XXII. KAPITEL

Wendungen

 

Alissandra saß zitternd in dem Zelt und zog die rauhe Wolldecke fester um ihre Schultern. Der Regen hatte sie bis auf die Knochen durchnäßt. Den ganzen Tag über hatte es gestürmt und wie aus Kübeln geregnet. Das Zelt war zu klein, um darin ein Feuer anzuzünden und draußen standen noch tiefe schlammige Pfützen und von den Bäumen troff das Wasser. Sie war innerlich ganz aufgewühlt und mußte dauernd an die turbulenten Ereignisse der vergangenen Zeit denken. Und es war noch nicht vorbei — im Gegenteil. Vor dem, was noch bevorstand hatte sie große Angst. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine unbezähmbare, unbestimmbare Angst. Am liebsten würde sie weglaufen. Aber sie wußte noch nicht einmal, wovor sie wegliefe.

Die Zeltbahnen teilten sich und herein trat Wilo mit einer Tasse dampfend heißen Tees.

»Hier, trink das. Du fühlst dich eiskalt an«, sagte er und reichte ihr die Tasse. Dankbar schlürfte sie einen Schluck des heißen, süßen Getränks.

»Ist alles in Ordnung, Alissandra?« Sie nickte und lächelte tapfer.

Ja, es war alles in Ordnung, zumindest was sie betraf. Aber das war ihr im Augenblick nicht so wichtig. Wie ging es Peter? Seit ihrer schrecklichen Begegnung im Turmzimmer, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, dabei waren es erst gute vier Wochen. Aber in einem Monat konnte unheimlich viel geschehen, wie sie selber erlebt hatte. Sie versuchte, sich aus dem, was sie von Wilo und anderen erzählt bekam und aus ihren eigenen Erlebnissen ein Mosaik der tatsächlichen Ereignisse zusammenzusetzen.

 

Die beiden getrennt marschierenden Armeen aus dem Norden und Süden vereinigten sich an der Mündung des Flusses Golbing am Großen Fluß. Sie trennten sich in vier Heerzüge, welche die Hauptstadt von allen Seiten umzingeln sollten. Auf ihrem Marsch durch Arkanien hatten sich die Armeen zahlenmäßig mehr als verdoppelt. Beim Anblick der königlichen Flagge ergriff die Menschen eine unbeschreibliche Begeisterung, und so kam es, daß sich täglich größere und kleinere Trupps von Freiwilligen anschlossen. Wo immer sie unterwegs auf Regierungstruppen trafen, geschah das gleiche: Entgegen den Befehlen der Offiziere weigerten sich die Mannschaften, das Gefecht zu eröffnen und gegen ihre Landsleute zu kämpfen. Viele desertieren und schlossen sich der Rebellenarmee an, andere waren unschlüssig und zogen sich in ihre Kasernen und Feldlager zurück, und nur wenige blieben dem Regenten treu. Aber ihre Zahl war zu gering, als daß sie gegen die Übermacht der mit Inbrunst und unstillbarem Freiheitsdurst kämpfenden Rebellen eine Chance gehabt hätten. Einige unverbesserliche fielen, viele gerieten in Gefangenschaft und wurden vorläufig in den eroberten Kasernen und Bollwerken festgesetzt.

Wo immer die durchmarschierenden Truppen vorbeikamen, wurden sie von der örtlichen Bevölkerung jubelnd begrüßt und erfuhren alle erdenkliche Unterstützung. Dies alles geschah in so unheimlich kurzer Zeit, daß Tiras keine andere Möglichkeit mehr hatte, als die restlichen ihm verbleibenden Truppen in der Hauptstadt zusammenzuziehen und sich auf eine Belagerung einzustellen.

Aber kaum hatte sich der dreifache Belagerungsring um Tirania geschlossen, sah sich Tiras mit einer neuen Gefahr konfrontiert: der eigenen Bevölkerung. Die Menschen in der Hauptstadt waren der Besatzung durch die Regierungstruppen, die das ganze öffentliche Leben nahezu völlig lahmlegte überdrüssig. Die arge Verknappung und Rationierung der Lebensmittel und anderer Konsumgüter, sowie von Brennholz und Kohle, ließen den ohnehin schon großen Unmut der Bevölkerung vollends übergären.

