Überraschende Hilfe
Robert versetzte sich mit den Beinen in Schwung und schaffte es, sich so weit herumzudrehen, daß er das halb geöffnete Eingangstor sehen konnte. Durch den Nebel und mit dem Licht im Rücken konnte er die drei Gestalten nicht erkennen, die blitzschnell hinein stürmten und sogleich hinter den nächst gelegenen Pfeilern Deckung suchten.
»Hierher! Zu Hilfe! Wir hängen hier oben!« rief er so laut er konnte und zappelte mit den Beinen, obgleich es sehr weh tat.
Die drei Gestalten kamen näher. Sie schienen äußerst kräftig zu sein und ihre Köpfe waren überdimensional groß.
»Ach du meine Güte! Noch mehr Außerirdische!« rief Nick erschrocken. War dies etwa die berühmte Spezial-Truppe von der Kirina gesprochen hatte?
»Wenn ihr den verrückten Doktor und den Androiden sucht, dann habt ihr sie gerade verpaßt«, sagte Nick.
»Seid ihr die Sternenkrieger von der Spezial-Truppe?« fragte Robert.
Die drei hielten inne. Sie sahen einander an und schienen sich zu beraten. Dann traten sie vorsichtig näher. Jetzt erst erkannte Nick, daß die riesigen Köpfe Helme waren und die Unförmigkeit ihrer Gestalt von der gepanzerten Kampfuniform herrührte.
Der Anführer der Gruppe nahm seinen Helm ab.
»Wer seid ihr? und wo ist Dr. Pillar?« fragte er in einem nicht sehr einladenden Befehlston.
»Holt uns erst einmal hier herunter«, sagte Nick, und starrte den Fremden mit unverhohlener Neugier an.
Der Sternenkrieger zielte mit seiner Pistole nach den beiden. Nick sah einen Blitz, der ihn blendete und sogleich spürte er, wie die Kette nachgab. Ziemlich unsanft plumpsten die beiden auf den harten Betonboden, wo sie erst einmal etwas benommen liegen blieben.
»Wir müssen hier raus«, sagte Nick, der als erster die Sprache wieder gefunden hatte. »Die Regierungsleute holen bestimmt Verstärkung. Macht doch endlich die Kette auf und kümmert euch um das Mädchen und die beiden Jungs dort hinten.«
Das gefangene Mädchen stieß, als ihr der Knebel abgenommen wurde, sogleich einen spitzen Schrei aus und kaum waren ihre Fesseln durchtrennt, da lief sie schreiend und heulend davon. Die beiden Jungen waren noch ziemlich benommen und stolperten leicht desorientiert ins Freie. Einer der Sternenkrieger wollte ihnen hinterher laufen, aber Nick rief ihm zu, er solle sie in Ruhe lassen.
Sie verließen das Gebäude durch den Hintereingang. Die Sternenkrieger sicherten ihren Rückzug ab, aber in der Umgebung der Werkhalle war keine Menschenseele zu sehen. Im Laufschritt machten sie sich aus dem Staub.
Nachdem sie gut zehn Minuten gelaufen waren, blieben Nick und Robert stehen. Sie waren völlig ausgepumpt, während die drei Krieger in ihren schweren Uniformen kaum schneller atmeten. Sie waren am Rande eines Gehölzes angelangt, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt, eine kurze Rast einlegten.
Die beiden anderen Krieger nahmen jetzt ebenfalls ihre Helme ab. Zur nicht geringen Überraschung der beiden Jungen kam unter dem dritten Helm ein Schwall goldblonden Haares zum Vorschein.
»Hoppla! Wer ist die Maus?« fragte Robert ein wenig anzüglich, wofür er von Nick einen Stoß mit dem Ellbogen kassierte.
»Wer seid ihr und was wißt ihr über Dr. Pillar und den ARCON?« wiederholte der Anführer die Frage.
Nick schilderte ihnen mit wenigen Worten, was in der Halle vorgefallen war.«
»Was ist mit Kirina?« fragte das Mädchen.
»Sie ist mit Pillar und dem ARCON unterwegs. Vermutlich sind sie auf dem Weg in die Stadt.«
»Kirina hat uns erzählt, daß die Sternenflotte eine Spezialtruppe schicken würde, um die beiden wieder einzufangen. Wir haben nicht so rasch mit euch gerechnet.«
»Wir sind nicht die Spezialtruppe. Wir sind — Ich weiß nicht, ob ich euch das sagen darf. Es ist uns nicht gestattet, mit den Bewohnern dieses Planeten Kontakt aufzunehmen.«
»Ich fürchte, das hat Kirina schon getan; und wir wissen genug von euch, daß ihr uns auch den Rest erzählen könnt«, sagte Robert dem die Geheimniskrämerei der drei langsam auf die Nerven ging. »Wenn ihr die drei einfangen wollt, werdet ihr ohnehin auf unsere Hilfe angewiesen sein. Oder kennt ihr euch vielleicht in der Stadt aus?«
»Er hat recht, Jokai. Wie es scheint, sind die beiden die einzigen, die von unserer Existenz wissen. Und wir können durchaus Hilfe gebrauchen.«
»Also gut. Wir sind Kameraden von Kirina. Ich heiße Jokai, das ist Yoshi und sie heißt Naru.« Die drei grüßten sie mit dem vorschriftsmäßigen Gruß der IPU, woraufhin Robert und Nick sich kurz vorstellten.
»Wir haben uns Sorgen um Kirina gemacht. Wir waren nämlich nicht ganz unbeteiligt an der Flucht der beid… — jedenfalls gelang es uns, den Kommandanten zu überreden, daß er uns das Shuttle-Schiff zur Verfügung stellt. Wir haben bis morgen Abend Zeit, Kirina und die Flüchtlinge zu finden und zurückzuschaffen.«
»Sagtest du nicht, daß Kirina mit Dr. Pillar unterwegs sei? Das verstehe ich nicht«, sagte Naru.
