Wendungen
Alissandra
saß zitternd in dem Zelt und zog die rauhe Wolldecke fester um ihre Schultern.
Der Regen hatte sie bis auf die Knochen durchnäßt. Den ganzen Tag über hatte
es gestürmt und wie aus Kübeln geregnet. Das Zelt war zu klein, um darin ein
Feuer anzuzünden und draußen standen noch tiefe schlammige Pfützen und von
den Bäumen troff das Wasser. Sie war innerlich ganz aufgewühlt und mußte
dauernd an die turbulenten Ereignisse der vergangenen Zeit denken. Und es war
noch nicht vorbei — im Gegenteil. Vor dem, was noch bevorstand hatte sie große
Angst. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine unbezähmbare, unbestimmbare
Angst. Am liebsten würde sie weglaufen. Aber sie wußte noch nicht einmal,
wovor sie wegliefe.
Die
Zeltbahnen teilten sich und herein trat Wilo mit einer Tasse dampfend heißen
Tees.
»Hier,
trink das. Du fühlst dich eiskalt an«, sagte er und reichte ihr die Tasse.
Dankbar schlürfte sie einen Schluck des heißen, süßen Getränks.
»Ist
alles in Ordnung, Alissandra?« Sie nickte und lächelte tapfer.
Ja,
es war alles in Ordnung, zumindest was sie betraf. Aber das war ihr im
Augenblick nicht so wichtig. Wie ging es Peter? Seit ihrer schrecklichen
Begegnung im Turmzimmer, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, dabei waren es
erst gute vier Wochen. Aber in einem Monat konnte unheimlich viel geschehen, wie
sie selber erlebt hatte. Sie versuchte, sich aus dem, was sie von Wilo und
anderen erzählt bekam und aus ihren eigenen Erlebnissen ein Mosaik der tatsächlichen
Ereignisse zusammenzusetzen.
Die
beiden getrennt marschierenden Armeen aus dem Norden und Süden vereinigten sich
an der Mündung des Flusses Golbing am Großen Fluß. Sie trennten sich in vier
Heerzüge, welche die Hauptstadt von allen Seiten umzingeln sollten. Auf ihrem
Marsch durch Arkanien hatten sich die Armeen zahlenmäßig mehr als verdoppelt.
Beim Anblick der königlichen Flagge ergriff die Menschen eine unbeschreibliche
Begeisterung, und so kam es, daß sich täglich größere und kleinere Trupps
von Freiwilligen anschlossen. Wo immer sie unterwegs auf Regierungstruppen
trafen, geschah das gleiche: Entgegen den Befehlen der Offiziere weigerten sich
die Mannschaften, das Gefecht zu eröffnen und gegen ihre Landsleute zu kämpfen.
Viele desertieren und schlossen sich der Rebellenarmee an, andere waren unschlüssig
und zogen sich in ihre Kasernen und Feldlager zurück, und nur wenige blieben
dem Regenten treu. Aber ihre Zahl war zu gering, als daß sie gegen die Übermacht
der mit Inbrunst und unstillbarem Freiheitsdurst kämpfenden Rebellen eine
Chance gehabt hätten. Einige unverbesserliche fielen, viele gerieten in
Gefangenschaft und wurden vorläufig in den eroberten Kasernen und Bollwerken
festgesetzt.
Wo
immer die durchmarschierenden Truppen vorbeikamen, wurden sie von der örtlichen
Bevölkerung jubelnd begrüßt und erfuhren alle erdenkliche Unterstützung.
Dies alles geschah in so unheimlich kurzer Zeit, daß Tiras keine andere Möglichkeit
mehr hatte, als die restlichen ihm verbleibenden Truppen in der Hauptstadt
zusammenzuziehen und sich auf eine Belagerung einzustellen.
Aber
kaum hatte sich der dreifache Belagerungsring um Tirania geschlossen, sah sich
Tiras mit einer neuen Gefahr konfrontiert: der eigenen Bevölkerung. Die
Menschen in der Hauptstadt waren der Besatzung durch die Regierungstruppen, die
das ganze öffentliche Leben nahezu völlig lahmlegte überdrüssig. Die arge
Verknappung und Rationierung der Lebensmittel und anderer Konsumgüter, sowie
von Brennholz und Kohle, ließen den ohnehin schon großen Unmut der Bevölkerung
vollends übergären.
