Verblendung
Tamina
lief die Treppe hinab. Den Blauen Kristall hielt sie fest umklammert. Von unten
drang Lärm und Geschrei herauf. Von einem der schmalen Turmfenster aus konnte
sie sehen, wie unten im Schloßhof und auf den Wehrgängen hinter den Zinnen die
Verteidiger in Stellung gingen. Es herrschte eine helle Aufregung und ein
unbeschreibliches Durcheinander.
Tamina
war ratlos und auch ein wenig ängstlich. Was ging hier vor? Sie ging weiter und
gelangte in ein schönes Turmzimmer. Es war von zahlreichen Kerzen hell
erleuchtet. Kostbare Stoffe, kunstvoll gestickte Wandbehänge und mannigfaltige
Felle von seltenen und exotischen Tieren verliehen dem Raum ein ebenso gemütliches
wie edles Aussehen.
»Ist
jemand hier?« fragte sie und bewegte sich in Richtung eines von seidenen Vorhängen
halb verhüllten Durchgangs.
Der
Vorhang wurde zur Seite gerissen. Mit dem blanken Schwert in der Hand stürzte
ihr ein junger Mann entgegen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, daß es
Peter war. Er war ganz in einen enganliegenden schwarzen Anzug gekleidet, der
mit seinen aufwendigen Verzierungen überhaupt nicht zu der kriegerischen
Kulisse passen wollte.
Als
er sie erblickte, hielt er überrascht inne.
»Tamina!
Du hier?« war alles, was er verblüfft herausbrachte. Er steckte das Schwert in
die Scheide und lief auf sie zu.
»Peter!
Ich bin so schnell es ging zurückgekommen. Sag’, was ist geschehen? Wie
kommst du hierher und…«
Sie
sprach nicht weiter, sondern warf sich in seine Arme und drückte ihn heftig. Er
sah zwar sehr bleich und mager aus, aber wenigstens war er frei und unversehrt.
»Was
hast du nur so lange gemacht? Ich habe schon befürchtet, dir sei etwas zugestoßen,
oder du hättest mich vergessen«, sagte er und betrachtete sie verwundert.
»was
heißt lange? ich bin kaum eine Woche fort gewesen«, entgegnete sie
vorwurfsvoll.
»Es
sind drei Monate vergangen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.«
»Was?
Wie ist das möglich?« Tamina begriff nichts mehr.
Peter
nahm einen silbernen Pokal und schenkte etwas Wein aus einer bunten kunstreich
gefärbten Karaffe ein.
»Hier,
setzt dich und trink und dann kannst du alles berichten«, sagte er und reichte
ihr den Pokal.
Tamina
nippte nur an dem Wein und begann sofort zu erzählen. Peter saß auf der
Armlehne eines Sessels und lauschte gespannt.
Als
sie fertig war, stand er auf und schüttelte den Kopf.
»Was
für ein seltsamer Ort! Irgendwie muß die Zeit dort anders laufen, als hier.
Ich habe einmal so etwas gelesen, aber daß es das auch in Wirklichkeit gibt, hätte
ich nie gedacht.«
»Was
ist hier los und wo sind Wilo und Alissandra und…«
»Sprich
nicht von denen!2 sagte er scharf. »Wir befinden uns im Krieg mit den Rebellen.
Ich bin froh, daß du mir den Kristall bringst. Es steht nämlich nicht gut.
Aber mit seiner Hilfe kann ich die Rebellion niederschlagen. — Gib ihn mir!«
Zögernd
legte sie den Blauen Kristall in seine Hand. Sie beobachtete seine Gesichtszüge
genau. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Die Art wie er sprach und sich gab,
war eine andere. Sie erkannte ihn beinahe nicht wieder. Peter schien ihre
Gedanken zu erraten, denn er sagte beschwichtigend: »Mach dir keine Sorgen um
mich. Ich habe in der letzten Zeit nicht viel geschlafen und diese Aufruhr hier
zerrt an den Nerven. Aber bald wird alles in Ordnung kommen.«
Er
nahm den Kristall an sich und der Blick, mit dem er das Funkeln des blauen
Steins betrachtete, ließ Tamina frösteln.
»Was
sind das für Truppen, die das Schloß belagern?« fragte sie.
»Die
Hauptstadt hat sich den Rebellen ergeben. Tiras und sein Anhang sind geflohen.
