Eine Begegnung der unheimlichen Art
Nick Thorne wartete fröstelnd an der Ecke. Er schob ein wenig umständlich den linken Ärmel seiner für die Witterung zu dünnen Jacke zurück, um auf die Uhr zu sehen. Es war bereits Dreiviertel zwölf. In zehn Minuten würde der letzte Bus abfahren; dann müßten sie zu Fuß nach Hause gehen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und unmerklich, aber beständig, drang er durch den Stoff seiner Jacke. Ihm war kalt und er war ein wenig verstimmt, denn es war bereits das dritte Mal in dieser Woche, daß sein Freund Robert ihn warten ließ. Im Grunde war Robert ein vertrauenswürdiger und zuverlässiger Mensch, aber was die Pünktlichkeit anbelangte, stand es schlecht mit ihm. Irgendwie schaffte er es immer, den Bus oder den Zug zu verpassen, eine Serie von roten Ampeln zu erwischen, oder sich derart in ein Gespräch oder eine Lektüre zu vertiefen, daß er alles um sich herum vergaß.
»Ich warte noch fünf Minuten, dann kann er allein heimfahren«, murmelte er verdrießlich und warf einen weiteren Blick nach den matt schimmernden Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Er trat von einem Fuß auf den anderen und drückte sich enger an die feuchtkalte Backsteinmauer des Hauses hinter ihm, aber das half nicht viel gegen den Regen. Er griff in die Taschen seiner Jacke und wühlte darin herum, bis er endlich unter allerlei Krimskrams, der sich im Laufe der Zeit darin angesammelt hatte, das Gesuchte fand: das Päckchen mit dem Pfefferminzkaugummi, ohne den er nie aus dem Hause ging. Natürlich war das Päckchen leer. Mißmutig knüllte er das Papier zusammen und warf das leere Kaugummipäckchen in die Gosse. Wo blieb Robert nur so lange? Bestimmt hatte wieder einmal alles um sich herum vergessen und diskutierte mit seinem Bekannten irgend welche abstruse Theorien.
Robert Bergin war gleich alt wie Nick. Sie kannten sich seit Jahren, hatten in der Schule die gleiche Klasse besucht und waren auch nach ihrem Übertritt in die Universität unzertrennliche Freunde geblieben. Während Nick eher der dynamische, aktive Typ war, verkörperte Robert mehr den intellektuellen, ein wenig verschlossenen Typus. So war es nicht verwunderlich, daß Nick sich pragmatisch dem Studium der Rechtswissenschaft widmete, während Robert sich für Geschichte und Erdkunde begeisterte. Trotz ihrer unterschiedlichen Temperamente und Begabungen — oder vielleicht gerade deswegen — verstanden sie sich glänzend und ergänzten einander perfekt. Auf dem Gymnasium hatten sie eine gut funktionierende Arbeitsteilung betrieben: Robert half Nick in Mathe, Physik und Chemie, während Nick jenem die Hausaufgaben in Französisch und Latein besorgte.
Die beiden waren an diesem Abend im Kino gewesen und hatten nachher noch ein Glas Bier getrunken. Darüber war die Zeit rasch vergangen, als Robert plötzlich einfiel, daß er einem in der Nähe wohnenden Freund einen Brief und einen Artikel aus einer Fachzeitschrift, den er ihm versprochen hatte, vorbeibringen wollte. Er hatte ursprünglich beabsichtigt, dies bereits auf dem Hinweg zu erledigen, es aber dann vergessen. Er sei in zehn Minuten wieder zurück, hatte er Nick gesagt, als er die Gaststätte verließ. Inzwischen waren aber bereits gut zwanzig Minuten vergangen. Leider kannte Nick die Adresse jenes Freundes nicht, sonst wäre er Robert entgegen gegangen.
Nick gähnte und streckte sich. Im Gegensatz zu Robert war er kein Nachtschwärmer, sondern sehnte sich zu dieser Stunde nach seinem gemütlichen, warmen Bett. Er ging einige Schritte in der schmalen, finsteren Gasse hinter dem Gasthaus auf und ab, als er auf einmal von einem gleißenden weißen Licht geblendet wurde. Erstaunt und neugierig reckte er den Hals in die Richtung der Lichterscheinung. Das war kein Autoscheinwerfer gewesen; vielleicht ein Blitz. Aber er hatte nicht den Eindruck, als käme das Leuchten vom Himmel herab. Das Licht kam vom anderen Ende der Straße, war aber so hell, daß er glaubte, er stände mitten darin. Etwas ähnliches hatte er noch nie erlebt. Die Erscheinung dauerte gerade mal ein bis zwei Sekunden, dann war alles wieder finster und still wie bisher. Er beschloß dem Phänomen auf den Grund zu gehen.