Die Lage für Tiras und seine Vasallen wurde von Tag zu Tag gefährlicher. Nach dem Verrat von Kalorim und Verdel, dem Verlust der wertvollen Geisel Peter und von Thalidon und dem Königsszepter, war allen klar, daß die Stadt nicht mehr lange zu halten war, mochten sich noch so viele Soldaten hinter den unüberwindlichen Mauern und Bollwerken verschanzen. Beinahe jeden Tag mußten die Generäle und Minister aus Tiras’ Rat feststellen, daß der eine oder andere hohe Beamte oder Offizier spurlos verschwunden war.

Alissandra in ihrem Turmgefängnis bekam von alledem kaum etwas mit. Feuerwaffen kannte man in Arkanien nicht und der Palastbezirk war so weitläufig, daß sie nichts von dem Lärm und Geschrei und dem Kampfgetümmel vor den Stadtmauern mitbekam. Wie groß war daher ihre Überraschung, als eines Tages ein ohrenbetäubender Lärm unter ihrem Fenster erscholl und Minuten später unter donnernden Axtschlägen die Tür ihres Zimmers aus den Angeln flog und niemand anderer als Wilo in der Rüstung eines Kriegers mit dem blanken Schwert in der Hand hereinstürzte.

Zum Jubeln und Umarmen blieb kaum Zeit, denn in dem riesigen Palastgebäude trieben sich noch immer Angehörige der Leibgarde von Tiras herum, die ihrem Herrn treu ergeben waren. Diese Elitesoldaten waren gefährlich, besonders, da von dem Regenten jede Spur fehlte, und sie Befehl hatten, den Palast bis zum letzten Mann zu verteidigen.

Nach drei Tagen gaben die letzten Regierungssoldaten, die sich im Palast verschanzt hatten auf. Die Hauptstadt unterstand jetzt der provisorischen Regierung der Rebellen. Während der größte Teil der Soldaten damit beschäftigt war, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, die Gefangenen zu bewachen und die Streitkräfte zu entwaffnen, wurden Sondereinheiten in alle Stadtteile und Himmelsrichtungen ausgeschickt, um sich an die Verfolgung des geflohenen Regenten zu machen. Solange Tiras nicht gefaßt war und hinter Schloß und Riegel saß, war die Revolution nicht perfekt.

Alissandra war froh, endlich wieder in Freiheit zu sein, aber noch immer gab es keine Spur von Peter und Tamina. Was war mit ihnen geschehen? Nach Tagen des Nachforschens gelang es Wilos Leuten den ehemaligen Kerkermeister ausfindig zu machen. Von ihm erfuhren sie, daß Peter nicht zusammen mit dem Regenten geflohen war, sondern bereits vorher spurlos verschwunden war. Von Tamina wußte niemand etwas. Wer hätte sich in dem allgemeinen Durcheinander schon an ein Dienstmädchen erinnert, das nur gerade einige Tage lang beschäftigt gewesen war?

In dieser Zeit der Schrecken und der groß0en Ungewißheit gab es für Alissandra nur einen einzigen Lichtblick. Drei Tage nach ihrer Befreiung aus ihrem Gefängnis im Nordturm kam Wilo zu ihr und sprach: »Ich habe eine große Überraschung für dich. Draußen steht jemand, den du seit langer Zeit nicht mehr gesehen hast.«

»Ist es Peter? Habt ihr ihn endlich gefunden?« rief sie und stürzte nach der Tür, geradewegs in die Arme eines stattlichen, hochgewachsenen jungen Kriegers.

»Lissi! Bist du es wirklich?« rief er und hob sie hoch und wirbelte sie im Kreise herum, wie er es vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war, getan hatte.

»Albert! Das gibt es doch nicht!« Sie schlang ihre Arme und den Hals des großen Bruders und drückte und küßte ihn.

»Du bist groß und erwachsen geworden, Lissi. Als ich fortging warst du noch ein kleines Mädchen mit Zöpfen, das auf den Bäumen herumkletterte, und heute bist du eine richtige junge Frau.

