nicht im Ernst daran…«

»Wir könnten doch so tun, als ob die Psyllion entwichen sind. Die Dinger sehen aus wie große graue Würmer. Mit etwas Geschick ließen sich einige täuschende Attrappen basteln. Die Tore der Frachträume lassen sich von außen verriegeln. Mit deinen Kenntnissen könntest du die Intercom-Anlage außer Betrieb setzen. Dann kann sie sich die Lunge aus dem Leib schreien, ohne daß jemand etwas davon mitkriegt. Mit ein paar Spezialeffekten, verwandeln wir den Frachtraum in die reinste Geisterbahn.«

»Du bist genial, Jokai. Sind dort unten nicht auch irgendwo die Gefangenen untergebracht?«

»Ja, im Frachtraum 1. Wieso?«

»Der eine soll ein Roboter sein.«

»Ein Android, ein ARCON. Ich glaube einer der neueren, Baureihe 4 oder 5. Und der andere ist ein durchgedrehter Wissenschaftler. Er soll sein eigenes Laboratorium in die Luft gejagt haben.«

»Ich frage mich, wie die beiden aussehen. Da könnte man vielleicht…«

 

Cordians Lagebesprechung wurde von Ingenieur Hool unterbrochen.

»Kapitän, wir haben ein kleines Problem. Das Schiff ist wieder einmal leck.«

»Das darf doch nicht wahr sein; nicht schon wieder! Ist es schlimm?« polterte Cordian los. Es war in der Tat nicht das erste Mal, daß irgendwo ein Leck aufgetreten war. Durch den Druckunterschied ging jedesmal wertvoller Sauerstoff verloren. In der Regel handelte es sich um undichte Ventile oder Druckschleusen, die nicht mehr ganz dicht schlossen. Das war in der Regel nicht sehr gefährlich, aber auf die Dauer wurden die Verluste und die ständigen Reparaturen lästig. Das Problem kannte man schon seit geraumer Zeit. Da aber die Pexxt schon recht betagt war und ihre Tage gezählt waren, scheute das Sternenflottenkommando die Ausgabe, das Schiff total revidieren zu lassen, solange nicht ein erheblicher Defekt auftrat.

»Hat es noch Zeit bis wir die Station erreichen?«

Hool kratzte an seinem Bärtchen und sagte: »Im Prinzip schon. Aber es handelt sich um die Notausstiegsschleuse 11. Und die Sicherheitsvorschriften besagen…«

»Ja, ja, ich kenne die Vorschriften. Lassen Sie zwei Mann abstellen, um die Reparatur auszuführen — das heißt — warten Sie. Das wäre eine Aufgabe für unsere Jungs. Die müssen ohnehin eine Anzahl Stunden im Vakuum arbeiten. Wir hatten bislang wenig Gelegenheit das zu üben.«

Cordian blickte in die Runde. »Kadetten! meldet sich jemand freiwillig?«

Obgleich die Arbeit nicht besonders schwierig war, verspürte keiner der Anwesenden besondere Lust, Stunden in einem der engen und steifen Raumanzüge zu verbringen, in denen man immer entweder schwitzte oder fror. Daher hatte ein jeder plötzlich irgend etwas zu tun. Kirina blickte belustigt in die Runde. Sie mußte unwillkürlich grinsen, als sie sah, wie ihre Kameraden eifrig in ihren Notizen blätterten, das Muster auf dem Fußboden studierten oder sich um den richtigen Sitz ihrer Uniform bemühten. Sie sah dem Kapitän herausfordernd ins Gesicht. Als einzige hatte sie die vorgeschriebene Anzahl Pflichtstunden bereits erfüllt. Sie hatte es sich angewöhnt, alle unangenehmen Aufgaben möglichst gleich am Anfang zu erledigen, dann waren sie vorüber und sie konnte den anderen getrost dabei zusehen.

Cordians Wahl fiel auf Naru, die sich hinter Jokais breitem Rücken versteckt hatte, in der trügerischen Hoffnung übersehen zu werden. Aber Cordian hatte einen besonderen Blick für Drückeberger.

»Mir fällt gerade ein, daß du zum ersten Mal im Vakuum arbeiten wirst. Du wirst sehen, daß die Arbeit nicht viel anders ist, als im Simulator auf der Akademie. Trotzdem gebe ich dir einen Partner mit, der über die nötige Erfahrung verfügt. —

Kirina! du hast die meiste Erfahrung. Ich denke daher, daß du die richtige Partnerin für Naru bist.«

Kirina öffnete den Mund — und schloß ihn gleich wieder. Das wäre vielleicht die Gelegenheit, sich mit Naru endlich einmal auszusprechen. Daher fragte sie nur: »Wann sollen wir uns an die Arbeit machen?«

»Geht gleich mit Ingenieur Hool mit. Er wird euch alles erklären.«

Der Notausstieg 11 befand sich auf Deck drei am hinteren Ende des Schiffes. Nachdem Kirina und Naru in ihre Druckanzüge geschlüpft waren, hielten sie vor der Schleuse kurz inne, um die Reparatur zu besprechen.

»Denke immer daran, die Sicherheitsleine einzuhaken. Wenn sich das äußere Schott aus irgendeinem Grund schnell öffnen sollte wirst du von der entweichenden Luft nach draußen geblasen«, schärfte Kirina ihrer Kameradin ein, die sich in dem dicken Anzug sichtlich unwohl fühlte. Naru nickte.

»Du solltest besser deinen Helm aufsetzen.«

Naru seufzte und sagte: »Ich weiß, aber in dem Ding fühle ich mich furchtbar. Das kann ich drinnen auch noch tun.«

»Wie du meinst, aber es ist eindeutig gegen die Vorschrift.« Kirina betätigte den Öffnungsmechanismus des inneren Schotts.

Die Notausstiegsschleuse war nicht besonders groß, aber zur Not fanden gut sechs bis acht Personen darin Platz. Naru sah sich das äußere Schott genauer an. Oberflächlich war keine Beschädigung zu sehen. Das feine Zischen aber, das vor der Tür deutlich zu vernehmen war, deutete auf eine schadhafte Dichtung hin. Vorsichtshalber hatte Kirina zwei Ersatzdichtungen mitgenommen, eine für das innere, die andere für das äußere Schott.

Kirina schloß das innere Schott und verriegelte es sorgfältig. Aufmerksam beobachtete sie das Manometer an der Wand. Es zeigte deutlich einen zunehmenden Druckabfall in der Schleuse an. Jetzt spürte Naru deutlich den abnehmenden Luftdruck, sofort setzte sie den Helm auf. Kirina half ihr beim Arretieren. Ein grünes Licht zeigte an, daß der Anzug jetzt dicht war. Der Luftvorrat, den sie auf dem Rücken mit sich trugen, würde knapp eine Dreiviertelstunde reichen. Das war zwar nicht viel, reichte aber für das Auswechseln einer Türdichtung völlig aus.

Die Sprechverbindung über das in den Helmen integrierte Intercom-System funktionierte tadellos, so daß die beiden einander gut verstehen konnten.

»Denke dran, dich anzubinden, Naru. Wo hast du diese Sicherheitsleine her? Die ist viel länger als meine?«

»Die war in dem Schrank mit den Anzügen.«

»Ich frage mich, wer den zuletzt aufgeräumt hat«, brummte Kirina und hakte ihre Leine ebenfalls in die dafür vorgesehene Öse in der Wand.

»Ich öffne jetzt das Ventil. Falls dein Anzug undicht ist, wirst du das jetzt sehr rasch merken, indem du platzt wie ein Ballon.« Kirina lachte, als sie in Narus erschrockenes Gesicht sah.