Die
Lage für Tiras und seine Vasallen wurde von Tag zu Tag gefährlicher. Nach dem
Verrat von Kalorim und Verdel, dem Verlust der wertvollen Geisel Peter und von
Thalidon und dem Königsszepter, war allen klar, daß die Stadt nicht mehr lange
zu halten war, mochten sich noch so viele Soldaten hinter den unüberwindlichen
Mauern und Bollwerken verschanzen. Beinahe jeden Tag mußten die Generäle und
Minister aus Tiras’ Rat feststellen, daß der eine oder andere hohe Beamte
oder Offizier spurlos verschwunden war.
Alissandra
in ihrem Turmgefängnis bekam von alledem kaum etwas mit. Feuerwaffen kannte man
in Arkanien nicht und der Palastbezirk war so weitläufig, daß sie nichts von
dem Lärm und Geschrei und dem Kampfgetümmel vor den Stadtmauern mitbekam. Wie
groß war daher ihre Überraschung, als eines Tages ein ohrenbetäubender Lärm
unter ihrem Fenster erscholl und Minuten später unter donnernden Axtschlägen
die Tür ihres Zimmers aus den Angeln flog und niemand anderer als Wilo in der Rüstung
eines Kriegers mit dem blanken Schwert in der Hand hereinstürzte.
Zum
Jubeln und Umarmen blieb kaum Zeit, denn in dem riesigen Palastgebäude trieben
sich noch immer Angehörige der Leibgarde von Tiras herum, die ihrem Herrn treu
ergeben waren. Diese Elitesoldaten waren gefährlich, besonders, da von dem
Regenten jede Spur fehlte, und sie Befehl hatten, den Palast bis zum letzten
Mann zu verteidigen.
Nach
drei Tagen gaben die letzten Regierungssoldaten, die sich im Palast verschanzt
hatten auf. Die Hauptstadt unterstand jetzt der provisorischen Regierung der
Rebellen. Während der größte Teil der Soldaten damit beschäftigt war, für
Ruhe und Ordnung zu sorgen, die Gefangenen zu bewachen und die Streitkräfte zu
entwaffnen, wurden Sondereinheiten in alle Stadtteile und Himmelsrichtungen
ausgeschickt, um sich an die Verfolgung des geflohenen Regenten zu machen.
Solange Tiras nicht gefaßt war und hinter Schloß und Riegel saß, war die
Revolution nicht perfekt.
Alissandra
war froh, endlich wieder in Freiheit zu sein, aber noch immer gab es keine Spur
von Peter und Tamina. Was war mit ihnen geschehen? Nach Tagen des Nachforschens
gelang es Wilos Leuten den ehemaligen Kerkermeister ausfindig zu machen. Von ihm
erfuhren sie, daß Peter nicht zusammen mit dem Regenten geflohen war, sondern
bereits vorher spurlos verschwunden war. Von Tamina wußte niemand etwas. Wer hätte
sich in dem allgemeinen Durcheinander schon an ein Dienstmädchen erinnert, das
nur gerade einige Tage lang beschäftigt gewesen war?
In
dieser Zeit der Schrecken und der groß0en Ungewißheit gab es für Alissandra
nur einen einzigen Lichtblick. Drei Tage nach ihrer Befreiung aus ihrem Gefängnis
im Nordturm kam Wilo zu ihr und sprach: »Ich habe eine große Überraschung für
dich. Draußen steht jemand, den du seit langer Zeit nicht mehr gesehen hast.«
»Ist
es Peter? Habt ihr ihn endlich gefunden?« rief sie und stürzte nach der Tür,
geradewegs in die Arme eines stattlichen, hochgewachsenen jungen Kriegers.
»Lissi!
Bist du es wirklich?« rief er und hob sie hoch und wirbelte sie im Kreise
herum, wie er es vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war, getan
hatte.
»Albert!
Das gibt es doch nicht!« Sie schlang ihre Arme und den Hals des großen Bruders
und drückte und küßte ihn.
»Du
bist groß und erwachsen geworden, Lissi. Als ich fortging warst du noch ein
kleines Mädchen mit Zöpfen, das auf den Bäumen herumkletterte, und heute bist
du eine richtige junge Frau.
»Ja.