»Ja. Und dir ist endlich ein richtiger Bart gewachsen, nachdem du es so lange damit versucht hattest. Weißt du noch, wie du versucht hast, dich mit Vaters Rasiermesser zu barbieren? Du hast dir das Gesicht aufgeschnitten, daß alles voller Blut war.« Albert lachte und sagte: »Ich weiß, weil du mir gesagt hast, daß wenn man sich täglich rasiert, der Bart schneller wächst.«

Nach langer Zeit war dies der erste glückliche Tag für Alissandra. Noch bis spät in der Nacht saßen die beiden beisammen und erzählten von vergangenen Kindertagen und berichteten einander von ihren Abenteuern.

Leider mußte Prinz Albert schon am übernächsten Tage wieder fort.

»Ich muß gehen, Lissi. Es treiben sich überall im Lande Truppen des Regenten herum. Ich muß wieder in den Norden. Aber warum kommst du nicht mit mir nach Antal. Vater und Mutter würden sich so freuen, uns beide wiederzusehen.« Alissandra schüttelte traurig den Kopf und sprach: »Nein, ich kann nicht. Ich muß erst wissen, was mit Peter geschehen ist. Kannst du das nicht verstehen?« Albert sah sie lächelnd an und meinte: »Du mußt ihn sehr gern haben, nicht wahr? er kann sich glücklich schätzen, jemanden wie dich zu haben.«

»Grüß die Eltern von mir und sage ihnen, daß es mir gut geht und daß ich so bald es geht nach Hause kommen werde.«

Kaum war Prinz Albert mit seinen Soldaten abgezogen, da trafen die ersten Nachrichten aus Caliban ein.

»Alissandra! Komm her und hör dir das an!« rief Wilo und trat in das Zimmer, wo die Besprechungen des Revolutionsrates abgehalten wurden. Dieser bestand aus Wilo, Prinz Albert — der wie berichtet unterwegs war — und mehreren Generälen und königstreuen Staatsräten, welche aus der früheren Regierung übernommen wurden.

»Was ist?« fragte Alissandra und kam kauend herein. Wilo hatte sie gerade beim Mittagessen gestört.

»Peter ist in Caliban«, sagte er. Alissandra fiel beinahe das Brot aus der Hand. Ungläubig lief sie an den Tisch und nahm Wilo das Schriftstück aus der Hand.

»Ich dachte, die Stadt Caliban sei seit langer Zeit verlassen und öde«, sagte sie während sie die Zeilen überflog, die von einem Kundschafter aus dem Westen stammten.

»Die Stadt wurde vor hundertfünfzig Jahren zerstört. Aber das gleichnamige Schloß am Meer gibt es noch«, erklärte Wilo.

»Dann lebt Peter noch und ist in Sicherheit. Das ist alles, was ich wissen muß«, sagte Alissandra und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wenn wir jetzt noch wüßten, wo Tamina steckt.«

»Ich bin sicher, daß sie noch am Leben ist. Sie war auf jeden Fall nicht unter den Toten, die wir gestern… — Kopf hoch, Alissandra. Es geht ihr bestimmt gut. Vielleicht ist sie bei Peter.«

»Wer ist dieser ›königliche geheime Rat‹ Kalorim? Irgendwo habe ich den Namen schon einmal gehört. Und was soll das bedeuten, daß Peter als rechtmäßiger König die Unterwerfung aller Rebellen fordert. Da stimmt doch etwas nicht.«

»Du hast recht. Diese Königsproklamation im Namen von ›König Peter‹ ist auch mir nicht ganz geheuer. Ich finde, wir sollten sofort nach Caliban aufbrechen. Dann werden wir sehen, was es damit auf sich hat«, schlug Wilo vor. »Ich werde noch heute die erforderlichen Maßnahmen treffen. Falls man Peter gegen seinen Willen dort festhält, werden wir ihn befreien. Nachdem wir Tirania erobert haben, kann niemand uns noch aufhalten.«

»Hoffentlich ist es keine Falle von Tiras.«

»Das glaube ich nicht. Wenn er Peter in seiner Gewalt hätte, dann würde er uns offen damit drohen und Forderungen stellen.«

Wilo hatte vor, erst im Laufe der nächsten Tage nach Caliban aufzubrechen, nachdem er eine Kompanie Reiter zur Erkundung der Lage hin beordert hatte, aber Alissandra gab keine Ruhe und drängte auf eine sofortige Abreise, daß er sich schließlich von ihrer Unruhe und Besorgnis anstecken ließ und sich reisefertig machte. Trotz aller Beschwichtigungsversuche Wilos ließ Alissandra sich nicht beruhigen. Instinktiv fühlte sie, daß mit Peter etwas nicht in der Ordnung war. Auf dem ganzen Weg nach Caliban gönnte sie sich keine Ruhe — und auch den anderen nicht — bis sie endlich, früher als erwartet von den Gewaltmärschen erschöpft in Caliban anlangten.