»Du kannst jetzt die Außentür aufmachen.« Naru tat, wie ihr befohlen. Die Hydraulik schwenkte das schwere Stahltor nach innen zur Seite. Überwältigt von der schwarzen Leere, die in so krassem Gegensatz zu der hell erleuchteten Schleuse stand, blieb Naru stocksteif an der Schwelle stehen.

»Paß gut auf, daß du nicht hinaus fällst«, warnte Kirina. »Hier ist die Schwerkraft nur sehr gering. Draußen aber kannst du leicht in das Schwerefeld der Triebwerke gelangen, und dann wirst du von deiner eigenen Masse zusammengedrückt, bis du platt bist wie ein Pfannkuchen.«

»Kirina, hör endlich auf damit!« Naru hielt sich mit beiden Händen an der Türverriegelung fest. Sie sah ziemlich blaß um die Nase aus.

»Jetzt komm endlich, du Memme! meinst du, ich mache die ganze Arbeit allein?«

Kirina wurde langsam wütend. Sie fing an, die alte Türdichtung mit Hilfe eines Spezialschlüssels zu entfernen. Kirina arbeitete sehr geschickt und rasch. Die Arbeit war ziemlich anstrengend, nicht zuletzt weil in dem steifen Druckanzug jede Bewegung doppelt so viel Kraft erforderte. Endlich war die alte Dichtung ab. Kirina lehnte sich schnaufend zurück. Sie fühlte, wie ihr der Schweiß über das Gesicht rann und verwünschte zum hundertsten Mal den Anzug, der es verhinderte, sich mit der Hand übers Gesicht zu wischen. Das Anbringen der neuen Dichtung war allein nicht möglich. Sie wurde mit Hilfe eines Spezialklebestoffes in die Öffnung geklebt und anschließend mit Schrauben gesichert.

Naru schien es wieder etwas besser zu gehen. Während Kirina klebte und schraubte, mußte Naru die Dichtung in der richtigen Position festdrücken.

»Beeile dich, Naru. Mein Luftvorrat ist gleich zu Ende, und ich will nicht noch einmal von vorne anfangen, nur weil das Schott die schlecht eingepaßte Dichtung zerquetscht.«

»Ich bin gleich soweit. Da drüben ist es noch lose. Ich …« Weiter kam sie nicht. Plötzlich war Kirina allein in der Schleuse.

»Naru! Wo bist du? Was ist passiert?« Zuerst hörte Kirina nur ein Keuchen und Schnaufen aus dem Helmlautsprecher, dann vernahm sie Narus zitternde Stimme: »Ich bin hier draußen. Es geht mir gut. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich muß irgendwie abgerutscht sein.«

»Dann komm wieder herein!« Kirina war einen Augenblick lang furchtbar erschrocken. Als sie Narus Stimme erneut hörte, bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Kirina, du mußt mir helfen. Ich kann die Leine nicht greifen, sie muß sich irgendwie um, mein Bein geschlungen haben.«

Ein durchdringender Signalton in ihrem Helm ließ Kirina zusammenfahren.

»Verdammt! Jetzt geht mir die Luft aus.« Die Luft reichte jetzt nur noch für zwei Minuten. Kirina versuchte trotz der aufkeimenden Panik ruhig zu bleiben und vor allem langsam und flach zu atmen. Sie griff nach Narus Sicherheitsleine, die straff gespannt an der Öse hing. An der Leine war ein gewaltiger Zug. Naru mußte in das Kraftfeld der Triebwerke geraten sein. Statt der Schwerelosigkeit des Alls wirkte jetzt etwa das zweifache Gewicht auf sie.

»Ich kann dich nicht herein ziehen. Ich hab’ kaum noch Luft. Naru!«

»Du mußt das Schott schließen, Kirina. Bringe dich in Sicherheit. Ich habe noch Luft für über zehn Minuten.«

»Das kann ich nicht tun, dann würde die Leine durchgetrennt und du stürzt in die Triebwerke.« Kirinas Herz schlug bis zum Hals. Was sollte sie jetzt nur tun?

»Kirina, du mußt dich retten. Kümmere dich nicht um mich. Wenn du jetzt nicht das Schott schließest, wirst du ersticken.«

»Halt den Mund, Naru!« murmelte Kirina leise. Sie stemmte sich mit beiden Füßen fest gegen die Wand neben der Öffnung. Sie begann an der Leine zu ziehen. Die ersten Meter würden die schwersten sein, denn mit zunehmender Entfernung von dem Kraftfeld nähme auch die Anziehungskraft ab.

Es gelang ihr tatsächlich, Naru ein Stückchen hereinzuziehen. Sie wickelte die Leine um die Öse, um sie zu sichern. Stück für Stück, Handbreit um Handbreit holte sie die Leine ein. Das Zischen in ihrem Helm, das durch die einströmende Luft verursacht wurde, hatte aufgehört. Jetzt blieb ihr nur noch der Luftvorrat der sich im Anzug befand. Ihr Atem beschleunigte sich, je mehr der Sauerstoff abnahm. Die Sichtscheibe in ihrem Helm begann zu beschlagen. Bald würde sie nichts mehr sehen können. Warum hatte Naru nur eine so lange Sicherheitsleine nehmen müssen? Nur noch wenige Meter. Narus Gewicht wurde rasch geringer. Kirina keuchte. Sie durfte jetzt nicht schlapp machen; nicht so kurz vor dem Ziel. Wenn sie jetzt losließe, wären sie beide verloren.

Kirina spürte, wie sie die Kräfte verließen, als sie vor sich einen Schatten auftauchen sah. Naru hatte es geschafft. Sie kroch durch die Öffnung ins Innere der Schleuse. Kirina fiel auf die Knie. Vor ihren Augen flimmerte es und das Rauschen in ihrem Kopf wurde so stark, daß sie nichts mehr hörte. Sie spürte nicht mehr, wie sie zu Boden stürzte.

»Kirina! Bitte halte durch! Nur noch wenige Sekunden, dann ist die Schleuse voll. Kirina! Hörst du mich?«

Naru drehte mit beiden Händen an dem Ventil. Noch bevor der Druck ganz ausgeglichen war, stürzte sie sich auf Kirina und öffnete den Verschluß ihres Helmes. Zischend strömte die Luft hinein.

Kirina lag auf dem Rücken. Ihr Gesicht hatte eine ungesunde Farbe angenommen und ihre Lippen waren ganz blau. Ihre Augen waren halb geschlossen. Sie atmete noch. Als sie die frische Luft einatmete, kehrten die Lebensgeister zum Teil wieder zurück. Jetzt begann sie, tief und heftig die Luft einzusaugen. Ihr Atem ging rasend schnell. Aber mit jedem Atemzug kehrte ein wenig mehr Farbe in ihr Gesicht zurück.

»Kirina! Ist alles in Ordnung?« Naru kniete neben ihr und hielt Kirinas Kopf. Kirina konnte noch nicht sprechen, aber sie nickte keuchend.

Kirina hatte gewaltiges Seitenstechen, trotzdem versuchte sie aufzustehen. Naru drückte sie wieder zu Boden.

»Bleibe ganz ruhig liegen. Ich hole den Doktor.«

»Nein!« Kirina packte Narus Handgelenk und hielt sie fest. »Es geht mir wieder gut. Siehst du, ich kann schon wieder aufstehen.«

Zitternd und mit wackeligen Knien zog Kirina sich an der Wand hoch. Sie hielt sich mit beiden Händen an Narus Schultern fest.