Und dir ist endlich ein richtiger Bart gewachsen, nachdem du es so lange damit
versucht hattest. Weißt du noch, wie du versucht hast, dich mit Vaters
Rasiermesser zu barbieren? Du hast dir das Gesicht aufgeschnitten, daß alles
voller Blut war.« Albert lachte und sagte: »Ich weiß, weil du mir gesagt
hast, daß wenn man sich täglich rasiert, der Bart schneller wächst.«
Nach
langer Zeit war dies der erste glückliche Tag für Alissandra. Noch bis spät
in der Nacht saßen die beiden beisammen und erzählten von vergangenen
Kindertagen und berichteten einander von ihren Abenteuern.
Leider
mußte Prinz Albert schon am übernächsten Tage wieder fort.
»Ich
muß gehen, Lissi. Es treiben sich überall im Lande Truppen des Regenten herum.
Ich muß wieder in den Norden. Aber warum kommst du nicht mit mir nach Antal.
Vater und Mutter würden sich so freuen, uns beide wiederzusehen.« Alissandra
schüttelte traurig den Kopf und sprach: »Nein, ich kann nicht. Ich muß erst
wissen, was mit Peter geschehen ist. Kannst du das nicht verstehen?« Albert sah
sie lächelnd an und meinte: »Du mußt ihn sehr gern haben, nicht wahr? er kann
sich glücklich schätzen, jemanden wie dich zu haben.«
»Grüß
die Eltern von mir und sage ihnen, daß es mir gut geht und daß ich so bald es
geht nach Hause kommen werde.«
Kaum
war Prinz Albert mit seinen Soldaten abgezogen, da trafen die ersten Nachrichten
aus Caliban ein.
»Alissandra!
Komm her und hör dir das an!« rief Wilo und trat in das Zimmer, wo die
Besprechungen des Revolutionsrates abgehalten wurden. Dieser bestand aus Wilo,
Prinz Albert — der wie berichtet unterwegs war — und mehreren Generälen und
königstreuen Staatsräten, welche aus der früheren Regierung übernommen
wurden.
»Was
ist?« fragte Alissandra und kam kauend herein. Wilo hatte sie gerade beim
Mittagessen gestört.
»Peter
ist in Caliban«, sagte er. Alissandra fiel beinahe das Brot aus der Hand. Ungläubig
lief sie an den Tisch und nahm Wilo das Schriftstück aus der Hand.
»Ich
dachte, die Stadt Caliban sei seit langer Zeit verlassen und öde«, sagte sie während
sie die Zeilen überflog, die von einem Kundschafter aus dem Westen stammten.
»Die
Stadt wurde vor hundertfünfzig Jahren zerstört. Aber das gleichnamige Schloß
am Meer gibt es noch«, erklärte Wilo.
»Dann
lebt Peter noch und ist in Sicherheit. Das ist alles, was ich wissen muß«,
sagte Alissandra und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wenn wir jetzt noch wüßten,
wo Tamina steckt.«
»Ich
bin sicher, daß sie noch am Leben ist. Sie war auf jeden Fall nicht unter den
Toten, die wir gestern… — Kopf hoch, Alissandra. Es geht ihr bestimmt gut.
Vielleicht ist sie bei Peter.«
»Wer
ist dieser ›königliche geheime Rat‹ Kalorim? Irgendwo habe ich den Namen
schon einmal gehört. Und was soll das bedeuten, daß Peter als rechtmäßiger König
die Unterwerfung aller Rebellen fordert. Da stimmt doch etwas nicht.«
»Du
hast recht. Diese Königsproklamation im Namen von ›König Peter‹ ist auch
mir nicht ganz geheuer. Ich finde, wir sollten sofort nach Caliban aufbrechen.
Dann werden wir sehen, was es damit auf sich hat«, schlug Wilo vor. »Ich werde
noch heute die erforderlichen Maßnahmen treffen. Falls man Peter gegen seinen
Willen dort festhält, werden wir ihn befreien. Nachdem wir Tirania erobert
haben, kann niemand uns noch aufhalten.«
»Hoffentlich
ist es keine Falle von Tiras.«
»Das
glaube ich nicht. Wenn er Peter in seiner Gewalt hätte, dann würde er uns
offen damit drohen und Forderungen stellen.«
Wilo
hatte vor, erst im Laufe der nächsten Tage nach Caliban aufzubrechen, nachdem
er eine Kompanie Reiter zur Erkundung der Lage hin beordert hatte, aber
Alissandra gab keine Ruhe und drängte auf eine sofortige Abreise, daß er sich
schließlich von ihrer Unruhe und Besorgnis anstecken ließ und sich reisefertig
machte. Trotz aller Beschwichtigungsversuche Wilos ließ Alissandra sich nicht
beruhigen. Instinktiv fühlte sie, daß mit Peter etwas nicht in der Ordnung
war. Auf dem ganzen Weg nach Caliban gönnte sie sich keine Ruhe — und auch
den anderen nicht — bis sie endlich, früher als erwartet von den Gewaltmärschen
erschöpft in Caliban anlangten.