Der Anblick, der sich der Reiterschar von Ferne darbot, war höchst seltsam. Rings um das alte Schloß, dessen schwarze Mauern sich wie Schatten vor dem Hintergrund der leuchtend blauen See ausmachten lagerte ein großes Heer. An den Flaggen und Feldzeichen konnten sie erkennen, daß es sich weder um ihre eigenen Truppen, noch um die des ehemaligen Regenten handelte.

Als man sie bemerkte, entstand ein hektisches Treiben in dem Feldlager. Trompeten erschollen und die Krieger machten sich gefechtsbereit. Wilo hieß seine eigenen Leute anhalten und ein Feldlager auf einer Anhöhe unweit des Schlosses, wo sie es im Blick hatten, aufzuschlagen und zu sichern. Gemeinsam mit drei seiner Offiziere ritt er auf das Schloß zu.

Alissandra wollte sich ihnen anschließen, aber Wilo befahl ihr, in der Sicherheit des Lagers abzuwarten, was geschähe.

»Wenn sie freundlich sind und Peter im Schloß ist, dann werde ich dich kommen lassen. Aber irgend etwas sagt mir, daß da was faul ist«, sagte er zu ihr.

Sie waren dem Schloß auf knappe dreihundert Meter nahegekommen, als ihnen ein Reitertrupp entgegen kam und den Weg versperrte.

»Wer seid ihr und in welcher Absicht kommt ihr?« fragte der Hauptmann.

»Ich bin Willibald Wilbur von Ragunow-Wald, Kommandeur in der Armee seiner Hoheit des Regenten Peter von Arkaniens, und wer seid ihr und was…«

»Ich kenne Euch nicht. Ich bin Hauptmann Hombal. Und was ihr hinter mir seht ist ein Teil der Streitkräfte seiner Majestät König Peters von Arkanien. Wenn Ihr kommt, um Euch dem König zu unterwerfen, dann legt die Waffen nieder und kommt näher!«

»Was? Majestät? Ich möchte Euren König sprechen, und zwar sofort.«

Alissandra hatte also recht gehabt. Da stimmte etwas nicht. Peter würde sich niemals eigenmächtig zum König ausrufen. Aber wer steckte dahinter? Trieb da jemand mit Peters Namen ein falsches Spiel?

»Wartet hier! Ich werde Eure Ankunft melden«, sagte der Hauptmann nicht sonderlich freundlich und ließ Wilo stehen. Wilo mußte eine ganze Weile vor dem Lager warten. Nach einer halben Stunde hatte er die Nase voll. Er war gerade im Begriffe, sich mit seinen Gefährten über einen Rückzug zu unterhalten, als Hauptmann Hombal zurückkehrte und ihn und seine Begleiter zur Audienz bat.

Wilo wurde in die große Halle geführt, wo ein dunkelhaariger, bärtiger Mann lässig in einem Sessel saß und beim Eintreten der vier Männer keinerlei Anstalten machte, sich zu erheben.

»Wer seid Ihr und was wollt ihr hier?« fragte er gelangweilt, während in Wilo der Zorn aufstieg.

»Ich bin der Ritter Willibald Wilbur von Ragunow-Wald und ich bin hier um…«

»Eurem Herrn und König Eure Aufwartung zu machen und Euch ihm zu unterwerfen. Ich weiß«, vollendete dieser seinen Satz.

»Ihr seid nicht mein König!« entgegnete Wilo erbost.

»Natürlich nicht. Ich bin Kalorim, königlicher Minister und Stellvertreter von Seiner Majestät König Peter.«

»Das glaube ich nicht. Ich will diesen Peter sprechen. Ich habe eine Kompanie Reiter und Bogenschützen mit mir und…«

Kalorim lachte schallend. »Was? Wollt Ihr mir drohen? Vor ein paar Tagen tauchte schon einmal ein Trupp Soldaten hier auf. Diese Kerle wollten sich einfach nicht ihrem König unterwerfen. Tja, und jetzt sitzen sie im Kerker.«

»Das sind meine Leute. Ich verlange auf der Stelle, daß Ihr sie freilaßt!« rief Wilo.