»Das hier bleibt unter uns. Hast du verstanden? Kein Wort zu niemandem!« Naru nickte. »Du hast dein Leben riskiert, um mich zu retten, Kirina. Warum hast du nicht einfach das Schott geschlossen, als noch Zeit dazu war?«

»Weil ich nicht zulassen kann, daß ein Mitglied meiner Arbeitsgruppe unter meinem Kommando verloren geht«, erwiderte Kirina trocken. Naru sah sie entsetzt an. Kirina lächelte verlegen und sagte: »Und außerdem … Ich war es dir irgendwie schuldig… Ich meine, ich bin in der letzten Zeit wohl etwas schroff zu dir gewesen. Das tut mir leid.«

Kirina setzte sich auf den Boden der Schleuse. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Ich dachte, du seiest faul und dumm und intrigant, bis ich gestern erfuhr, daß du die einzige bist, dich mir hier nicht zum Teufel wünscht.« Sie hielt den Blick vor sich auf den Fußboden gesenkt. Naru kniete sich neben sie.

»Ehrlich gesagt habe ich dich nie leiden können, Kirina. Aber als Jo… — als die anderen mit der Bittschrift kamen, da tatest du mir plötzlich leid. Ich mußte daran denken, daß du keinen einzigen Freund auf dem Schiff hast. Vielleicht wäre ich auch so…«

»Ach so ist das also!« Kirina warf Naru einen angriffslustigen Blick zu. Aus ihren Augen schossen Pfeile, die ihr Gegenüber durchbohrten. »Du hattest Mitleid mit mir. Danke, darauf kann ich gut verzichten. Mir geht es gut. Ich bin glücklich. Ich liege nicht jede Nacht in meinem Bett und heule mein Kissen voll.«

Naru sprang auf und wandte sich ab. »Was ist eigentlich los mit dir, Kirina? Erst riskierst du dein Leben für mich, und dann beschimpfst du mich. Was habe ich dir denn getan, daß du mich so hassest? — Außerdem heule ich nicht jede Nacht in mein Kissen. Was weißt du denn schon, wie es mir geht. Ich habe … Ach, das verstehst du ja doch nicht. Jemand, wie du, der überhaupt keine menschlichen Gefühle kennt, kann nicht begreifen, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren.«

»Du meinst deinen Bruder, nicht wahr?«

Naru drehte sich um. Sie sah Kirina fest in die Augen.

»Woher weißt du…«

»Der Kapitän hat mir alles erzählt. — Und du bist nicht die einzige, die einen Verlust erlitten hat. Auch ich hatte einmal einen Bruder. Er war drei Jahre älter als ich. Er war sehr gescheit und begabt, viel mehr als ich. Meine Eltern liebten ihn sehr und setzten alle ihre Hoffnungen in ihn …«

»Was geschah?«

Kirina schüttelte den Kopf. Es fiel ihr sichtlich schwer, darüber zu sprechen.

»Er starb mit zwölf Jahren bei einem Unfall. Es war ein furchtbares Unglück für meine Eltern. — Ich glaube, manchmal wünschten sie sich, daß ich an seiner Stelle …« Kirina verbarg ihr Gesicht in den über ihren Knien verschränkten Armen. Naru legte einen Arm um sie, Kirina ließ es geschehen.

Nach einer Weile hob sie den Kopf. »Wenn du das irgend jemandem erzählst, bringe ich dich um«, sagte sie matt. Naru setzte sich wieder neben sie.

»Kenji und ich waren Zwillinge«, sagte sie. »Er war Pilot bei der Ersten Sternenflotte.« Auf Kirinas fragenden Blick antwortete Naru ein wenig verlegen: »Er ist viel gescheiter als ich und viel fleißiger. Er hat die Ausbildung in der Mindestzeit geschafft, während ich das erste Jahr auf der Akademie wiederholen mußte. — Es geschah vor einem Monat. Während eines Routine-Einsatzes gegen Raumpiraten in einem gestohlenen Frachtraumschiff ist er mitten im Gefecht verschwunden. Der Funkkontakt zu seinem Raumgleiter brach plötzlich ab. Es wurde lange nach ihm gesucht, aber man fand keine Spur von seinem Schiff. Es gab keinen Planeten in der Nähe, auf dem er hätte landen können, aber man fand auch keine Trümmer. Nach einem Monat wurde die Suche überraschend eingestellt. Das Raumflottenkommando hat ihn offiziell für tot erklärt — im Einsatz gefallen. Sein Name wurde in die Ehrenrolle eingetragen und meinen Eltern haben sie einen Verdienstorden zugeschickt.«

»Das tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll …«

»Aber er ist nicht tot!« rief Naru heftig. »Das weiß ich ganz genau. Wenn man so viele Jahre ganz eng zusammen gelebt hat, dann spürt man deutlich, wenn es dem anderen nicht gut geht. Wenn er tot wäre, dann wüßte ich das — ganz bestimmt.« In Narus Augen schimmerte es feucht.

»Ich werde das nicht hinnehmen. Ich werde selber nach ihm suchen, bis ich weiß, was ihm geschehen ist.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

Kirina war höchst erstaunt. So stark und entschlossen hatte sie Naru noch nie erlebt. Ja, das war der Kleinen wirklich zuzutrauen.

»Ich denke, wir sollten uns jetzt zurückmelden, bevor die noch anfangen sich Sorgen um uns zu machen«, sagte Kirina und reichte Naru ihre Hand.

 

Jokai bemühte sich, leise zu sprechen und sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, als er Yoshi nach dem Essen in der Kantine wie zufällig ansprach.

»Hast du alles besorgen können?«

»Ja. Weißt du eigentlich, wie schwierig das war? Ich habe gestern die halbe Nacht durchgearbeitet, bis ich alles fertig hatte. Dafür haben mich der Alte und Kirina heute morgen gleich doppelt fertig gemacht; nur weil mir während der Theoriestunde ein paarmal die Augen zugefallen sind.«

Jokai zeigte wenig Verständnis für Yoshis Müdigkeit. Er brannte darauf, das Ergebnis von Yoshis Anstrengungen zu sehen.

»Hast du sie dabei? Zeig mal her!«

»Bist du verrückt? Doch nicht hier. Komm nachher in meine Kabine. Dort führe ich sie dir vor.«

So mußte Jokai seine Neugier noch eine Weile zügeln, denn sein Freund war noch mit anderen Kameraden verabredet. Endlich, gegen halb zehn Uhr zog Yoshi sich zurück. Vor seiner Kabinentür wurde er bereits erwartet.

Yoshi zog seinen Freund am Ärmel ins Innere der stockdunklen Kabine. Er drehte das Licht ein wenig auf, so daß der Raum von einem schwachen Lichtschimmer erhellt wurde.

»Paß auf! Ich habe sie unter dem Bett versteckt. Sie sind so eingerichtet, daß sie sich auf jede Lichtquelle hin bewegen.«

Jokai starrte in das Halbdunkel. Tatsächlich, jetzt konnte er etwas sich bewegen sehen. Unter dem Bett krochen ein Dutzend kleiner etwa vier Zoll langer, bleistiftdicker Würmer hervor. Sie waren mausgrau mit spiralförmigen schwarzen Ringen. An beiden Enden waren sie leuchtend rot.