Robert schwieg und sah zu Boden. Nick räusperte sich und sagte schließlich:
»Pillar hat sie mit einer der Psyllion infiziert. Sie steht unter seiner Kontrolle und ist ihm ganz hörig.«
»Nein!« rief Naru und wandte sich ab. Jokai und Yoshi sahen einander entsetzt an.
»Arme Kirina!« flüsterte Yoshi.
»Sie war die beste von uns Kadetten«, sagte Jokai leise.
»Aber ihr redet von ihr, als sei sie bereits tot«, rief Robert. »Die Psyllion wird sie nicht umbringen. Ich habe gehört, was der Doktor gesagt hat. Es handelt sich um eine mutierte Art. Außerdem gibt es ein Mittel, das sie aus dem Körper vertreiben kann. Pillar hat es an sich selber angewandt um immun gegen die Psyllion zu werden. Wenn es uns gelingt, ihn bald zu finden, dann kann Kirina gerettet werden.«
»Bist du sicher?«
Robert nickte.
»Gut. Aber der Kampf gegen Pillar und den ARCON ist unsere Angelegenheit. Ihr werdet euch von den beiden fern halten. Wie wollen wir weiter vorgehen?« fragte er zu seinen Kameraden gewandt.
»Ich schlage vor, wir gehen zu den beiden Fliegenden Untertassen. Die können nämlich nicht mehr lange dort stehen bleiben ohne entdeckt zu werden«, sagte Robert.
»Fliegende Tassen?« Naru lachte und sah Robert fragend an.
»Ich meinte die beiden Raumgleiter.«
»Das wurde bereits veranlaßt. Das war die Aufgabe von Gruppe B«, erklärte Jokai. »Ich schlage vor, wir gehen in die Stadt und suchen die drei.«
»Ihr könnt dort nicht in diesem Aufzug herumlaufen. Ihr müßt euch wie wir kleiden und unauffällig benehmen.«
»Wo bekommen wir die richtige Kleidung her?« fragte Yoshi.
»Ihr habt sicher kein Geld, nicht wahr?« fragte Nick. Jokai nickte.
»Dieses Geld, ist das wichtig?« fragte Naru.
Nick seufzte und sagte: »In dem Fall bleibt uns nichts anderes übrig, als sie mit nach Hause zu nehmen und selber auszustatten.«
»Da du die größere Garderobe hast, als ich, schlage ich vor, daß du die beiden Jungs mitnimmst, während ich mich um das Mädchen kümmere«, sagte Robert.
»Das sieht dir ähnlich. Wir haben keine Zeit zum Flirten. Wir gehen alle zu mir.«
»Da ich kleiner bin als du, werden ihr meine Sachen eher passen, als deine.« Gegen dieses Argument war Nick machtlos. Es wurde also beschlossen, daß Robert mit Naru zu sich nach Hause gehen sollte, während Nick die beiden Jungs mitnehmen wollte. Sie wollten sich gegen Abend bei Nick treffen, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Nick hatte zu bedenken gegeben, daß es besser sei, ihre Aktivitäten in die Nacht zu verlegen, weil sie dann weniger Aufmerksamkeit auf sich zögen. Außerdem wäre die Gefahr geringer, daß im Falle von Kampfhandlungen Außenstehende in Mitleidenschaft gezogen würden.
Naru ignorierte die musternden Blicke der beiden Damen im Fahrstuhl, während Robert, dem es sichtlich peinlich war, etwas von einem Kostümfest murmelte. Zum Glück lag seine winzige Behausung im vierten Stock des Hochhauses, so daß die Fahrt nicht sehr lange dauerte.
»Hier wohne ich also«, sagte er und machte eine einladende Handbewegung, nachdem er das Mädchen hinein gelassen hatte. Naru sah sich mit einer Mischung von Neugier und Verwunderung in der kleinen Wohnung, die aus zwei winzigen Räumen bestand, um.
»Sieh dich ruhig um. Aber mach keinen Schrank auf, sonst könnte dir der ganze Krempel entgegen kommen.«
Naru kicherte. »Du scheinst nicht besonders ordentlich zu sein. Du müßtest einmal einige Wochen Dienst auf der Pexxt tun, dann würde dir unser Kommandant ganz gehörig den Kopf waschen. Ich habe da so meine Erfahrungen gemacht.«
Robert ging auf dem direkten Weg in die schmale Küche. Er hatte seit einem Tag nichts mehr gegessen. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt. Er hoffte inständig, daß noch etwas nahrhaftes im Kühlschrank zu finden sei, denn er war in den vergangenen Tagen nicht zum Einkaufen gekommen. Er hatte Glück. Im Kühlschrank stand noch eine Dose mit Eintopf.
»Magst du auch etwas essen?« fragte er Naru. »Ich nehme an, auf eurem Raumschiff wird die Nahrung in speziellen Replikatoren synthetisch hergestellt, oder ernährt ihr euch von Nahrungskonzentrat aus Tüten?«
Naru sah ihn mit einem Ausdruck größter Belustigung an. Was hatte dieser Jungen doch für seltsame Vorstellungen. Synthetische Nahrung — Igitt!