Die Armee hat sich auf meine Seite gestellt. Alles schien gut, aber Wilo und
Alissandra — du weißt ja, wie schändlich sie mich verraten hat — wollen
meine Regierung nicht anerkennen. Sie behaupten, daß Frau Verdel und meister
Kalorim ihre Feinde seien. Aber das ist nicht wahr. Den beiden habe ich viel zu
verdanken. Sie haben mir nicht nur das Leben gerettet, indem sie mich aus dem
Kerker befreiten, sondern sie haben mir auch Augen geöffnet, was die Heimtücke
und Niederträchtigkeit gewisser Personen anbetrifft, die behaupten, meine
Freunde zu sein. Dieses Rebellenpack wurde von ihnen aufgewiegelt. Jetzt wollen
sie das Schloß stürmen, aber das wird ihnen nicht gelingen…«
Eine
aufgeregte Stimme unterbrach ihn.
»Majestät!
Wir können die Mauern nicht mehr lange halten und das große Tor kann jeden
Augenblick…«
Ein
gewaltiges Krachen und Splittern ertönte und draußen wurden Schreie laut.
»Zu
spät! Wir sind verloren!« rief der Mann und rannte hinaus. Peters Augen
verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Feiges
Lumpenpack!« rief er, und zu Tamina gewandt sprach er: »Du brauchst keine
Angst zu haben. Ich werde dafür sorgen, daß dir nichts geschieht.«
»Aber
was…«
»Hör
gut zu!« sagte er und legte beide Hände auf ihre Schultern. »Unten in der großen
Halle ist ein Kamin. Auf der linken Seite befindet sich ein eiserner Ring. Wenn
du kräftig daran ziehst, tut sich eine kleine Tür in der Wandverkleidung auf.
Dahinter ist ein geheimer Gang. Er führt zum Strand hinab. Dort gibt es eine Höhle
mit Proviant und Waffen. Verstecke dich in der Höhle und warte, bis ich komme
oder jemanden schicke. — Wenn wir uns nicht wieder sehen sollten, dann
versuche, dich zu dem alten Callidon durchzuschlagen. Außerdem steht dort eine
Kiste mit Gold. Du kannst viele Jahre davon fürstlich leben.«
»Nein,
Peter! Ich will bei dir bleiben«, sagte sie tapfer. Sie fühlte instinktiv, daß
er sich in einer großen Gefahr befand, trotz des Zauberschwertes und des Blauen
Kristalls.
»Das
ist sehr mutig von dir, Tamina; und ich werde es nie vergessen, wie du zu mir
gestanden bist, aber ich will nicht, daß dir etwas geschieht. Du mußt dich in
Sicherheit bringen. Versprich es mir!«
»Ja,
Peter!«
»Warte
einen Augenblick!« Er ging hinaus und rannte die Treppe hinab.
Tamina
lief in dem Zimmer herum. Sie ging in den Raum hinter dem Vorhang. Es war
niemand dort. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Peter kam zurück. Sie hatte
gerade noch Zeit, einen schweren Gegenstand unter ihrem Kleid zu verbergen,
bevor er ins Zimmer kam.
»Die
Luft ist rein. Dann geh jetzt!« Er drückte ihre Hand und sah ihr von der
Treppe aus nach, bis sie verschwunden war.
Der
Lärm auf dem Hof wurde lauter. Es dauerte nicht mehr lange, da gab auch das
zweite Tor nach. Hunderte von Rebellen ergossen sich wie eine schwarze Flutwelle
über den Hof. Die Verteidiger hatten keine Chance. Sie würden einfach überrannt
und entwaffnet.
Peter
beobachtet alles vom Fenster aus. Wo steckten Kalorim und Verdel? Seit dem
Vormittag hatte er sie nicht mehr gesehen. Er suchte überall und rief ihre
Namen, konnte sie aber nirgends finden. Vielleicht waren sie gefangen worden.
»Mich
kriegt ihr nicht!« schwor er bitter. Jetzt mußte er das Szepter suchen, um den
Kristall einsatzbereit zu machen.
Das
Szepter verwahrte er in einer Schatulle neben seinem Bett. Aber die Schatulle
war leer; ihr Deckel stand weit offen. Peter fluchte laut und schleuderte sie zu
Boden. Hatte Nova etwa wieder damit herumgespielt und es irgendwo liegen
gelassen?
Er
sprang wie toll in dem Raum hin und her, riß alle Schubladen heraus und alle
Schranktüren auf, zerwühlte Decken und Felle und warf die Kissen
durcheinander.
In
seiner Aufregung bemerkte er die schlanke Gestalt, die sich ihm von hinten näherte
nicht. Erst als sie ihn ansprach, fuhr er wie von der Tarantel gestochen herum.
»Peter!