»Mensch, die sehen ja wirklich zum Fürchten aus, genau wie auf den Bildern im Computerarchiv. Kannst du sie fernsteuern?«

»Spinnst du? Das war schon genug Arbeit. Ich bin schließlich kein Kybernetiker. Für die kurze Zeit, die ich zur Verfügung habe, ist das schon sehr viel. Allein die Beschaffung des Materials hat mich Kopf und Kragen gekostet. Was ich alles zusammenlügen mußte, um mir die verschiedenen Komponenten zu beschaffen. Aus der Nähe betrachtet sehen sie nicht besonders echt aus. Aber in den Lagerräumen ist es dunkel, und wer wagt es schon, sich die Psyllion aus der Nähe anzuschauen. Leider können meine nicht springen wie die echten.«

Jokai sah seinen Freund bewundern an. Yoshi war wirklich ein Genie, was Mikromechanik anbelangt. Yoshi sammelte seine Würmer ein und verstaute sie in einer kleinen Schachtel.

»Ich habe noch etwas anderes. Es liegt auf dem Pult.«

Jokai fand einige Bilder auf dem Tisch. Es handelte sich um Computerausdrucke.

»Sind das die Gefangenen?«

»Ja. Der Alte ist Dr. Pillar, der verrückte Wissenschaftler. Und der andere, der Riese, ist der ARCON.«

»Der sieht ganz normal aus; ich meine, wie ein Mensch und nicht wie ein Android.«

»Das ist ja das unheimliche. Er stammt aus der Baureihe 5. Er sollte als Krieger eingesetzt werden und als Wächter. Man hat einige von ihnen auf Patallar getestet. Aber irgend etwas ging schief und das Projekt wurde eingestellt. Der verrückte Doc hat jahrelang an diesem Projekt gearbeitet. Es heißt, er habe eine ganz neuartige Technologie entwickelt.«

»Wo hast du die Bilder her? Etwa aus dem Zentralcomputer?«

Yoshi wand sich. Er machte ein bedeutungsvolles Gesicht und sagte: »Du weißt doch, daß ich den Navigationscomputer neu programmieren soll. Ich bekam dazu das Paßwort, das den Zugang zum zentralen Datenarchiv ermöglicht. Da habe ich mir die Bilder herauskopiert. Wehe, wenn sie mich erwischen, dann fliege ich hochkant hinaus.« Er ließ sich auf das Bett fallen. Jokai nahm dies als eine Einladung, sich zu setzen.

»Was meinst du, Jokai«, fragte Yoshi und richtete sich auf, »sehe ich dem Doktor nicht ein wenig ähnlich? Ich meine mit einer Brille und einem falschen Bart und ein wenig Schminke?«

Jokai grinste. »Jetzt weiß ich, was du vorhast. Du willst eine kleine Theatervorstellung geben, um Fräulein Klugscheißer zu erschrecken. Das ist teuflisch gut! Erst die Psyllion, dann der verrückte Doktor, der eben aufgetaut wurde. Aber wie wollen wir sie in den Frachtraum locken? Und unter welchem Vorwand kommen die Gefangenen ins Spiel?«

»Keine Sorge. Ich weiß, wie man die Intercom-Anlage manipuliert. Kirina erhält einen Befehl von der Brücke. Wenn sie im Innern ist, unterbreche ich die Verbindung. Dann kann sie niemanden zur Hilfe holen. Stell dir einmal vor, du bist in einem dunklen Raum eingesperrt, zusammen mit einem Wahnsinnigen und einer Menge der übelsten Kreaturen, die das Universum beherbergt. Wir müssen aufpassen, daß sie keinen Schock bekommt. — Vielleicht ist der Scherz auch ein wenig zu stark.«

»Unsinn! Die ist zäh. Die hält eine Menge aus. Hast du sie jemals ängstlich oder unsicher gesehen?« Jokai rieb sich vergnügt die Hände. »Wann soll es losgehen? Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Von mir aus schon morgen.«

»Also gut. Wir treffen uns in der Mittagspause im Frachtraum.«

 

Kirina warf einen Blick über den leeren Gang. In der Nähe der Gefangenen hatte niemand etwas verloren. Wenn man sie erwischte, würde es eine Menge Ärger geben. Aber was Jokai gesagt hatte, durfte sie nicht auf sich sitzen lassen.

Sie zog den Zettel mit dem Zugangscode hervor. Die achtstellige Zahlenkombination paßte. Mit einem scharfen Klicken gab der Mechanismus die Tür frei. Kirina drückte den Schalter. Mit einem dunklen Brummen rollte die schwere Tür zur Seite und gab den Blick ins Innere des stockfinsteren Frachtraumes frei. Kirina trat ein. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Sie drückte alle drei Schalter, aber nichts geschah; es blieb dunkel. Wahrscheinlich war eine Sicherung defekt, dachte sie und suchte nach der Notlaterne, die in einer Halterung an der Wand hing.

Der Scheinwerfer warf einen sehr hellen, aber eng begrenzten Lichtkegel in den Raum. An den Wänden zogen sich hohe eiserne Stellagen bis unter die Decke. Hier war es recht kühl. Normalerweise wurden hier Ersatzteile aufbewahrt.

Die Frachträume 2 und 3 enthielten die Lebensmittelvorräte. Die Räume 4 bis 6 dienten dem Transport von Gütern, die auf der einen oder anderen angesteuerten Raumbasen benötigt wurden. Meistens aber bleiben sie leer.

Der Frachtraum 1 war der größte. Neben den mehr oder weniger dringend benötigten Ersatzteilen lagerte hier auch jede Menge Krempel, der sich im Laufe der vergangenen Jahre angesammelt hatte. Dementsprechend war der Raum ziemlich voll und unübersichtlich. Kirina fragte sich, wieso die Kühlbehälter mit den Gefangenen ausgerechnet hier abgestellt worden waren, wo die Räume 5 und 6 leer standen.

Sie ging um mehrere schwere Kisten herum. Zum Glück hatte sie der Kommandant nicht gezwungen auch hier aufzuräumen, so dringend es auch notwendig gewesen wäre. Die Behälter standen an der hinteren Wand. Es waren drei schwere, sargähnliche Kästen aus Metall mit einem durchsichtigen Deckel. Zwei waren in Betrieb. Das erkannte sie an den leuchtenden Lämpchen an der Frontseite. Der dritte war offenbar als Reserve gedacht.

Jetzt erkannte sie, warum die Kälteschlafkammern hier untergebracht worden waren: die Geräte benötigten ziemlich viel Energie. Der Frachtraum 1 war der einzige, der über eine entsprechende elektrische Versorgung verfügte.

Kirina hob die Laterne, um in die Behälter hineinsehen zu können. Enttäuscht mußte sie feststellen, daß sich eine dichte Schicht Rauhreif an der Innenseite der Isolierscheibe gebildet hatte, der nur unscharfe Schemen erkennen ließ. Bei der einen Person mußte es sich um einen bärtigen Menschen handeln; der andere war glatt im Gesicht und hatte eine riesige Gestalt. Er mußte beinahe zwei Meter groß sein. Kirina schauderte bei dem Gedanken, was die beiden alles auf der Wissenschaftsstation verbrochen hatten.

Auf einmal fiel ihr ein, daß es noch eine weitere gefährliche Fracht auf der Pexxt gab: die Psyllion. Irgendwo mußten diese ekligen Dinger doch verstaut sein. In der dritten Kälteschlafkammer waren sie nicht. Die Apparatur war ausgeschaltet und der Deckel stand einen Spalt offen. Sie ließ den Lichtkegel herumschweifen. In einer Ecke befand sich ein Transportbehälter mit der Aufschrift »Vorsicht! Nicht öffnen. Lebensgefahr!« Daneben befand sich das Siegel der IPU und der Vermerk »Psyllion G1 — 12 Expl.« Ein Dutzend der höchst gefährlichen Parasiten transportierte die Pexxt also.