Der
Anblick, der sich der Reiterschar von Ferne darbot, war höchst seltsam. Rings
um das alte Schloß, dessen schwarze Mauern sich wie Schatten vor dem
Hintergrund der leuchtend blauen See ausmachten lagerte ein großes Heer. An den
Flaggen und Feldzeichen konnten sie erkennen, daß es sich weder um ihre eigenen
Truppen, noch um die des ehemaligen Regenten handelte.
Als
man sie bemerkte, entstand ein hektisches Treiben in dem Feldlager. Trompeten
erschollen und die Krieger machten sich gefechtsbereit. Wilo hieß seine eigenen
Leute anhalten und ein Feldlager auf einer Anhöhe unweit des Schlosses, wo sie
es im Blick hatten, aufzuschlagen und zu sichern. Gemeinsam mit drei seiner
Offiziere ritt er auf das Schloß zu.
Alissandra
wollte sich ihnen anschließen, aber Wilo befahl ihr, in der Sicherheit des
Lagers abzuwarten, was geschähe.
»Wenn
sie freundlich sind und Peter im Schloß ist, dann werde ich dich kommen lassen.
Aber irgend etwas sagt mir, daß da was faul ist«, sagte er zu ihr.
Sie
waren dem Schloß auf knappe dreihundert Meter nahegekommen, als ihnen ein
Reitertrupp entgegen kam und den Weg versperrte.
»Wer
seid ihr und in welcher Absicht kommt ihr?« fragte der Hauptmann.
»Ich
bin Willibald Wilbur von Ragunow-Wald, Kommandeur in der Armee seiner Hoheit des
Regenten Peter von Arkaniens, und wer seid ihr und was…«
»Ich
kenne Euch nicht. Ich bin Hauptmann Hombal. Und was ihr hinter mir seht ist ein
Teil der Streitkräfte seiner Majestät König Peters von Arkanien. Wenn Ihr
kommt, um Euch dem König zu unterwerfen, dann legt die Waffen nieder und kommt
näher!«
»Was?
Majestät? Ich möchte Euren König sprechen, und zwar sofort.«
Alissandra
hatte also recht gehabt. Da stimmte etwas nicht. Peter würde sich niemals
eigenmächtig zum König ausrufen. Aber wer steckte dahinter? Trieb da jemand
mit Peters Namen ein falsches Spiel?
»Wartet
hier! Ich werde Eure Ankunft melden«, sagte der Hauptmann nicht sonderlich
freundlich und ließ Wilo stehen. Wilo mußte eine ganze Weile vor dem Lager
warten. Nach einer halben Stunde hatte er die Nase voll. Er war gerade im
Begriffe, sich mit seinen Gefährten über einen Rückzug zu unterhalten, als
Hauptmann Hombal zurückkehrte und ihn und seine Begleiter zur Audienz bat.
Wilo
wurde in die große Halle geführt, wo ein dunkelhaariger, bärtiger Mann lässig
in einem Sessel saß und beim Eintreten der vier Männer keinerlei Anstalten
machte, sich zu erheben.
»Wer
seid Ihr und was wollt ihr hier?« fragte er gelangweilt, während in Wilo der
Zorn aufstieg.
»Ich
bin der Ritter Willibald Wilbur von Ragunow-Wald und ich bin hier um…«
»Eurem
Herrn und König Eure Aufwartung zu machen und Euch ihm zu unterwerfen. Ich weiß«,
vollendete dieser seinen Satz.
»Ihr
seid nicht mein König!« entgegnete Wilo erbost.
»Natürlich
nicht. Ich bin Kalorim, königlicher Minister und Stellvertreter von Seiner
Majestät König Peter.«
»Das
glaube ich nicht. Ich will diesen Peter sprechen. Ich habe eine Kompanie Reiter
und Bogenschützen mit mir und…«
Kalorim
lachte schallend. »Was? Wollt Ihr mir drohen? Vor ein paar Tagen tauchte schon
einmal ein Trupp Soldaten hier auf. Diese Kerle wollten sich einfach nicht ihrem
König unterwerfen. Tja, und jetzt sitzen sie im Kerker.«
»Das
sind meine Leute. Ich verlange auf der Stelle, daß Ihr sie freilaßt!« rief
Wilo.