»Nein, auf der Pexxt wird ganz normal gekocht. Wir haben Vorräte von Fleisch und Gemüse an Bord, welche von unserem Schiffskoch vorzüglich zubereitet werden. Wir haben großes Glück, unser Koch ist ein wahrer Meister. Er zaubert sogar noch am Ende einer größeren Fahrt, wenn die Vorräte zur Neige gehen, noch leckere Sachen auf den Tisch. — Aber ich kann hier nichts essen. Unser Doktor hat uns gewarnt, keine Lebensmittel zu verzehren und keine Lebewesen zu berühren.«
»Ah, ich verstehe, aus Furcht vor unbekannten Mikroben, die auch gefährlich werden können. Wie in ›Krieg der Welten‹, wo die Invasoren vom Mars durch irdische Bakterien getötet wurden.«
»Der Mars, ist das nicht der vierte Planet eures Systems? Dort gibt es aber keine Lebewesen, jedenfalls keine intelligenten, bestenfalls einige sehr primitive Einzeller. Und die sollen eure Erde angegriffen haben?«
Robert lachte. »Nein, nein. Das war doch nur ein Film, eine erfundene Geschichte.«
Der Eintopf war bald aufgewärmt. Während Robert ihn direkt aus dem Topf löffelte — dann mußte er hinterher keinen Teller abwaschen — schaute Naru ihm interessiert zu.
»Und du möchtest wirklich nichts?« fragte er, als er bemerkte, wie sie diskret den Duft des Essens einsog. Naru schüttelte den Kopf.
Nach dem Essen begaben sie sich in Roberts Schlafzimmer. Robert drängelte sich an ihr vorbei und versuchte noch einige herumliegende Wäschestücke unter das Bett zu schieben, bevor sie hereinkam.
»Also, mal sehen, was dir passen könnte«, sagte er und schob die Schiebetür des Kleiderschranks auf.
»Ich habe natürlich keine Mädchensachen, aber ein Paar Jeans und ein T-Shirt oder ein Pullover werden dir bestimmt auch gut stehen. Zieh alles aus; wir werden schon etwas passendes für dich finden.« Naru nickte und begann ihre schweren Handschuhe abzustreifen.
»Hilfst du mir bitte mit der Uniform? Es ist immer ein wenig umständlich, die Schnallen auf dem Rücken zu öffnen.«
Nur zu gerne legte Robert Hand an. Die Brust- und Schulterpanzer, welche aus einem ihm unbekannten, sehr harten Material bestanden und auf der Innenseite weich gepolstert waren, fühlten sich viel leichter an, als er erwartet hatte. Er legte ihr einige Sachen zur Auswahl auf das Bett. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, stockte ihm der Atem. Mit offenem Mund und einem ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck starrte er das Mädchen an, welches splitternackt vor ihm stand.
»Ich glaube, ich nehme das rote Hemd, das paßt gut zu den blauen Hosen. — Was hast du? Ist dir nicht gut? Du hast auf einmal ein ganz rotes Gesicht.« Sie schien ehrlich besorgt.
»Ich, äh — also, bei uns trägt man normalerweise Unterwäsche und — hm — es schickt sich nicht, sich vor einem Mann nackt auszuziehen — ich meine, jedenfalls nicht, wenn man sich noch nicht richtig kennt — will sagen…«
Jetzt war Naru an der Reihe verlegen zu werden. Ein feiner rosa Schimmer überzog ihre Wangen. Sie riß die Decke vom Bett und wickelte sich behelfsmäßig darin ein.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich kenne die Bräuche eures Volkes nicht. Bitte entschuldige, aber du hast gesagt, ich solle alles ausziehen.«
»D — das ist schon in Ordnung«, stammelte Robert. »Ich gehe mal rasch ins Bad.«
Robert schloß die Badezimmertür und drehte den Schlüssel zweimal um. Er drehte den Wasserhahn weit auf und hielt den Kopf unter den sprudelnden Strahl. Diese Abkühlung hatte er bitter nötig und sie tat ihn sehr gut.
»Mann, ist die Kleine süß! Die würde ich nur zu gern vernaschen«, flüsterte er seinem Spiegelbild zu.
Naru war etwas kleiner als Kirina und ein wenig zierlicher gebaut. Ihr Haar hatte die gleiche Länge und war ebenfalls in fünf, mit verschiedenfarbigen Bändern durchflochtene Zöpfe geteilt. Ihr Gesicht hatte die selbe Form, wie das Kirinas und ihrer beiden männlichen Kameraden. Ihre Augen, hatten die Form von Mandeln und leuchteten in einem türkisenen Grün. Ansonsten sah sie aber wie ein gewöhnliches Erdenmädchen aus.
Als Robert nach ausreichender Erfrischung wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand er Naru fertig angezogen vor. Sie sah in der irdischen Kleidung hinreißend aus, fand er. Nur die Hose war ihr viel zu weit. Aber Naru verwendete einfach den Gürtel ihrer Uniform.
»Kann ich mich so unter die Leute mischen?« fragte sie.
»Und ob«, erwiderte Robert. »Aber deine Strahlenpistole und die übrigen Geräte sehen sehr verdächtig aus. Aber die kannst du unter einer Jacke verbergen.« Er holte seine alte Jeansjacke hervor, die ihm zu eng geworden war. Dem Mädchen paßte sie gut. Im Übrigen entsprach es zur Zeit ohnehin der Mode, viel zu weite Kleider zu tragen.
»Wie wollen wir uns die Zeit bis zum Abend vertreiben?« fragte Naru.
»Ich, für meinen Teil werde mich ein wenig aufs Ohr legen. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen und wie es aussieht, werde ich diese Nacht auch nicht dazu kommen. Aber du kannst ein wenig fernsehen, wenn du willst. Außerdem habe ich jede Menge Computerspiele. Es ist zwar eine ziemlich veraltete Kiste — besonders für deine Begriffe — aber zum Schreiben und zum Spielen reicht er.«
Der Nachmittag verging für Robert ziemlich rasch. Als er aufwachte, fühlte er sich, wie immer wenn er Nachmittags geschlafen hatte, ziemlich müde und lustlos. Naru hingegen hatte einige recht langweilige Stunden verlebt. Roberts Computer erwies sich als eine äußerst skurrile Antiquität, mit deren Handhabung sie nicht zurechtkam. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, in alle möglichen Öffnungen hineinzusprechen und das Gerät sich verstockt zeigte und sich beharrlich weigerte, eine Antwort zu geben oder auf einen ihrer Befehle in jeder ihr bekannten Sprache zu reagieren, versuchte sie es mit der Tastatur. Aber das brachte auch nicht viel, außer daß das System abstürzte und gar nichts mehr ging.