Vorsichtig trat sie einen Schritt näher. Irgend etwas schien nicht in Ordnung zu sein, denn sie verspürte deutlich ein altbekanntes Gefühl, das sie stets beschlich, wenn sie sich in Gefahr befand oder irgend etwas Unangenehmes bevorstand.

Die Kiste hatte ein großes Loch auf der Seite. Kirina stieß einen leisen Schrei aus. Die Psyllion waren ausgebrochen. Sie drehte sich um, wollte auf den Ausgang zustürzen, als sie sah, wie die schwere Tür zuging. Mit einem dumpfen Klang senkte sich das stählerne Tor und ein scharfes Klicken zeigte an, daß die Sicherheitsriegel arretiert wurden.

Kirina rannte auf das Tor zu. Sie drückte den Schalter. Nichts geschah. Mit zitternden Fingern tippte sie den Sicherheitscode ein. Keine Reaktion. Vielleicht hatte sie sich vertippt. Nein, auch nach dem dritten und vierten Versuch blieb das Tor geschlossen. Kirina leuchtete den ganzen Raum ab. Irgendwie schien es ihr, als habe sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen. Tatsächlich, da kroch ein winziger geringelter Wurm unter einem Regal auf sie zu.

Kirina schrie aus voller Kehle. Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen das Tor. Wenn die Psyllion sie erst einmal wahrgenommen hätten, wäre sie verloren. Diese Kreaturen waren im Stande mehrere Meter weit zu springen.

Die Intercom, das wäre die Rettung. Auf der anderen Seite neben der Tür befand sich die Sprechanlage. Aber warum leuchtete die Bereitschaftsanzeige nicht? Kirina drückte den Sprechknopf.

»Kadett Kirina an Brücke! Bitte melden! Hallo, hört ihr mich?«

Keine Antwort. Kirinas Herz schlug rasend schnell. Was sollte sie jetzt tun? Es gab nur diesen einen Zugang zum Frachtraum, wenn man einmal von den Lüftungsschlitzen der Klimaanlage absah. Aber die waren fest vergittert und ließen sich nur mit Werkzeug öffnen.

Kirina sah sich verzweifelt um. Überall waren diese Kreaturen. Der ganze Boden schien davon übersät. Alle krochen auf sie zu. Kirina sprang auf eine Kiste. Wie ein gehetztes Tier auf der Flucht sah sie sich hektisch nach einem Ausweg um. Die dritte Kälteschlafkammer. Wenn sie es schaffte, dorthin zu gelangen, dann wäre sie für den Augenblick in Sicherheit. Früher oder später würde ihr Verschwinden auffallen. Man würde sie suchen und vielleicht hier finden. Aber wenn der Suchtrupp die Tür öffnete, dann könnten sich die Psyllion über das ganze Schiff verbreiten.

Kirina spannte alle Muskeln in ihrem Körper an, bis sie gespannt war wie eine Uhrfeder. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie von der Kiste, hechtete auf die Behälter zu und landete auf allen Vieren davor. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Ihr linkes Sprunggelenk tat weh. Sie schob den Deckel der leeren Kälteschlafkammer zur Seite. Irgendwie mußte sie das Gerät in Betrieb nehmen, sonst würde die Sauerstoffversorgung nicht funktionieren und sie müßte in der Kiste ersticken. Sie legte den Hauptschalter um — nichts tat sich. Sie drückte alle Knöpfe und Schalter — ohne Ergebnis. Das Gerät war nicht an die Stromversorgung angeschlossen. Kirina suchte nach dem Kabel. Die Schaltleiste befand sich in der Ecke, wo die Psyllion-Kiste stand. Wenn sie nur schnell genug wäre, könnte sie es schaffen.

Kirina hoffte, daß die Viecher alle aus der Kiste herausgekrochen wären und die Ecke sicher sei. Blitzschnell war sie mit dem Stecker in der Ecke.

»Verdammt! Das darf doch nicht wahr sein!« rief sie. Alle Anschlüsse waren belegt. Ohne sich zu besinnen riß sie einen Stecker heraus und steckte ihren ein.

Genau so schnell war sie zurück, sprang in den Behälter und zog den Deckel zu. Angestrengt versuchte sie sich zu beruhigen. Wenn sie einen Plan finden wollte, mußte sie erst einmal wieder zu Atem kommen.

Ein neuer Adrenalinstoß durchzuckte sie. War das Gerät etwa auf Einfrieren eingestellt?

Plötzlich flammte ein helles Licht auf. Sie sah zwei Gestalten, die sich über ihren Kälteschlafbehälter beugten. Der Deckel ihres Behälters wurde geöffnet und zur Seite geschoben. Über sich erkannte Kirina die lachenden Gesichter von Jokai und Yoshi.

»Wie habt ihr mich so schnell gefunden? Ihr müßt weg von hier, die Psyllion sind…«

Yoshi grinste und streckte ihr seine Hand entgegen. »Meinst du etwa diese hier?« fragte er grinsend und hielt ihr eine der mechanischen Attrappen entgegen.

Kirina verstand die Welt nicht mehr. Die beiden Jungen wollten sich schier ausschütten vor Lachen. Langsam dämmerte es ihr, daß sie einem gemeinen Schwindel auf den Leim gegangen war.

»Angeschmiert, Kirina! Du hättest dein Gesicht einmal sehen sollen, als das erste dieser kleinen Tierchen hervorgekrochen kam. Du bist ja jetzt noch weiß wie ein Leintuch.«

»Das … das zahl’ ich euch heim!« Kirina ballte die Fäuste. Am liebsten hätte sie sich auf die beiden gestürzt.

»Weißt du was das schönste ist?« fragte Jokai schelmisch. »Wir haben dein dummes Gesicht auf Video aufgezeichnet.« Er hielt einen Viedochip in die Höhe.

»Gib das her!«

Kirina versuchte, Jokai den Chip zu entreißen, aber er war schneller und rannte davon. Yoshi hielt Kirina von hinten fest, bis sein Kamerad aus dem Staub war.

»Und du machst dabei noch mit. Ich dachte immer, du seiest nicht so kindisch.«

»Nimm es nicht so schwer, Kirina. Jeder wird auf so einem Schiff einmal richtig hochgenommen.«

»Wenn das hier nicht die Psyllion sind, wo sind dann die echten?«

»Die hat doch unser Doc im Labor eingeschlossen. Weißt du das nicht? Ich dachte, du arbeitest da.«

»Schon, aber das hat mir keiner erzählt.« Kirina fühlte sich müde und elend. Wenn die anderen den Film sähen, wäre sie vor der ganzen Mannschaft und allen Kameraden blamiert. Sie konnte die schadenfrohen Gesichter ihrer Kameraden förmlich sehen und ihr schrilles Gelächter klang ihr bereits jetzt in den Ohren.

Jokai schob sie vor sich her in Richtung Tür.

»Wir sollten hier lieber verschwinden«, sagte er. »Bevor uns noch jemand erwischt.« Er öffnete mit einem kleinen Schraubendreher die Deckplatte der Intercom und verband die Drähte wieder, die er vorher gelöst hatte.

»Also deshalb, hat das Ding nicht funktioniert. Ihr habt das ganz schön raffiniert eingefädelt.«

Yoshi grinste und sagte: »Wir hatten ursprünglich sogar vorgehabt, uns als Dr. Pillar und der Android zu verkleiden. Aber wir wollten nicht, daß du dir vor Angst in die Hosen machst.«

Kirina quittierte diese Bemerkung mit einem heftigen Rippenstoß, den Yoshi wortlos hinnahm. Die Schadenfreude hatte ihn mehr als nur entschädigt.