»Ihr habt hier gar nichts zu verlangen!« brüllte Kalorim und stand auf.

Wilo wollte gerade etwas passendes entgegnen, als er plötzlich verstummte. Von der großen Treppe kam soeben eine schwarz gekleidete Gestalt herab; es war Peter. Er trug ein goldenes, reich mit Edelsteinen geschmücktes Szepter in der Hand. An seiner Seite hing Thalidon.

»Peter!«

»Wilo! Du bist also doch noch gekommen. Ich beglückwünsche dich zur Eroberung der Hauptstadt. Ich nehme an, du bist gekommen, um mir persönlich Bericht zu erstatten.«

Wilo starrte ihn an und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ist in Tirania alles in Ordnung? Ich hatte ohnehin vor, mich gelegentlich dorthin zu begeben, um meine Herrschaft gebührend anzutreten. Als Sommerfrische ist Caliban sehr schön, aber als Regierungssitz ist es doch etwas zu abgelegen.«

»Was redest du da, Peter? Und was soll das Gerede von wegen König und so? Mir dir stimmt doch etwas nicht.«

»Ach, Wilo, ich weiß deine treuen Dienste zu schätzen, aber ich würde es doch sehr begrüßen, wenn du mich in Gegenwart dritter mit Majestät anredetest und vielleicht könntest du dich auch gebührend verneigen. Ich denke, daß es jetzt an der Zeit ist, persönlich den Oberbefehl über meine Streitkräfte zu übernehmen. Die Regierungsgeschäfte überlasse ich einstweilen Herrn Kalorim und Frau Verdel. Sie sind beide sehr fähig und ich habe vollstes vertrauen in sie.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« murmelte Wilo. »Peter! Was haben sie mit dir angestellt?« Er wollte ihn packen und schütteln, doch dann besann er sich anders. »Alissandra ist hier. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht. Es wird sie freuen, dich zu sehen und…«

»Ich wünsche diese Person nicht zu sehen. Sie soll es nicht wagen, mir unter die Augen zu treten. Obgleich einige meiner Berater anderer Ansicht sind«, — er warf einen flüchtigen Blick auf Kalorim — »habe ich mich entschlossen, ihr gegenüber Milde walten zu lassen. Ich verbanne sie hiermit für immer aus Arkanien. Möge sie nach Tribanthia oder auf eine der Westlichen Inseln gehen und für immer dort bleiben«, sagte er kühl. Wilo glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, aber der kalte Glanz in Peters Augen belehrte ihn eines besseren.

»Das kann ich nicht akzeptieren, Peter. Du bist nicht der König von Arkanien — noch nicht. Und solange das so ist, werde ich deine Herrschaft nicht anerkennen; und keiner meiner Soldaten wird es tun. — Meine Güte! Wenn Tamina dich so sehen würde…«

»Sprich nicht von Tamina!« fuhr Peter ihn scharf an. »Sie ist die einzige von euch Verrätern, die zu mir hält. Im Augenblick wähnt ihr euch vielleicht noch stärker als ich, aber wenn Tamina mit dem Blauen Kristall zurückkehrt, dann werde ich euch alle vernichten!« schrie er und hieb mit dem Szepter auf die Sessellehne, die krachend zerbrach.

»Und jetzt hinaus! Scher dich fort aus meinem Schloß! Jeder, der sich dem Schloß auf mehr als hundert Schritte nähert wird von meinen Bogenschützen in Grund und Boden geschossen!«

»Es tut mir leid, Peter, daß es so enden muß. Aber ich kann mir denken, wessen Werk das hier ist. Alissandra und ich werden auf dich warten. Irgendwann wird dieser Spuk ein Ende haben.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging erhobenen Hauptes hinaus. Wie sollte er dies nur Alissandra beibringen?

Ohne sich noch einmal nach dem Schloß umzudrehen, wo Peter hinter einem Vorhang aus dem Fenster spähte, schwang er sich auf sein Pferd und zusammen mit seinen Begleitern ritt er im Galopp zurück ins Lager.