»Ihr
habt hier gar nichts zu verlangen!« brüllte Kalorim und stand auf.
Wilo
wollte gerade etwas passendes entgegnen, als er plötzlich verstummte. Von der
großen Treppe kam soeben eine schwarz gekleidete Gestalt herab; es war Peter.
Er trug ein goldenes, reich mit Edelsteinen geschmücktes Szepter in der Hand.
An seiner Seite hing Thalidon.
»Peter!«
»Wilo!
Du bist also doch noch gekommen. Ich beglückwünsche dich zur Eroberung der
Hauptstadt. Ich nehme an, du bist gekommen, um mir persönlich Bericht zu
erstatten.«
Wilo
starrte ihn an und wußte nicht, was er sagen sollte.
»Ist
in Tirania alles in Ordnung? Ich hatte ohnehin vor, mich gelegentlich dorthin zu
begeben, um meine Herrschaft gebührend anzutreten. Als Sommerfrische ist
Caliban sehr schön, aber als Regierungssitz ist es doch etwas zu abgelegen.«
»Was
redest du da, Peter? Und was soll das Gerede von wegen König und so? Mir dir
stimmt doch etwas nicht.«
»Ach,
Wilo, ich weiß deine treuen Dienste zu schätzen, aber ich würde es doch sehr
begrüßen, wenn du mich in Gegenwart dritter mit Majestät anredetest und
vielleicht könntest du dich auch gebührend verneigen. Ich denke, daß es jetzt
an der Zeit ist, persönlich den Oberbefehl über meine Streitkräfte zu übernehmen.
Die Regierungsgeschäfte überlasse ich einstweilen Herrn Kalorim und Frau
Verdel. Sie sind beide sehr fähig und ich habe vollstes vertrauen in sie.«
»Das
darf doch nicht wahr sein!« murmelte Wilo. »Peter! Was haben sie mit dir
angestellt?« Er wollte ihn packen und schütteln, doch dann besann er sich
anders. »Alissandra ist hier. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht. Es
wird sie freuen, dich zu sehen und…«
»Ich
wünsche diese Person nicht zu sehen. Sie soll es nicht wagen, mir unter die
Augen zu treten. Obgleich einige meiner Berater anderer Ansicht sind«, — er
warf einen flüchtigen Blick auf Kalorim — »habe ich mich entschlossen, ihr
gegenüber Milde walten zu lassen. Ich verbanne sie hiermit für immer aus
Arkanien. Möge sie nach Tribanthia oder auf eine der Westlichen Inseln gehen
und für immer dort bleiben«, sagte er kühl. Wilo glaubte seinen Ohren nicht
zu trauen, aber der kalte Glanz in Peters Augen belehrte ihn eines besseren.
»Das
kann ich nicht akzeptieren, Peter. Du bist nicht der König von Arkanien —
noch nicht. Und solange das so ist, werde ich deine Herrschaft nicht anerkennen;
und keiner meiner Soldaten wird es tun. — Meine Güte! Wenn Tamina dich so
sehen würde…«
»Sprich
nicht von Tamina!« fuhr Peter ihn scharf an. »Sie ist die einzige von euch
Verrätern, die zu mir hält. Im Augenblick wähnt ihr euch vielleicht noch stärker
als ich, aber wenn Tamina mit dem Blauen Kristall zurückkehrt, dann werde ich
euch alle vernichten!« schrie er und hieb mit dem Szepter auf die Sessellehne,
die krachend zerbrach.
»Und
jetzt hinaus! Scher dich fort aus meinem Schloß! Jeder, der sich dem Schloß
auf mehr als hundert Schritte nähert wird von meinen Bogenschützen in Grund
und Boden geschossen!«
»Es
tut mir leid, Peter, daß es so enden muß. Aber ich kann mir denken, wessen
Werk das hier ist. Alissandra und ich werden auf dich warten. Irgendwann wird
dieser Spuk ein Ende haben.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging
erhobenen Hauptes hinaus. Wie sollte er dies nur Alissandra beibringen?
Ohne
sich noch einmal nach dem Schloß umzudrehen, wo Peter hinter einem Vorhang aus
dem Fenster spähte, schwang er sich auf sein Pferd und zusammen mit seinen
Begleitern ritt er im Galopp zurück ins Lager.