Also stöberte sie ein wenig in Roberts Sachen herum, natürlich so diskret wie möglich. Am meisten interessierte sie sich für die Gegenstände des täglichen Bedarfs, für die Einrichtung von Küche und Badezimmer, wobei sie feststellen konnte, daß bei allen noch so großen Unterschieden bezüglich der Technologie und Kultur ihrer Völker, sie dennoch erstaunlich vieles gemeinsam hatten.
Zuletzt wandte sie sich dem Fernsehapparat zu. Das Programm erwies sich als äußerst lehrreich, was das Leben auf der Erde und die Umgangsformen unter den Menschen anbelangte. Vor allem fiel ihr auf, daß die Sprache, welche sie von den Bändern gelernt hatte, nicht ganz jener der Menschen im Fernsehen entsprach. Sie versuchte, sich daher so viele der typischen Ausdrücke und geflügelten Wörter wie möglich zu merken.
»Ist es interessant?« fragte Robert. Naru nickte und wandte kaum den Blick vom Bildschirm.
»Ich habe in dem Fernsehen gesehen, daß es auf eurem Planeten viele ganz unterschiedliche Rassen gibt. Euch gibt es anscheinend in allen Farben und Formen.«
Robert lachte. »Ist das bei euch nicht so?«
»Nein. Wir sehen alle mehr oder weniger gleich aus, nur die Leute im Süden sind ein wenig brauner. Ihr habt es gut. Ich meine, wenn bei euch einer ein bißchen anders ausschaut, dann fällt das nicht so auf wie bei uns. Zum Beispiel wenn jemand gelbes Haar hat.«
»Du meinst blond; so wie du?« Sie nickte.
»Ist das so selten bei euch?«
»Ja. In meinem Jahrgang auf der Akademie war ich die einzige. Und wir waren über dreihundert Kadetten.« Robert staunte nicht schlecht.
»Da kannst du aber froh sein. Ich finde, es sieht nämlich sehr schön aus.«
»Ja, ich weiß«, meinte Naru ein wenig traurig. »Das sagten die Kerls auf der Akademie auch.«
»Also, ich wäre froh, wenn ich glatte blonde Haare hätte, statt dieses Wustes von braunen Wirbeln und Locken, die sich kaum kämmen lassen. Außerdem ist es etwas schönes, wenn man irgendwie außergewöhnlich ist.«
»Das würdest du nicht sagen, wenn du bei uns leben müßtest. Ich finde es nicht besonders schön, wenn sich überall die Leute nach einem umdrehen und einen anstarren. Oder wenn sie einem an den Kopf fassen wollen, weil es angeblich Glück bringt.«
»Naja, so gesehen…« meinte Robert und sah das Mädchen aufmerksam an. Nur zu gerne hätte auch er einmal ihr golden schimmerndes Haar gestreichelt. Naru sah ihn an und auf ihren Lippen erschien ein schmales Grinsen. Als ob sie seine Gedanken erraten hatte, sagte sie: »Wenn du willst, darfst es berühren. Bei dem, was wir vorhaben kannst du jede Menge Glück gebrauchen.« Sie lachte und ließ eine Reihe glänzender weißer Zähne aufblitzen. Vorsichtig strich Robert über die seidig schimmernde Haarpracht, befühlte die weichen Zöpfe und ließ sie durch seine Finger fließen.
»Ich frage mich, wie ihr so lebt auf eurem Planeten. Bestimmt ist alles schrecklich modern, voller Technik und elektronischen Geräten.«
Naru zuckte mit den Achseln.
»Es ist alles ganz anders, als hier. Natürlich sind wir viel weiter entwickelt, besonders was die Technik anbelangt. Aber sie spielt keine so große Rolle in unserem Alltag. In den Städten leben die Menschen sehr modern. Es gibt ungeheuer viele Maschinen und Lichter. Ich liebe es, Nachts von meinem Fenster aus die funkelnden Lichter der Stadt zu betrachten. Die Leute vom Land sagen, das sei die reinste Verschwendung von Energie und die Maschinen würden die Menschen verweichlichen und von der Natur entfremden. Dafür halten wir die Landleute für rückständig und primitiv. Aber wahrscheinlich haben beide irgendwie recht. Früher gab es heftigen Streit zwischen der Bevölkerung auf dem Land und dem Menschen in den großen Städten. Sie warfen uns vor, wir würden die ganzen Rohstoffe und Energievorräte verschwenden und die Natur mit dem Abfall vergiften. — Ihr solltet hier auch aufpassen. Die Luft in dieser Stadt ist ziemlich giftig. Ich fürchte, wenn ihr so weiter macht, dann werdet ihr noch große Schwierigkeiten bekommen.«
»Das sagen bei uns auch viele Leute. Aber ich bin zuversichtlich, daß es uns in der Zukunft gelingen wird, diese Probleme zu lösen. Ihr habt es schließlich auch irgendwie geschafft.«
»Ich hoffe es für euch, denn diese Welt ist wirklich sehr schön. Ihr habt diese riesigen Ozeane und die gewaltigen Länder. Bei uns war es einfacher. Wir sind viel weniger Menschen. Unsere Reserven reichen noch für viele Tausend Jahre.«
»Mir fällt auf, daß du die gleiche Frisur hast, wie Kirina.«
»Lange Haare sind in der Sternenflotte eigentlich nicht erlaubt. Diese Art, die Haare zu tragen, entspricht einer uralten Tradition. Es ist die einzige erlaubte Art, sein Haar zu frisieren, wenn man es nicht kurz schneiden will. Aber ich überlege mir, ob ich sie nicht abschneide. Das spart ungeheuer viel Zeit und Arbeit.«
»Das glaube ich. Aber es wäre wirklich schade drum«, sagte Robert und spürte eine leichte Verlegenheit in sich hochsteigen. Er wechselte lieber das Thema.