 

Kirina saß beim Abendessen wie gewohnt allein, abseits von den Kameraden, am unteren Ende der Tafel. Naru hatte ursprünglich vorgehabt, sich neben sie zu setzten, aber das hätte Jokai und die anderen nur erzürnt, so wagte sie es nicht, Kirina anzusprechen, solange ihre Kameraden in der Nähe waren. Kirina war das auch lieber so. Sie schlang das Essen hinab und verzichtete ausnahmsweise sogar auf den Nachtisch. Bestimmt würden die beiden Schelme nach dem Essen den anderen ihren Film vorführen. Da mußte sie nicht unbedingt dabei sein.

Gerade wollte sie sich entfernen, als das Alarmsignal erscholl. Einen Augenblick lang sahen sich die Kadetten entgeistert an. Eine Alarmübung um diese Zeit? Es war keine Übung.

Sofort traten sie alle in Reih und Glied an und warteten auf weitere Instruktionen. Die ließen nicht lange auf sich warten. Über die Intercom meldete sich Kommandant Cordian. Er schien aufgeregt und nervös zu sein.

»Achtung hier spricht der Kommandant. Ab sofort gilt Alarmstufe eins. Alle Mann in Gefechtsbereitschaft. Die Gefangenen sind entwichen. An die Kadetten werden Handwaffen der Kategorie 2 abgegeben und…« Er brach ab. Aus dem Hintergrund war die Stimme von Doktor Sol zu vernehmen. Er klang völlig aufgelöst, beinahe hysterisch.

»Sie sind weg. Die Psyllion sind alle weg. Die Tür zum Laborlager ist aufgebrochen und der Transportbehälter…« Die Intercom-Anlage wurde ausgeschaltet. Unter den Kadetten entstand eine ziemliche Unruhe. In den vergangenen Tagen hatte man viel über diese Spezies erfahren. Neben seriösen Informationen kursierten auch allerhand Gerüchte über zerstörte Raumbasen und entvölkerte Kolonien.

Es ertönte das Achtung-Singnal und aus der Intercom ließ sich erneut die Stimme des Kommandanten vernehmen: »Leutnant Shiroo wird an alle…«

Ein dumpfer Knall und eine heftige Erschütterung ließen das Schiff erzittern. Alle Lichter erloschen. Einige Kadetten schrien laut auf. Es dauerte einige Sekunden, bis die Notstromversorgung in Funktion trat. Mit einem Male war das Deck in ein gespenstisch blaues Licht getaucht.

»Keine Angst!« rief Kirina. »Das ist nur die Notbeleuchtung. Es ist alles in Ordnung. Alle Arbeitsgruppen sofort angetreten! Die Gruppenführer sind verantwortlich für die Ausgabe der Handwaffen. Zwei Mann sichern den Korridor und den Zugang zum Aufzug.«

Kirina ließ sich einen Handstrahler aushändigen und rannte in Richtung Brücke. Unterwegs traf sie einen Sternenkrieger.

»Was ist geschehen?«

»Es gab eine Explosion im Maschinenraum.«

»Vier Mann in den Maschinenraum zum Feuerlöschen!«

»Kapitän! Das Flugdeck meldet den Start eines Raumgleiters.«

Es dauerte eine knappe Viertelstunde bis alle Decks systematisch abgesucht waren. Dann stand fest: die Gefangenen waren geflohen und hatten den Behälter mit den Psyllion mitgenommen. Das Feuer im Maschinenraum konnte zwar rasch gelöscht werden, aber die Hauptantriebsaggregate waren schwer beschädigt. Die Reparatur würde mehrere Tage in Anspruch nehmen. An eine Verfolgung des Raumgleiters war nicht zu denken. Aber es kam noch schlimmer. Die Flüchtlinge hatten ganze Arbeit geleistet: die Explosion hatte nicht nur die Antriebsmaschinen lahmgelegt, sondern auch die Sendeanlage zerstört, so daß die Pexxt keine Möglichkeit hatte, Hilfe herbeizurufen oder andere Schiffe zu warnen.

 

Zwei Stunden später ließ Kommandant Cordian die Kadetten in der Offiziersmesse antreten. Cordians Gesicht zeigte oberflächlich keine Regung. Wer ihn aber länger kannte, sah, daß er alles andere als ruhig war. Außer den Kadetten und dem Kapitän war die gesamte Mannschaft mit Ausnahme der Brückenbesatzung angetreten.

Kirina verspürte wieder ihr Böse-Vorahnungs-Gefühl.

»Sternenkrieger! Ich habe eine unangenehme Mitteilung an die Mannschaft«, begann Cordian seine Ansprache. »Wir ihr wißt, sind die beiden höchst gefährlichen Gefangenen in einem unserer Raumgleiter geflohen und haben den Sektor in Richtung der Grenze des Unionsraumes verlassen. Außer den beiden fehlt ein Behälter mit einer höchst gefährlichen Spezies, den Psyllion.« Er machte eine Pause, dann sagte er:

»Das ist aber noch nicht alles. Die Untersuchung hat ergeben, daß den beiden die Flucht nicht allein geglückt ist. An Bord der PEXXT befindet sich ein Saboteur und Verräter.«

Das schlug ein, wie eine Bombe. Trotz Achtungstellung sahen sich die Kadetten gegenseitig aus den Augenwinkeln an.

»Meldet sich der Verräter freiwillig oder muß ich andere Mittel ergreifen?« Alles schwieg. Man hätte eine Maus husten hören, so still war es. Kirinas Gefühl verstärkte sich.

»Also gut!« Cordian fixierte die Kadetten mit einem durchdringenden Blick. »Der Saboteur hat einen Fehler begangen, der ihm jetzt das Genick brechen wird. Er hat eine Spur hinterlassen, die es ermöglicht, ihn eindeutig zu identifizieren. Am Tatort wurde ein Abzeichen gefunden, das einem der Kadetten gehört.«

Ein jeder sah verstohlen an sich herunter und an seinem Nachbarn. Wer vermißte sein Abzeichen?

»Ich weiß, wer es ist, denn ich habe es ihm letzte Woche eigenhändig angeheftet.« Cordian hielt eine silberne Anstecknadel in die Höhe. Sie hatte die Form eines gleichseitigen Dreiecks und trug das Bild der Pexxt. Es war ein Verdienstabzeichen, wie es besonders fleißigen und vorbildlichen Kadetten verliehen wurde. An Bord der Pexxt gab es nur einen, oder besser gesagt, eine, die es bislang erhalten hatte.

Kirina sah sofort, daß ihr Abzeichen fehlte. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie schlug die Augen nieder. Wie ein Blitz durchzucke sie die Erkenntnis. Der Stecker, den sie im Frachtraum herausgezogen hatte, gehörte zu einer der beiden Kälteschlafkammern. Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben. Vor ihren Augen schien sich alles zu drehen.

Cordian stand dicht vor ihr. Seine Blicke brannten ihr förmlich auf der Haut.

»Warum, Kirina?«

Sie öffnete den Mund, wußte aber nicht, was sie antworten sollte.

»Es tut mir leid, aber es ist Vorschrift. — Kadett Kirina Aina! Ich stelle dich hiermit unter Arrest wegen Verdacht auf Verrat und Sabotage. Du bist aller deiner Posten enthoben und bleibst bis zu deiner Überstellung an das zuständige Militärgericht unter Arrest.« Auf ein Zeichen hin nahmen zwei Sternenkrieger ihr die Waffe ab und legten ihr Handfesseln an.

»Führt sie zum Verhör in mein Sprechzimmer!«

Mit gesenktem Haupt ließ Kirina sich abführen. Sie wagte es nicht, in die Gesichter ihrer Kameraden zu blicken.