Am unteren Ende der Straße war die Stadt beinahe schon zu Ende. Hier standen nur vereinzelt alte, rußgeschwärzte Wohnhäuser zwischen Garagen, Werkstätten und Lagerhäusern. Robert schien eine Vorliebe für öde, verlassene Gegenden zu haben. Das Wirtshaus, welches er ausgesucht hatte, schien das letzte in dieser ehemals belebten Gegend zu sein. Trotz seinem finsteren Äußeren, war die Gaststube aber einladend und gemütlich eingerichtet; und auch das Publikum machte eher einen normalen Eindruck. Jedenfalls wirkte es nicht wie eine Räuberhöhle oder Hafenspelunkte, für die Nick es von außen angesehen hatte.
Die Straße mündete an ihrem unteren, dem Hafen zugewandten Ende in eine Sackgasse, die ihrerseits in eine schmale Gasse — eigentlich war es eher eine Hofeinfahrt — auslief. Nick sah sich um. Alle Fenster ringsum waren dunkel. Das Licht mußte aus dem Hof gekommen sein. Er zögerte einen Augenblick. Die Gegend machte einen öden und nicht sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Am Ende aber obsiegte bei ihm die Neugier. Er trat vorsichtig in das Dunkel des unbeleuchteten Hofes hinein. Der Hof war größer als erwartet. Vom düsteren Mondlicht ein wenig erhellt, konnte er ein hohes Backsteingebäude mit vielen großen Fenstern ausmachen. In den meisten der Fenster fehlte das Glas. Das Gebäude war entweder eine ehemalige Fabrik oder ein verlassenes Lagerhaus.
Ein metallisches Klirren durchbrach die nächtliche Stille. Es klang so laut und scharf, daß Nick vor Schreck heftig zusammenfuhr. Das Geräusch kam aus dem Gebäude vor ihm, und wie ihm schien, irgendwo von oben. Er ließ seine Augen über die schwarzen Fensterreihen gleiten. Jetzt vernahm er auf einmal so etwas wie Stimmen. Wahrscheinlich trieben sich dort nur einige Obdachlose oder Landstreicher herum. Im Grunde verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, in das Gebäude hinein zu gehen, schon gar nicht ohne eine helle Taschenlampe und einem geladenen Revolver, oder zumindest mit einem kräftigen Knüppel ausgerüstet.
Er wandte sich gerade zum Gehen um, als ihn ein markerschütternder Schrei auf dem Absatz herumfahren ließ. Ein weiterer greller Lichtblitz erhellte den schmutzigen Innenhof für Sekundenbruchteile; diesmal weniger hell und lange. Das Licht kam aus dem dritten, dem obersten Stockwerk. Nick ging über den Hof. In einer Ecke fand er einen Haufen Schrott. Er griff sich ein etwa einen halben Meter langes rostiges Eisenrohr. Von oben vernahm er merkwürdige und unheimliche Geräusche. Es wäre bestimmt vernünftiger, die Polizei zu rufen, als sich der Sache selber anzunehmen, aber als Nick die Stimme eines Mädchens vernahm, konnte er nicht anders. Das Mädchen rief etwas, was er nicht verstehen konnte. Aber seine Stimme klang irgendwie schrill und atemlos, wie in großer Bedrängnis.
Nick atmete tief durch, dann lief er zum Eingang. Das Treppenhaus war weit und die Stiegen ohne Geländer. Es gab kein Licht, außer dem Mondlicht, das von außen durch die schmutzigen Fenster hereindrang. Plötzlich hörte er hinter sich auf der Treppe Schritte. Sein Herz schien einen Augenblick lang still zu stehen. Nick fuhr herum, das Stahlrohr wie ein Schwert mit beiden Händen fest umklammernd. Er stieß einen leisen Schrei aus.
»Mensch Robert! Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken? Beinahe hätte ich dich erschlagen.« Robert stand vor ihm, mindestens ebenso erschrocken und weiß wie ein Laken. Er hielt ein Stück einer Dachlatte in Händen.
»Was zum Teufel machst du hier?« keuchte er.