»Kennt ihr euch schon lange, Kirina und du? Nick und ich sind schon zusammen auf die Grundschule gegangen.«
»Oh! Nein! Wir haben uns erst auf der Pexxt kennen gelernt, so heißt unser Raumkreuzer, auf dem wir zur Zeit Dienst tun. Wir stammen nicht einmal aus der gleichen Gegend. Ich bin in der Stadt aufgewachsen, Kirina kommt vom Land.«
»Wirklich? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Kirina, ein Mädchen vom Lande. Dabei hatte ich den Eindruck, als verstehe sie ziemlich viel von Technik und solchen Dingen.«
»Ja, sie ist ungeheuer tüchtig. Normalerweise schafft es kaum einer, der vom Lande kommt, auf die Sternenakademie. Sie war sogar eine der Besten ihres Jahrganges. Ich habe mir — ich meine — also Yoshi hat sich ihre Personalakte aus dem Archiv geholt. — Das ist natürlich verboten, aber … — Jedenfalls lag es nicht daran, daß ihr Vater Kapitän Erster Klasse in der Ersten Sternenflotte war. Ihre Testergebnisse sind einfach unglaublich.«
»Ich nehme an, daß ihr Vater wollte, daß ihr Bruder, seine Nachfolge anträte, und als er gestorben war, wollte sie wahrscheinlich beweisen, daß sie genau so tüchtig ist wie er«, sagte Robert nachdenklich. Naru sah ihn mit einem Ausdruck höchster Verwunderung an.
»Woher weißt du das alles? Hat sie dir das etwa erzählt?«
»Ja. Warum erstaunt dich das so?«
»Weißt du, Kirina redet nicht viel. Sie erzählt nie etwas über sich. Sie war die ganze Zeit über, seit ich sie kenne immer sehr verschlossen, hat sich von allen fern gehalten.«
»Manchmal ist es leichter, mit einem Fremden zu sprechen, als mit jemandem, den man kennt und mit dem man die ganze Zeit zusammen ist. Trotzdem müßt ihr gute Freunde sein, wenn ihr hierher gekommen seid, um ihr beizustehen.«
Naru senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
»Nein, eigentlich habe ich sie nie gemocht, niemand auf dem Schiff — und sie hat niemanden gemocht. Deshalb wollten die anderen auch gar nicht herkommen. Sie haben sich nur einverstanden erklärt, die beiden gestohlenen Raumgleiter wieder zurück zu bringen, aber mit Kirina wollten sie nichts zu tun haben.«
»Und ihr drei?«
»Ich bin ihr noch einen Gefallen schuldig und die beiden Jungs… — Sie waren nicht ganz unbeteiligt, an dem Mißgeschick, das zur Flucht von Dr. Pillar und dem Androiden geführt hat. Aber darüber darf ich nicht sprechen.«
So verhielt es sich also. Robert runzelte die Stirn. Er hatte Kirina nur als die schöne, stolze Sternenkriegerin kennen gelernt, hatte ihre Stärke und ihren schier grenzenlosen Mut bewundert, ohne nur im Mindesten zu ahnen, daß es in ihrem Inneren ganz anders aussah. Auf einmal verblaßte das Bild der beherrschten, selbstsicheren Kriegerin und hervor trat ein anderes; das eines einsamen jungen Mädchens, das unter dem Schatten eines genialen, hoffnungsvollen, aber jung verstorbenen Bruders stand, der sie wie ein Gespenst verfolgte, sie von einer Anstrengung, von einem Erfolg zum nächsten hetzte, unter dem strengen Regiment eines fordernden Vaters, der seines einzigen Sohnes nicht vergessend, seine Tochter nicht zu stützen, zu ermutigen verstand, sondern in allen ihren Anstrengungen nur den Ersatz eines nie erreichbaren Ideals erblickte. Wie hatte dieses freiheitsliebende, naturverbundene Mädchen die unerbittliche Strenge und Härte einer lieblosen militärischen Erziehung ertragen können, wenn sie nicht selbst ihr ärgster Feind, ihr strengster Lehrmeister gewesen war?
Robert wollte nicht weiter in Naru dringen. Er erkannte, daß es ihr nicht leicht fiel über ihr Verhältnis zu Kirina zu sprechen. Wahrscheinlich war sie sich selber nicht sicher, wie sie zu ihrer Kameradin stand. Robert schaltete den Fernseher wieder ein.
»Auf Kanal 10 kommen gleich die Lokalnachrichten«, sagte er. »Mal sehen, ob die etwas über die Ereignisse auf dem alten Fabrikgelände bringen und wie sie den Absturz der beiden Hubschrauber erklären.« Er schaltete auf den Sender um.
»Ist das nicht…?« Naru stieß ihn mit dem Ellbogen an. Robert starrte verwundert auf den Bildschirm und drehte die Lautstärke auf. Auf der Mattscheibe war ein Mädchen zu sehen, das genau so aussah, wie jenes, das sie in der alten Fabrik befreit hatten. Sie wurde gerade von Louisa Katz, der Starreporterin des Lokalsenders interviewt.
»Sie behaupten also tatsächlich, von Außerirdischen entführt worden zu sein?« fragte Katz.