Dort
lief Alissandra ihm aufgeregt entgegen.
»Was
ist los Wilo? Du siehst so ärgerlich aus.«
Er
berichtete ihr, was er erlebt hatte und wiederholte Peters Worte. Alissandra
lauschte seinem Bericht mit zusammengekniffenen Lippen.
»Jetzt
weiß ich, was geschehen ist. Mir ist vorhin wider eingefallen, woher ich den
Namen Kalorim kenne. Meister Callidon hat und in seinem Haus vor Kalorim und der
Hexe Verdel gewarnt. Sie standen im Dienste von Tiras. Wahrscheinlich haben sie
dir Gelegenheit ausgenützt und sich ein neues Opfer gesucht. — Oh, armer
Peter! Wir müssen ihn befreien. Sie haben ihn verhext.«
»Diesen
Eindruck hatte ich auch. Er wirkte so ganz anders, als früher; wie wenn das
nicht er war, der zu mir gesprochen hat. Bestimmt ist der den beiden hörig.
Wenigstens ist Tamina davon gekommen. Aber wenn er sie wirklich allein
losgeschickt hat, um den Blauen Kristall zu suchen, schwebt sie in großer
Gefahr.«
»Was
ist, wenn sie den Kristall findet und ihn Peter bringt?«
»Das
wäre eine Katastrophe. Wenn das goldene Szepter in die Hände der beiden bösen
Zauberer fiele… — Wir müssen das Schloß bewachen. Niemand darf hinein und
niemand darf heraus kommen. Ich werde sofort einen Reiter nach Tirania schicken
und Verstärkung anfordern. Wir müssen Tamina unterwegs abfangen, bevor die dem
Wahnsinnigen den Blauen Kristall bringt«, sagte er.
»Peter
ist nicht wahnsinnig!« gab Alissandra trotzig zurück.
»Ich
weiß. Es ist nicht seine Schuld. Ich werde auf jeden Fall auch jemanden zu
Meister Callidon schicken. Vielleicht kann er uns gegen die beiden Schurken
helfen. Ich denke da nur an ihre gräßlichen Hexereien, wie etwa die Schatten.
Wer weiß, was denen noch alles einfällt.«
»Wilo!
Was immer geschehen mag, versprich mir, daß Peter nichts geschieht!« Wilo sah
sie lange schweigend an; dann ging er hinaus.
Alissandra
sah ihm nach. Sie schaute hinüber zum Schloß, das still, beinahe friedlich an
der ewigen See lag. Ein kalter Wind frischte auf und trieb dunkle Sturmwolken
vom Meer her an die Küste. Bald würden die schweren Herbststürme die See
aufpeitschen und das Land an der Küste in ein unwirkliches Inferno aus Wind und
Wasser, Blitze und Donner verwandeln.
»Alissandra!
Geht es dir gut? Du mußt dir etwas trockenes anziehen, sonst erkältest du dich
noch«, sagte Wilo, der soeben leise hereingekommen war.
»Wenn
das deine einzige Sorge ist«, sagte sie matt.
»Kopf
hoch, Alissandra! Ich habe dir jemanden mitgebracht.« Er winkte nach draußen
und kurz darauf trat der alte Callidon ins Zelt.
»Sei
gegrüßt, Alissandra! Du bist ja ganz naß. Du mußt dir unbedingt etwas
trockenes anziehen.« Alissandra lächelte und sprang auf, um ihren alten
Lehrmeister zu begrüßen.
»Ich
habe schon gehört, was mit Peter geschehen ist. Aber da kann man nichts machen.
Jedenfalls nicht von hier aus. Doch mache dir keine Sorgen, ohne den Blauen
Kristall sind wir ihnen weit überlegen. Sie kommen aus dem Schloß nicht mehr
heraus. Früher oder später werden sie aufgeben.«
»Ich
hoffe, Ihr habt recht, Meister.«
Sie
unterhielt sich leise mit Callidon, dem es gelang, ihr wieder neuen Mut zu
machen. Und den würde sie dringend brauchen, denn einige Zeit später
versammelten sich die Offiziere im großen Versammlungszelt um Wilo und
Callidon.