Dort lief Alissandra ihm aufgeregt entgegen.

»Was ist los Wilo? Du siehst so ärgerlich aus.«

Er berichtete ihr, was er erlebt hatte und wiederholte Peters Worte. Alissandra lauschte seinem Bericht mit zusammengekniffenen Lippen.

»Jetzt weiß ich, was geschehen ist. Mir ist vorhin wider eingefallen, woher ich den Namen Kalorim kenne. Meister Callidon hat und in seinem Haus vor Kalorim und der Hexe Verdel gewarnt. Sie standen im Dienste von Tiras. Wahrscheinlich haben sie dir Gelegenheit ausgenützt und sich ein neues Opfer gesucht. — Oh, armer Peter! Wir müssen ihn befreien. Sie haben ihn verhext.«

»Diesen Eindruck hatte ich auch. Er wirkte so ganz anders, als früher; wie wenn das nicht er war, der zu mir gesprochen hat. Bestimmt ist der den beiden hörig. Wenigstens ist Tamina davon gekommen. Aber wenn er sie wirklich allein losgeschickt hat, um den Blauen Kristall zu suchen, schwebt sie in großer Gefahr.«

»Was ist, wenn sie den Kristall findet und ihn Peter bringt?«

»Das wäre eine Katastrophe. Wenn das goldene Szepter in die Hände der beiden bösen Zauberer fiele… — Wir müssen das Schloß bewachen. Niemand darf hinein und niemand darf heraus kommen. Ich werde sofort einen Reiter nach Tirania schicken und Verstärkung anfordern. Wir müssen Tamina unterwegs abfangen, bevor die dem Wahnsinnigen den Blauen Kristall bringt«, sagte er.

»Peter ist nicht wahnsinnig!« gab Alissandra trotzig zurück.

»Ich weiß. Es ist nicht seine Schuld. Ich werde auf jeden Fall auch jemanden zu Meister Callidon schicken. Vielleicht kann er uns gegen die beiden Schurken helfen. Ich denke da nur an ihre gräßlichen Hexereien, wie etwa die Schatten. Wer weiß, was denen noch alles einfällt.«

»Wilo! Was immer geschehen mag, versprich mir, daß Peter nichts geschieht!« Wilo sah sie lange schweigend an; dann ging er hinaus.

Alissandra sah ihm nach. Sie schaute hinüber zum Schloß, das still, beinahe friedlich an der ewigen See lag. Ein kalter Wind frischte auf und trieb dunkle Sturmwolken vom Meer her an die Küste. Bald würden die schweren Herbststürme die See aufpeitschen und das Land an der Küste in ein unwirkliches Inferno aus Wind und Wasser, Blitze und Donner verwandeln.

 

»Alissandra! Geht es dir gut? Du mußt dir etwas trockenes anziehen, sonst erkältest du dich noch«, sagte Wilo, der soeben leise hereingekommen war.

»Wenn das deine einzige Sorge ist«, sagte sie matt.

»Kopf hoch, Alissandra! Ich habe dir jemanden mitgebracht.« Er winkte nach draußen und kurz darauf trat der alte Callidon ins Zelt.

»Sei gegrüßt, Alissandra! Du bist ja ganz naß. Du mußt dir unbedingt etwas trockenes anziehen.« Alissandra lächelte und sprang auf, um ihren alten Lehrmeister zu begrüßen.

»Ich habe schon gehört, was mit Peter geschehen ist. Aber da kann man nichts machen. Jedenfalls nicht von hier aus. Doch mache dir keine Sorgen, ohne den Blauen Kristall sind wir ihnen weit überlegen. Sie kommen aus dem Schloß nicht mehr heraus. Früher oder später werden sie aufgeben.«

»Ich hoffe, Ihr habt recht, Meister.«

Sie unterhielt sich leise mit Callidon, dem es gelang, ihr wieder neuen Mut zu machen. Und den würde sie dringend brauchen, denn einige Zeit später versammelten sich die Offiziere im großen Versammlungszelt um Wilo und Callidon.