»Ja!« antwortete das Mädchen und schien ganz aufgelöst. »Es waren riesige Gestalten in silbernen Raumanzügen. Sie besaßen Strahlenwaffen mit einer ungeheuren Zerstörungskraft. Sie wollten sich mit uns Erdenmenschen paaren um ihre Art aufzufrischen. Ihr Anführer ist ein Wissenschaftler. Er hat über ein Dutzend Menschen entführt und…«
»So ein Unsinn!« rief Naru wütend und sprang auf. Einen Augenblick lang fürchtete Robert ernsthaft um seinen Fernsehapparat, denn es hätte nicht viel gefehlt und die aufgebrachte Sternenkriegerin hätte den Apparat mit ihrer Strahlenpistole erledigt. Der Bericht ging weiter. Im Studio wurde ein weiterer Gast befragt.
»Vielen Dank, Oberst Morris, daß sie sich die Zeit genommen haben, uns hier im Studio live einige Fragen zu beantworten.« Der Oberst lächelte verbindlich in die Kamera.
»Haben Sie selber oder andere Einheiten der Luftaufklärung Anhaltspunkte für UFO-Aktivitäten im Luftraum unserer Region?«
»Aber nein! Ich kann Sie versichern, daß weder unser Aufklärungsgeschwader noch unsre Kampfpiloten jemals eine Fliegende Untertasse gesehen haben. Auch kann ich nicht bestätigen, daß der Absturz zweier Armeehubschrauber südöstlich der Stadt in irgend einem Zusammenhang mit außerirdischen Flugkörpern oder dergleichen gestanden hat. Ich will zwar der amtlichen Untersuchung nicht vorgreifen, aber ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß die Ursache dieses bedauerlichen Unglückes auf menschliches Versagen zurückzuführen war. Alle Spekulationen über fehlerhafte Navigationstechnik möchte ich an dieser Stelle…«
»Vielen Dank, Oberst! Aber ich möchte noch einmal auf das Thema UFO zurückkehren. Zuschauer haben berichtet, daß in der Gegend des ehemaligen Industriegeländes weiträumige Absperrungen zum Schutze wissenschaftlicher Untersuchungen vorgenommen wurden. Was können Sie uns darüber sagen?«
»Nun, diese vorübergehende Absperrung diente nur der Sicherheit der Allgemeinheit. Nachdem uns Informationen bezüglich einer Verschmutzung des Erdreichs mit Chemikalien zugetragen worden waren, haben wir selbstverständlich sofort Experten hinzugezogen, welche aber keinerlei Spuren von Chemikalien feststellen konnten. Ich möchte an dieser Stelle einmal mehr darauf hinweisen, daß gewisse subversive Elemente am Werke sind, welche durch gezielte Desinformation den guten Ruf unserer Streitkräfte untergraben und die Regierung…«
»Äh — ja, Danke, Herr Oberst. Aber unsere Sendezeit geht zu Ende. Für unsere Zuschauer haben wir eine Telefonlinie eingerichtet, wo Sie uns noch bis Mitternacht anrufen können…«
Robert schaltete den Fernseher aus. Soviel zur Informationspolitik der Regierung. Immerhin hatte der Oberst was die UFO-Beobachtungen anbetraf, nicht gelogen. Gesehen hatte niemand die Fliegenden Untertassen.
»Ich werde mal Nick anrufen. Vielleicht hat er den Bericht auch gesehen«, sagte Robert und griff nach dem Telefonhörer.
»Warum gehen wir nicht gleich selber hin?« fragte Naru.
»Wir haben Glück, daß meine Eltern verreist sind und meine kleine Schwester ebenfalls mitgenommen haben, sonst könnte ich euch nicht hierher mitbringen«, sagte Nick, während er die Haustür aufschloß.
Im Gegensatz zu Robert wohnte er zu Hause bei seinen Eltern, welche ein ziemlich großes und luxuriöses Haus am Stadtrand besaßen. Die beiden Sternenkrieger staunten nicht schlecht, als Nick sie durch den großen Garten, an dem mit weißen und blauen Kacheln gefließten Schwimmbecken vorbei zum Haus führte.
Nick bemerkte die staunenden Gesichter und erklärte ein wenig verlegen: »Meine Eltern sind ziemlich wohlhabend. Ich meine, nicht alle Leute hierzulande wohnen in so schönen und großen Häusern. Wie lebt ihr eigentlich, da wo ihr herkommt?«
Yoshi sah seinen Freund an und sagte dann: »Wir leben in einer ziemlich großen Stadt. Die Gebäude stehen dicht an einander, um Raum zu sparen. Nicht viele Häuser besitzen einen Garten; eigentlich nur die Häuser der Herrscher. Aber es gibt viele öffentliche Gärten und Bäder.«
»Kommt herein und schaut euch ungeniert um«, sagte Nick einladend und schob die beiden durch die Tür. Staunend und ein wenig scheu gingen die beiden jungen Sternenkrieger durch die weite, lichtdurchflutete Eingangshalle mit der schwungvoll ausholenden Treppe, die in das Obergeschoß führte. Nicht minder staunte Nick, als er die verwunderten Blicke der beiden Krieger gewahrte. Er fragte sich insgeheim, wie es auf dem Heimatplaneten der beiden Jungen ausschauen mochte. War es eine jener wundervollen, beinahe paradiesischen Zukunftswelten, wie sie in zahllosen Filmen und Fernsehserien dargestellt wurden, oder handelte es sich um eine düstere, apokalyptische Endzeitwelt, wo alles zerfiel und die Menschen in Armut und Elend vegetierten?
Weit gefehlt! Auf Nicks diesbezügliche vorsichtige Fragen berichteten die beiden von ihrer Heimatstadt, von ihrem Leben und den Umständen unter welchen sie dort aufwuchsen.