Im Zimmer des Kommandanten angelangt, schickte Cordian die Wächter hinaus, so daß nur noch Kirina, Cordian und Leutnant Shiroo anwesend waren.

»Warum Kirina?« wiederholte Cordian seine Frage. Shiroo musterte sie eindringlich.

»Ich bin kein Verräter«, sagte sie endlich. »Ich habe die Gefangenen nicht befreit. Das mit dem Stecker war ein Versehen.«

»Und was hattest du in dem Frachtraum zu suchen? Wie bist du überhaupt hineingekommen? Die Tür war, soviel ich weiß, gesichert?«

Kirina seufzte und schwieg. Was sollte sie Cordian erzählen? Wenn sie von dem Streich der beiden Jungen berichtete, würde sie sie nur in die Angelegenheit mit hinein ziehen. Die beiden würden vermutlich sofort suspendiert werden. Auf ihre Bestrafung hätte es nur geringen Einfluß. Nein, sie konnte die beiden nicht verraten. Nicht daß sie Jokai oder Yoshi besonders mochte — im Gegenteil — aber gerade das, was man ihr hier vorwarf war sie nicht: eine Verräterin.

»Ich — Ich wollte mich nur ein wenig umsehen. Ich hatte niemals die Absicht, etwas zu tun, was die Sicherheit des Schiffes gefährden würde.« Kirina sah die beiden Männer mit festem Blick an.

»Ich würde alles tun, um das Vorgefallene ungeschehen zu machen. Es ist noch nicht zu spät, um die beiden einzuholen. Mit dem Shuttle-Schiff könnte man …«

Cordian schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Das Shuttle-Schiff ist nach dem Verlust des großen Raumgleiters das einzige Rettungsschiff, um die Pexxt im Notfall evakuieren zu können. Es wäre gegen die Vorschriften, es für eine solche Mission zu verwenden. Außerdem ist es nicht bewaffnet. Wir könnten den Raumgleiter nicht aufbringen. Die Gefangenen werden inzwischen den Unionsraum verlassen haben. Daher ist an eine Verfolgung nicht zu denken. Sobald die Sendeanlage wieder betriebsbereit ist, werde ich das Sternenflottenkommando benachrichtigen. Ab dann wird die Spezialabteilung der ersten Sternenflotte für die Verfolgung und das Unschädlichmachen der Gefangenen zuständig sein.«

»Bis dahin können aber noch gut zwei Tage vergehen«, warf Shiroo ein. »Wenn sie ihren eingeschlagenen Kurs weiter verfolgen, werden sie in das X-LL-3 System gelangen. Dort gibt es einen bewohnten Planeten. Die Zivilisation ist hoch entwickelt und ist ein Beitrittskandidat für die Union, sobald sie die Stufe der interstellaren Raumfahrt erreicht hat. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint sie dem Angriff eines ARCON und der Psyllion nicht gewachsen zu sein. Die Spezialtruppe wird sich beeilen müssen.«

»Aber dann können wir doch nicht einfach untätig zusehen, wie Pillar den Planeten zerstört«, rief Kirina aufgeregt. »Mit dem kleinen Raumgleiter könnten wir sie verfolgen; ich meine ganz inoffiziell. Das wäre nicht gegen die Vorschrift. Und wenn die beiden wieder eingefangen wären, bräuchte das Oberkommando gar nichts von dem Zwischenfall zu erfahren. Denken Sie doch bitte an die Zukunft der Pexxt und an Ihren guten Ruf.«

Cordian schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

»Das muß ich mir von dir nicht sagen lassen!« donnerte er. »Wie stellst du dir das überhaupt vor? Der kleine Raumgleiter ist nur für drei Sternenkrieger gebaut. Ich glaube nicht, daß sich einer von der Mannschaft freiwillig für ein solches Himmelfahrtskommando melden wird.«

»Dann will ich es versuchen, ganz allein. Durch meine Schuld sind die beiden freigekommen, also sollen sie auch von mir wieder eingefangen werden. Was habe ich denn zu verlieren?«

Shiroo lachte ungläubig und rief: »Du stehst unter Arrest und erwartest im Ernst, daß wir dich mit einem unserer Raumgleiter wegfliegen lassen.«

»Wohin sollte ich denn fliehen? Innerhalb der Reichweite des Raumgleiters gibt es keinen bewohnbaren Planeten außer X-LL-3. Wenn ich wirklich fliehen sollte — was ich ganz bestimmt nicht tun werde — dann würde mich die Spezialeinheit rasch aufspüren und einfangen«, entgegnete Kirina trotzig. Es schmerzte sie, daß ausgerechnet Shiroo ihr etwas derartiges zutraute.

»Wenn jemandem die lebenslängliche Abschiebung nach Patallar droht oder sogar die Recuperation, dann ist alles möglich«, sagte Shiroo trocken.

»Das ist ganz ausgeschlossen«, sagte Cordian. »Ich werde dich nicht allein gegen Pillar und die Psyllion kämpfen lassen, Kirina. Du bleibst auf der PEXXT unter Arrest bis wir dich der zuständigen Behörde überstellen können. Es tut mir leid, aber das ist mein letztes Wort. Falls es dich tröstet, Kirina, ich glaube dir, daß du die Gefangenen nicht befreien wolltest, und ich werde vor Gericht ein gutes Wort für dich einlegen. Wahrscheinlich wirst du nicht nach Patallar verbannt werden, sondern mußt nur die Sternenflotte unehrenhaft verlassen.« Cordian erhob sich.

»Das könnt ihr mir nicht antun!« rief Kirina. »Wenn es mir aber doch gelänge, die beiden einzufangen, dann wäre meine Ehre wiederhergestellt und Ihr könntet Euch auf Eure Beförderung freuen. Warum gebt Ihr mir keine Chance?«

Cordian schüttelte unwillig den Kopf. Shiroo beeilte sich, Kirina nach draußen zu befördern.

»Das ist nicht sehr klug von dir, Kirina. Du machst alles nur noch schlimmer. Komm mit. Wenn du mir versprichst, keine Dummheiten zu machen, dann werde ich dich in deiner Kabine unter Arrest stellen.«

Kirina nickte stumm. Shiroo sah sie kopfschüttelnd an und löste ihre Fesseln. Kirina rieb sich die Handgelenke. Sie ließ sich von Shiroo in ihre Kabine begleiten. Shiroo sah sich gründlich um und vergewisserte sich, daß keine Waffen in der Kabine versteckt waren. Dann schloß er die Tür von außen und sicherte sie mit einem Zugangscode.

Kirina warf sich auf ihr Bett. Zum ersten Mal seit Jahren weinte sie. Sie machte nicht einmal einen Versuch, die Tränen zurückzuhalten. Es war schon erstaunlich, wie sehr das half. Hinterher fühlte sie sich viel besser; es ging ihr schon wieder so gut, daß sie sich ihres Ausbruchs zu schämen begann. Zum Glück hatte sie vor den Kameraden ihr Gesicht bewahrt. Nein, sie würde die Situation nicht einfach hinnehmen und warten, bis man sie aus der Sternenflotte entließ oder gar nach Patallar verbannte. Wenn durch ihre Schuld die Bewohner eines unschuldigen Entwicklungsplaneten gefährdet wurden, dann war es ihre heilige Pflicht, alles zu tun, um das Unglück zu verhüten, selbst wenn es ihr Leben kosten würde. Das wäre immer noch besser als schlimmstenfalls recuperiert zu werden.

Sie stand auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Das tat unheimlich gut. Anschließend setzte sie sich an den Tisch vor das Computerterminal. Sie wollte so viel wie möglich über den bewohnten Planeten im System X-LL-3 erfahren.