Endlich habe ich dich gefunden! Ich bin ja so froh, daß dir nichts…«
»Alissandra,
du elende Verräterin!« Peter starrte sie mit haßerfüllten Blicken an.
»Peter!
Bitte laß mich dir erklären… oh!« Sie verstummte, als sie den Blauen
Kristall in Peters Hand erblickte. Sie biß sich auf die Lippen und ihre Augen
weiteten sich.
Alissandra
machte einen Satz auf Peter zu und entriß ihm den Kristall, noch ehe er merkte,
was sie vorhatte.
»Verzeih
mir, Peter! Aber ich denke, es ist das beste, wenn ich den Kristall so lange an
mich nehme, bis du wieder…« Sie stockte, als sie sah, wie Peter rasend vor
Zorn sein Schwert zog.
»Ich
hab’ mich einmal von dir hereinlegen lassen, du Schlange! Aber ein zweites Mal
wird dir das nicht gelingen! Gib mir den Kristall zurück!« schrie er rot vor
Wut.
Alissandra
stieg ebenfalls die Röte ins Gesicht. Peters Worte schmerzten sie sehr. Sie zog
ebenfalls ihr Schwert und richtete seine Spitze auf Peter.
»Bitte,
Peter! Komm wieder zu dir! Zwinge mich nicht, dir weh zu tun. Merkst du denn
nicht, daß sie dich nur ausgenutzt und beschwatzt haben? Wo sind sie denn,
deine Freunde, die Hexe und der Zauberer? Sie haben sich aus dem Staub gemacht,
als sie merkten, daß ihre Pläne nicht aufgingen.«
»Schweig!«
Peter machte einen Satz auf sie zu. Alissandra hob die Klinge und wich Peters
Streich aus. Das machte ihn noch wütender.
»Gib
mir den Kristall, oder ich vergesse mich!«
»Niemals!
Gib auf, Peter1 Ich bin doch schneller.« Sie versuchte, die Tür zu erreichen,
aber Peter war schneller. Er versperrte ihr den Ausgang.
Alissandra
wollte Peter das Schwert aus der Hand schlagen, aber er wich zur Seite und holte
ebenfalls zum Schlag aus. Alissandra sah den Hieb kommen und parierte ihn. Aber
Thalidon war mächtiger als alle anderen Schwerter, die jemals in Arkanien
geschmiedet worden waren. Die beiden Klingen trafen aufeinander und Thalidon
schnitt Alissandras Schwert entzwei, wie einen morschen Zweig. Peter konnte den
Hieb nicht mehr abbremsen. Er sah, wie die Spitze seines Schwertes Alissandra
eine häßliche Wunde in die Seite schlug.
Sie
taumelte zurück und ließ den nutzlosen Rest ihres Schwertes fallen. Auf ihrem
Gesicht stand mehr der Schrecken geschrieben, als Schmerz. Sie betrachtete das
hellrote heiße Blut, das zwischen ihren kalten Fingern hervorquoll und einen
feucht glänzenden Streifen auf dem Stoff ihres Rockes erzeugte.
»Peter,
besinne dich doch!« preßte sie hervor und konnte nicht fassen, daß sie keine
Luft mehr bekam um zu sprechen.
Unglaublich!
aber sie konnte nicht mehr gehen, nicht mehr aufrecht stehen. Vor ihren Augen
begann es zu flimmern und sie konnte nicht mehr klar sehen. Sie sank auf die
Knie.
»Peter,
ich liebe dich doch!« flüsterte sie, bevor sie ganz zu Boden sank.
Peter
starrte sie an. Langsam, wie in Trance nahm er ihr den Kristall aus der Hand und
steckte ihn ein.
»Alissandra,
sag was!« rief er. Aber sie lag auf dem Fußboden und ihr Blick war leer.
Mit
zitternden Händen steckte er das Schwert ein und lief nach der Treppe. Was
hatte er getan? In seinem Kopf war es ganz leer. Er konnte keinen klaren
Gedanken fassen. Er wußte nur eines: er mußte fort von hier.
Plötzlich
machte es Klick! in seinem Schädel und alles lief wie automatisch ab. Er rannte
hinab auf den Hof. Keiner schien ihn zu bemerken, denn er wurde von niemandem
aufgehalten. Er fand ein Pferd. Es war ein großer schwarzbrauner Gaul. Peter
sprang auf das Pferd und trieb es in den Galopp. Wie der Wind ging es ab. Fort,
einfach nur fort von hier! Das war alles, was er wollte.
So
hetzte er hinaus in die schwarze Nacht.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:28 |