»Es sieht hier alles ganz anders aus, als bei uns. Ihr habt so viele Dinge in euren Häusern. Überall hängen Bilder, stehen Möbel herum, Pflanzen, Statuen, Säulen und Verzierungen. Das ist alles ein wenig verwirrend für uns, denn wir sind so einen Aufwand an Formen, Farben und Materialien nicht gewohnt. Außerdem sind die Räume viel größer und höher, als bei uns zu Hause. Dafür ist aber alles viel primitiver und weniger bequem. Die Einrichtung erinnert mich ein wenig an die alten Paläste und die technische Ausstattung an die primitiven Behausungen der Landbevölkerung«, erklärte Yoshi.
Sein Kamerad indessen interessierte sich besonders für die technischen Einrichtungen. Mit einer Mischung aus Staunen und Ehrfurcht, betrachtete und befühlte er die elektrischen Geräte im Haushalt.
»Das ist ja phantastisch!« rief er. »Ihr benutzt immer noch Glühfadenlampen und — oh! — Sind das wirklich elektrische Heizspiralen? Was für eine Energieverschwendung! Ich habe so etwas im technischen Museum der Akademie gesehen.« Nick beobachtete die beiden bei ihrem Erkundungsgang durch das Haus mit einer Mischung aus heimlicher Belustigung und ein wenig Verdruß über die für seinen Geschmack ein wenig zu häufig geäußerten Worte: »Nein wie primitiv!« und »Ist das nicht herrlich altmodisch?«
Nick hatte einige Mühe Jokai daran zu hindern, die Rückwand des nagelneuen Großbildfernsehers abzuschrauben, weil er die Kathodenstrahlröhre in Funktion sehen wollte. Um die beiden ein wenig abzulenken, führte er sie in den ersten Stock, wo er seine zwei Zimmer besaß.
»Sag bloß, du schläfst in so einem Bett?« fragte Yoshi, als er die unordentlichen Laken und Kissen sah. Hastig warf Nick die Tagesdecke über das ungemachte Bett. In den letzten Tagen war er nicht oft zum Aufräumen gekommen und so sah das Schlafzimmer nicht besonders ordentlich aus — das Wohn- und Arbeitszimmer übrigens auch nicht. Wie hätte Nick aber auch ahnen können, daß er Besuch aus dem Weltall mitbringen würde.
»Sind da wirklich Vogelfedern drin?« fragte Jokai und knautschte mit spitzen Fingern ein Kissen. Nick nickte und mußte lachen, als er sah, wie Jokai das Kissen mit einem Ausdruck von schlecht verhohlener Abscheu fallen ließ.
Er öffnete die Türen seines wahrhaft riesigen Kleiderschrankes und sagte:
»Hier! Sucht euch etwas passendes aus.« Diese Großzügigkeit fiel ihm leicht, denn im Gegensatz zu Robert legte er Wert darauf, stets nach der neuesten Mode gekleidet zu sein — und konnte es sich auch leisten.
Die Auswahl und Anprobe nahm einige Zeit in Anspruch. Teils zeigten die beiden Sternenkrieger überhaupt kein Gefühl für Farben und Kombinationen, teils wollte Nick sich nicht von seinen Lieblingssachen trennen. Am Ende aber wurden sie zur Zufriedenheit aller Beteiligten fündig.
Nick sah auf die Uhr. Bis Robert und Naru kämen hatten sie noch genug Zeit, einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen. Ein entsprechendes Angebot an die beiden lehnten Jokai und Yoshi mit Bedauern ab.
»Möchtet ihr vielleicht etwas trinken, eine Limonade? — eine Tasse Tee? — oder lieber ein Glas destilliertes Wasser?« Nicks Tonfall war eine Spur schärfer geworden und da Höflichkeit und gutes Benehmen ebenso zu den rigoros einstudierten Übungen gehörten, wie militärischer Drill und Disziplin, mußten die beiden Sternenkrieger eine diplomatische Entscheidung treffen, welche es ihnen erlaubte, die Hygienevorschriften des Schiffsarztes ebensowenig zu verletzen, wie die Gefühle ihres Gastgebers. Also entschieden sie sich, das Wagnis einzugehen und eine Tasse Tee zu probieren. Was konnte da schon geschehen, außer vielleicht der Möglichkeit, sich mit unbekannten Pflanzen zu vergiften?
Der Tee war rasch bereitet. Während Nick in der Küche nach der Keksdose suchte — warum sollte er Hunger leiden, wenn die beiden schon nichts wollten? — gab Jokai diskret einen Tropfen Tees in ein kleines Untersuchungsgerät. Er reichte es Yoshi, der die Anzeige aufmerksam studierte und dann langsam nickte. Noch bevor Nick mit der Biscuitdose unter dem Arm zurückkehrte, war das Gerätlein wieder in Jokais Tasche verschwunden.
Der Tee schmeckte den Besuchern großartig und ermuntert davon, wagte Jokai es sogar, einige Tropfen Zitronensaft in seine Tasse zu träufeln.
»Eßt ihr denn gar nichts während ihr hier seid? Oder braucht ihr nur alle paar Tage Nahrung zu euch zu nehmen?«
Yoshi lachte und zog einige Päckchen aus silbrig glänzender Folie aus der Tasche.
»Wir haben eine Notration mit.« Er riß eines der Päckchen auf und brachte einen ländlichen, braunen Quader zum Vorschein, von dem er ein kleines Stück abbrach.
»Was ist das denn?« fragte Nick und beäugte die etwas bröckelige Masse.