»Unsere Späher haben herausgefunden, daß sie heute Nacht einen Ausfall versuchen wollen. Das bedeutet, daß es sich heute entscheiden wird. Wenn wir unsere Kräfte vor dem Haupttor konzentrieren, dann können wir…«

»Nein, Herr Oberst«, entgegnete Callidon kopfschüttelnd. »Verzeiht, daß ich mich in eure militärischen Erwägungen einmische, aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte…«

»Bitte sehr!«

»Also, ich schlage vor, daß wir einen Scheinangriff auf die beiden kleinen Seiteneingänge unternehmen. Das wird sie zwingen, ihre Kräfte vom Haupttor abzuziehen, und wir könnten es leichter aufbrechen. Wenn das erste Tor gefallen ist, dann müßten unsere Bogenschützen den Feind von den Mauern fernhalten, bis das zweite Tor geknackt ist.«

»Also, ich weiß nicht recht…« meinte der Oberst der Bogenschützen und kratzte sich an seinem kahlen Schädel.

»Ich halte das für einen ausgezeichneten Vorschlag«, sagte Wilo, der zu seiner Überraschung feststellen mußte, daß der alte Mann über mehr Kenntnisse verfügte, als man seiner unauffälligen Erscheinung nach annehmen würde.

Die beste Angriffstaktik wurde noch lange kontrovers diskutiert. Alissandra zog sich nach einer Weile leise zurück. Sie dachte an Peter und an die bevorstehende Schlacht. Würden Thalidon und das goldene Amulett ihn schützen können, wenn es zum Kampf käme? Und würden Wilos Soldaten in der Lage sein, ihn zu schonen?

Diese Fragen nagten an ihrem Verstand. Sie überlegte hin und her, was sie tun könnte.

Nein, es gab keine Alternative. Sie würde sich heute nacht nicht im Zeltlager einsperren lassen. Wenn es darum ging, Peter zu befreien, mußte sie mit von der Partie sein. Zwar hatte sie noch keinen genauen Plan, aber sie war fest entschlossen, beim Sturm auf das Schloß dabei zu sein.

Eingehüllt in ihren dunkelblauen Mantel schlich sie leise wie eine Katze durch das von zahlreichen Lagerfeuern gespenstisch erleuchtete Feldlager. Die Wachen kannten sie und wußten, daß sie in enger Verbindung mit Wilo stand, daher wagte niemand, sie aufzuhalten oder nach einem Losungswort zu fragen. Sie konnte daher ungehindert die Wachposten passieren und das Lager verlassen.

Sie verließ das Lager in östlicher Richtung, wo ein kleiner Wald lag. Heimlich aber beschrieb sie einen weiten Bogen bis sie sich gegenüber dem Schlosse befand. Hinter einer flachen grasbewachsenen Düne fand sie Deckung. Lange Zeit lag sie auf dem Bauch und starrte hinüber in das Schloß. Wo könnte sich Peter aufhalten? Sie musterte das Gebäude mit Argusaugen, prüfte jedes erleuchtete Fenster, folgte mit dem Blick dem Verlauf der Ringmauern und beobachtete jede Bewegung der Soldaten auf dem Hof und auf den Wehrgängen hinter den Zinnen.

Das Schloß war nicht so groß, wie der Palast in Tirania, aber immer noch größer, als ihr eigenes Zuhause in Antal, wenn es auch in einem ganz anderen Stil gebaut war und über eine doppelte Ringmauer mit einem dazwischenliegenden Zwinger verfügte — jedenfalls auf der landeinwärts gelegenen Seite. Zur See hin war das Schloß dicht an den Rand der Felsenklippen gebaut, und die Umfassungsmauer war auf dieser Seite am schwächsten. Aber vom tief darunter liegenden Strand drohte dem Schloß keine Gefahr. Die Steilhänge der Klippen waren viel zu steil und abweisen, als daß man auf diese Weise die Mauern hätte erklimmen können, und mächtige kanonenbewehrte Kriegsschiffe kannte man in Arkanien nicht — so wie man hierzulande ohnehin nicht viel für die Seefahrt übrig hatte.

Was war mit den Türmen? Ja, das könnte es sein, dachte sie. In einem der beiden Türme, dem größeren, brannte Licht.

»Da ist Peter«, sagte sie leise zu sich. Und sie prägte sich die Lage des Turmes genau ein.

»Ich werde dich retten, Peter! Warte nur!«

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