»Unsere
Späher haben herausgefunden, daß sie heute Nacht einen Ausfall versuchen
wollen. Das bedeutet, daß es sich heute entscheiden wird. Wenn wir unsere Kräfte
vor dem Haupttor konzentrieren, dann können wir…«
»Nein,
Herr Oberst«, entgegnete Callidon kopfschüttelnd. »Verzeiht, daß ich mich in
eure militärischen Erwägungen einmische, aber wenn ich einen Vorschlag machen
dürfte…«
»Bitte
sehr!«
»Also,
ich schlage vor, daß wir einen Scheinangriff auf die beiden kleinen Seiteneingänge
unternehmen. Das wird sie zwingen, ihre Kräfte vom Haupttor abzuziehen, und wir
könnten es leichter aufbrechen. Wenn das erste Tor gefallen ist, dann müßten
unsere Bogenschützen den Feind von den Mauern fernhalten, bis das zweite Tor
geknackt ist.«
»Also,
ich weiß nicht recht…« meinte der Oberst der Bogenschützen und kratzte sich
an seinem kahlen Schädel.
»Ich
halte das für einen ausgezeichneten Vorschlag«, sagte Wilo, der zu seiner Überraschung
feststellen mußte, daß der alte Mann über mehr Kenntnisse verfügte, als man
seiner unauffälligen Erscheinung nach annehmen würde.
Die
beste Angriffstaktik wurde noch lange kontrovers diskutiert. Alissandra zog sich
nach einer Weile leise zurück. Sie dachte an Peter und an die bevorstehende
Schlacht. Würden Thalidon und das goldene Amulett ihn schützen können, wenn
es zum Kampf käme? Und würden Wilos Soldaten in der Lage sein, ihn zu schonen?
Diese
Fragen nagten an ihrem Verstand. Sie überlegte hin und her, was sie tun könnte.
Nein,
es gab keine Alternative. Sie würde sich heute nacht nicht im Zeltlager
einsperren lassen. Wenn es darum ging, Peter zu befreien, mußte sie mit von der
Partie sein. Zwar hatte sie noch keinen genauen Plan, aber sie war fest
entschlossen, beim Sturm auf das Schloß dabei zu sein.
Eingehüllt
in ihren dunkelblauen Mantel schlich sie leise wie eine Katze durch das von
zahlreichen Lagerfeuern gespenstisch erleuchtete Feldlager. Die Wachen kannten
sie und wußten, daß sie in enger Verbindung mit Wilo stand, daher wagte
niemand, sie aufzuhalten oder nach einem Losungswort zu fragen. Sie konnte daher
ungehindert die Wachposten passieren und das Lager verlassen.
Sie
verließ das Lager in östlicher Richtung, wo ein kleiner Wald lag. Heimlich
aber beschrieb sie einen weiten Bogen bis sie sich gegenüber dem Schlosse
befand. Hinter einer flachen grasbewachsenen Düne fand sie Deckung. Lange Zeit
lag sie auf dem Bauch und starrte hinüber in das Schloß. Wo könnte sich Peter
aufhalten? Sie musterte das Gebäude mit Argusaugen, prüfte jedes erleuchtete
Fenster, folgte mit dem Blick dem Verlauf der Ringmauern und beobachtete jede
Bewegung der Soldaten auf dem Hof und auf den Wehrgängen hinter den Zinnen.
Das
Schloß war nicht so groß, wie der Palast in Tirania, aber immer noch größer,
als ihr eigenes Zuhause in Antal, wenn es auch in einem ganz anderen Stil gebaut
war und über eine doppelte Ringmauer mit einem dazwischenliegenden Zwinger verfügte
— jedenfalls auf der landeinwärts gelegenen Seite. Zur See hin war das Schloß
dicht an den Rand der Felsenklippen gebaut, und die Umfassungsmauer war auf
dieser Seite am schwächsten. Aber vom tief darunter liegenden Strand drohte dem
Schloß keine Gefahr. Die Steilhänge der Klippen waren viel zu steil und
abweisen, als daß man auf diese Weise die Mauern hätte erklimmen können, und
mächtige kanonenbewehrte Kriegsschiffe kannte man in Arkanien nicht — so wie
man hierzulande ohnehin nicht viel für die Seefahrt übrig hatte.
Was
war mit den Türmen? Ja, das könnte es sein, dachte sie. In einem der beiden Türme,
dem größeren, brannte Licht.
»Da
ist Peter«, sagte sie leise zu sich. Und sie prägte sich die Lage des Turmes
genau ein.
»Ich
werde dich retten, Peter! Warte nur!«
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:28 |