»Das ist ein besonders energiereiches Nährstoffkonzentrat. Es schmeckt sehr gut. Möchtest du kosten?«
Am liebsten hätte Nick sich ebenso reserviert gezeigt, und das Angebot mit kühler Höflichkeit zurückgewiesen. Aber die Neugier war stärker. Argwöhnisch hielt er sich den Riegel unter die Nase und schnupperte vorsichtig daran. Es roch süß und würzig. Der Geruch erinnerte an eine Mischung aus Schokolade, Lebkuchen und Pfefferminze. Er brach eine erbsengroße Menge ab und steckte sie behutsam zwischen die Zähne.
Der Geschmack war unbeschreiblich. Es schmeckte irgendwie süß, aber nicht wie von Zucker oder Honig, sondern wie nach Chemikalien und künstlichen Geschmacksstoffen. Trotzdem war es auf eine unerklärliche Art lecker. Nick nahm noch ein größeres Stück davon.
»Du kannst alles haben«, sagte Yoshi und lachte, während er ein halbes Dutzend weiterer Päckchen zum Vorschein brachte. »Wir haben genug davon.«
»Woraus besteht es?« fragte Nick kauend.
»Weißt du, seit die Nahrungsmittel so knapp geworden sind, ist man dazu übergegangen, die aus dem Leben Geschiedenen zu rezyklieren und aus ihren Körpern wertvolles Eiweiß zurückzugewinnen«, sagte Jokai mit einem nonchalanten Grinsen auf den Lippen.
Nick hörte schlagartig auf zu kauen, seine Augen traten hervor und sein Gesicht begann rasch eine ungesunde Farbe anzunehmen. Bevor er aber dazu kam alles auszuspeien, beeilte sich Yoshi mit einem breiten Grinsen den Sachverhalt aufzuklären.
»Keine Angst, Nick. Das war doch nur Spaß. Man muß Jokai eine Weile kennen, um seinen etwas abartigen Humor schätzen zu lernen. Das Zeug besteht aus rein pflanzlichen Rohstoffen, vermischt mit allerlei Vitaminen und anderem chemischen Zeug.«
Nick schluckte. Er griff nach seiner Tasse und spülte den Rest von dem Nährstoffriegel mit einem großen Schluck Tee hinab. Bei passender Gelegenheit würde er sich für diesen Spaß angemessen revanchieren.
Nachdem sie mit dem Tee fertig waren, verbrachten sie die Zeit damit, einander über ihre Welten auszufragen, und es gelang ihnen hierbei beiderseits einige vorherrschende Mißverständnisse und Vorurteile zu beseitigen.
Ein Gongschlag ließ die Sternenkrieger alarmiert hochfahren. Nick erklärte ihnen, daß dies nur die Türklingel sei und daß vermutlich Robert und Naru draußen vor dem Tor ständen; und so verhielt es sich auch.
»Wir kommen ein bißchen zu früh, aber das macht wohl nichts«, sagte Robert zur Begrüßung und trat herein, während Naru sich vor der Schwelle höflich verbeugte und um die Erlaubnis bat, eintreten zu dürfen.
Nachdem die drei Sternenkrieger einander eingehend gemustert und ihre Eindrücke ausgetauscht hatten, erzählte Robert, was im Fernsehen berichtet worden war.
»In einer Stunde wird es dunkel«, sagte Nick, der in seinem Taschenkalender blätterte. »Wie werden wir den Doktor aufspüren können? In der Stadt gibt es mindestens fünf luxuriöse und einige Dutzend weitere größere oder kleinere Hotels.«
»Das wird kein großes Problem werden«, sagte Jokai. »Mit den empfindlichen Instrumenten des Schuttle-Schiffes, welches sich im Augenblick in einer stationären Umlaufbahn befindet, ist es leicht, die Energie-Austrahlung des ARCON zu detektieren. Wir können davon ausgehen, daß der ARCON sich in der Nähe des Doktors aufhält.« Yoshi zog ein Gerät in der Größe eines Funktelefons hervor, welches sich als ein ebensolches herausstellte, nur daß dieses dafür bestimmt war, direkte Verbindung mit dem Raumschiff aufzunehmen.
Nach einigen Minuten wurden die angeforderten Daten übertragen. Jokai machte sie auf dem kleinen Schirm des Sichtgerätes sichtbar. Mit Hilfe eines Stadtplanes, den Nick nach einigem Suchen auftreiben konnte, gelang es ihnen, das Gebiet in dem sich der ARCON während der vergangenen Stunde aufgehalten hatte auf einige Gebäude in der Nähe des Zentralbahnhofes einzukreisen.
»In dem in Frage stehenden Quadranten befinden sich vier Hotels, davon aber nur zwei große Fünfstern-Häuser. Es ist anzunehmen, daß der größenwahnsinnige Dr. Pillar sich nicht mit einer geringeren Unterkunft zufrieden gibt«, faßte Nick zusammen.
»In diesem Falle sollten wir uns in zwei Gruppen aufteilen und die Lage sondieren«, meinte Jokai. Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Es wurde also beschlossen, daß Jokai und Yoshi sich im »Imperial« umsehen sollten, während Naru, Robert und Nick das »Excelsior« unter die Lupe nehmen wollten. Mit Hilfe des Visors und der Sichtgeräte würden sie in der Lage sein, auf kurze Entfernung das Signal des Androiden festzustellen. Mit den Funkgeräten könnten sie in Verbindung bleiben.
»Dann machen wir uns am besten gleich auf den Weg. — Warte, Nick! Wieviel Geld hast du dabei? Die drei brauchen ein wenig Kleingeld für die Straßenbahn und für das Hotel, falls wir dort länger warten müssen.«
Nick seufzte und ging seine Sparkasse leeren. Dieses Abenteuer würde teuer werden, besonders, wenn der verrückte Doktor wirklich in einem der teuren Hotels steckte.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 06. Januar 2002 06:28 |