Das System X-LL-3 wurde vor ungefähr siebzig Jahren zum ersten Mal von einem Forschungsschiff der IPU besucht und kartographiert. Es bestand aus neun Planeten, davon war der dritte von einer dichten, sauerstoffreichen Atmosphäre umgeben. Auf der Oberfläche gab es ausgedehnte Ozeane und mannigfaches Leben pflanzlicher und tierischer Art. Eine hochentwickelte, humanoide Spezies bevölkerte fünf der sechs großen Erdteile. Es gab eine große Anzahl unterschiedlicher Kulturen und Zivilisationen, die in vielen Staaten organisiert waren. Vor kurzen hatten sie die interplanetare Raumfahrt begonnen. Die IPU plante, innerhalb der nächsten fünfzig bis einhundert Jahren Kontakt aufzunehmen und die Union längerfristig auf diesen Quadranten auszudehnen.

Im Computerarchiv fand Kirina eine umfangreiche Bilddatei mit Aufnahmen von dem Planeten, den die Bewohner Terra nannten. Bei dem Anblick der blauen Ozeane und der grünen Wälder fühlte sie sich schmerzlich an ihre Heimat erinnert.

Nein! Dieser wundervolle Planet durfte nicht an Pillar geopfert werden. Was wäre, wenn die Spezialeinheit zu spät käme und die Psyllion sich bereits vermehrt hätten? Vielleicht müßten Hunderte oder Tausende sterben. Und das alles nur wegen ihrer verflixten Neugier und ihrer schändlichen Furcht. Wenn sie nicht so in Panik geraten wäre und sich diese Psyllion-Attrappen genauer angeschaut hätte, dann wäre es niemals so weit gekommen.

Sie zog eine Schachtel mit Datenchips aus der Schublade und kopierte so viele Informationsdateien, wie sie konnte. Das Wissen würde ihr bestimmt noch einmal sehr nützlich sein.

Es klopfte an der Tür.

»Ich kann nicht aufmachen. Die Tür ist verriegelt!« rief sie.

»Ich weiß. Warte einen Augenblick.« Das war Narus Stimme. Es dauerte einige Sekunden, dann glitt die Tür auf. Naru stand in der Tür und warf einen ängstlichen Blick über die Schulter auf den Korridor. Rasch schlüpfte sie herein.

»Hallo Kirina! Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«

»Naru, was tust du hier? Wenn sie dich erwischen, dann kriegst du eine Menge Ärger.«

»Das ist mir egal. Ich weiß, daß du unschuldig bist. Warum hast du dem Kapitän nichts von dem Streich der beiden Jungs erzählt? Es ist nicht gerecht, daß sie dir allein die ganze Schuld geben.«

Kirina lachte zynisch und sagte: »Es ist nicht meine Art, meine Kameraden in Schwierigkeiten zu bringen, auch wenn ich sie nicht ausstehen kann. Ich bin nicht wie die beiden. Es ist ihre Sache, die Wahrheit zu erzählen. Wenn sie soweit sind, werden sie es tun; wenn nicht, dann ist es auch gut. Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe.«

»Wenn du nichts sagst, dann ist das in Ordnung, auch wenn ich es nicht verstehen kann. Aber niemand hindert mich, dem Kapitän die Wahrheit zu sagen.«

»Nein, Naru! Das wirst du nicht tun! Ich verbiete dir, mit irgendjemandem darüber zu reden. Das Ganze geht nur mich und die beiden etwas an. Du schuldest mir noch etwas«, sagte Kirina scharf.

»Aber was willst du jetzt tun?«

»Ich werde die Flüchtlinge wieder einfangen und den Planeten retten. Aber wehe, wenn du nur ein Wort sagst!«

»Aber Kirina, das ist ganz unmöglich. Du kannst niemals allein gegen den ARCON und die Psyllion kämpfen.« Naru schüttelte sich bei dem Gedanken.

»Ich werde es tun.« Kirina sah auf die Uhr; es war inzwischen spät geworden.

Sie packte in Eile ein paar Sachen zusammen. Naru mußte ihr helfen, ihre Kampfuniform anzuziehen.

»Kirina, das ist Wahnsinn! Du hast nicht einmal Waffen.«

»Irrtum. Da schau her. Die hier hat Shiroo vorhin übersehen.« Sie kroch unter das Bett und zog ein kleines Päckchen hervor, das in einem Spalt der Holzverkleidung des Bettkastens verborgen war.

»Das ist ein Photonenstrahler!« rief Naru erstaunt. »Die sind doch verboten. Solche Waffen dürfen nur die Offiziere tragen. Wo hast du die her?«

»Nicht so laut, Naru. Die ist von meinem Vater. Er weiß allerdings nicht, daß ich sie auf die Pexxt mitgenommen habe.«

Naru schüttelte den Kopf. »Trotzdem, das Ding allein reicht doch nicht aus, um mit dem beiden Schwerverbrechern fertig zu werden. Und denke an die Psyllion.«

»Daran muß ich die ganze Zeit über denken; was die mit dem Planeten anstellen werden. Nein, Naru. Mein Entschluß steht fest.«

Naru ergriff ihre Hand und drückte sie fest. »Viel Glück, Kirina. Ich hoffe, du schaffst es.«

»Was soll das denn?« sagte sie ein wenig unwirsch. Kirina verabscheute solche Sentimentalitäten. Insgeheim war sie aber doch irgendwie gerührt über Narus Anteilnahme und Besorgnis.

»Falls ich nicht wieder zurückkomme, dann kannst du meinen Krempel hier behalten.« Naru preßte die Lippen fest aufeinander und sah auf den Boden.

»Kopf hoch! Ich werde es schon schaffen! In spätestens zwei Tagen bin ich wieder zurück!«

Kirina huschte lautlos über den Korridor. Sie wagte es nicht, den Aufzug zu benützen. Statt dessen nahm sie den Weg über die Feuertreppe hinab auf das Shuttle-Deck.

Das Schott zum Shuttle-Deck war nicht verriegelt; es öffnete sich auf Knopfdruck.

»Halt! Wer da?« rief eine barsche Stimme. Der Kapitän hatte Wachen aufstellen lassen. Es war Yoshi.

»Kirina! Was machst du hier? Du stehst unter Arrest. Ich muß dich melden.«

»Laß mich durch!«

»Ich darf dich nicht passieren lassen.« Yoshi hielt einen TED in der Hand. Er zielte auf Kirina.

»Wenn du mich aufhalten willst, dann mußt du mich erschießen!«

Yoshi atmete schwer, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.

»Verdammt, Kirina! Ich kann dich nicht erschießen, aber ich darf dich nicht durchlassen.«

»Dann nimm das!« rief sie und versetzte ihm einen Fausthieb ins Gesicht. Yoshi taumelte zurück und ließ sich zu Boden fallen. Aus seiner Nase lief Blut.

Kirina beugte sich über ihn und nahm ihm den TED ab. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. Yoshi nickte und wischte sich mit dem Handrücken das Blut ab.

»Mach, daß du fortkommst!« sagte er. Kirina lief los. Der kleine Raumgleiter war startbereit.

Yoshi richtete sich ein wenig auf und lehnte sich gegen die Wand. Seine Nase tat höllisch weh und blutete immer noch, aber das machte ihm nichts aus.

»Paß gut auf dich auf , Kirina!« dachte er. »Du bist wirklich die beste von uns allen!« Er wartete, bis er das Geräusch der sich wieder schließenden Bugklappe des Flugdecks vernahm, dann stand er langsam auf und schlug pflichtgemäß Alarm.

 

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