»Ich habe so ein merkwürdiges Licht gesehen, und dann hat jemand geschrien.«
»Laß uns lieber verschwinden, das geht uns nichts an. Wer weiß, was für ein Gesindel sich hier herumtreibt.«
Der Lärm wurde stärker. Dort oben schien ein Kampf im Gange zu sein. Sie vernahmen einen weiteren, halb erstickten Schrei und einen dumpfen Aufprall. Es klang so, als würde ein schwerer Sack von einem Lastwagen geworfen.
»Bleib’ du hier, ich gehe nachschauen«, flüsterte Nick.
Robert dachte nicht im Traum daran, allein im dunklen Treppenhaus zu warten. Gemeinsam schlichen sie auf Zehenspitzen die morschen, von Dreck und Schutt übersäten Stufen hinauf. Mehr als einmal stolperten sie und wären beinahe rücklings hinabgestürzt, wenn sie sich nicht an der rauhen Wand entlang getastet hätten.
Oben angelangt bot sich ihnen beim Eintreten in die Lagerhalle ein grotesker Anblick. In der Mitte des Raumes lag ein Mann rücklings auf dem Boden. Auf ihm kniete ein Mädchen in einer sonderbaren Aufmachung. Es wirkte sehr erregt und war ganz außer Atem. Der Mann auf dem Boden war ein wahrer Hüne. Aufrecht stehend mußte er gut zwei Meter messen. Er lag still und reglos da, schien aber bei Bewußtsein. Das Mädchen, welches die beiden Jungen nicht bemerkte hatte, da es dem Eingang den Rücken kehrte, hielt einen metallisch glänzenden Gegenstand in der rechten Hand. Er sah aus wie eine elegante, verchromte Pistole. Es drückte das Ende der Waffe an die Stirn seines Gegners. Mit atemloser, rauher Stimme sagte es: » Jetzt ist es aus, Arcon. Dein schändlicher Plan ist fehlgeschlagen. Sag ,gute Nacht‘!«
»Nein! Nicht!« Nick stürzte auf die Szene. Er schwang das Stahlrohr und mit einem hohlen Klang fuhr der schwere Stahl auf den Hinterkopf des Mädchens. Lautlos fiel es vornüber und blieb auf der Seite liegen.
Robert kam hinzu und starrte die drei voller Entsetzen an. »Mein Gott! Du hast sie umgebracht«, rief er. Nick beugte sich über die leblos am Boden liegende Gestalt. Er fühlte nach dem Puls. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Nein, sie lebt noch. Sie ist nur ohnmächtig. Aber ich mußte es tun. Sonst hätte sie den Kerl erschossen.«
Robert kniete neben dem Riesen nieder und sprach ihn an. Er hob langsam den Kopf. Sein Blick war eigenartig leer. Er sah von einem zum anderen. Dann fiel sein Blick auf das leblose Mädchen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er sich auf sie stürzen um sich zu rächen. Aber schließlich erhob er sich ruckartig, beinahe mechanisch, und ging nach einer Ecke der Halle. Dort nahm er einen Gegenstand an sich, der wie eine Transportkiste aussah. Mühelos hob er den schweren Behälter auf und trug ihn ohne sich umzuschauen hinaus.
»Halt! Warten Sie doch! Sie können nicht einfach davon laufen. Wir müssen warten bis die Polizei …« Vergeblich — der Kerl war bereits durch die Tür verschwunden.
»Wir müssen einen Arzt und die Polizei rufen«, sagte Robert, aber Nick schüttelte langsam den Kopf.
»Ich denke, es ist besser, wenn wir uns schleunig aus dem Staube machen«, sagte er nachdenklich. Er hatte den metallischen Gegenstand, der wie eine Pistole aussah, aufgehoben, und drehte ihn nach allen Seiten. »Das hier ist keine Pistole — jedenfalls keine der bekannten Machart. Schau dir nur die Kleidung der Kleinen an. Das sieht aus wie eine Art von Uniform. Man könnte denken, sie sei einem Science-fiction-Film entstiegen. Irgend ‘was ist hier faul. Wie hat sie den riesigen Kerl flachgelegt? Ich will auf jeden Fall nicht in der Nähe sein, wenn sie aufwacht und merkt, wer ihr ins Zeug gepfuscht hat.«
»Vielleicht hast du recht«, murmelte Robert.
»Komm mit. Ich glaub’ sie kommt zu sich.« Nick packte Robert am Ärmel und zog ihn mit sich. Im Hinausgehen warfen sie einen Blick zurück und sahen, wie das Mädchen sich bewegte und mit einem leisen Stöhnen sich auf den Rücken rollte.
Den ganzen Weg zurück in die Stadtmitte legten sie im Laufschritt zurück.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 06. Januar 2002 06:29 |