XXIII. KAPITEL

Verblendung

 

Tamina lief die Treppe hinab. Den Blauen Kristall hielt sie fest umklammert. Von unten drang Lärm und Geschrei herauf. Von einem der schmalen Turmfenster aus konnte sie sehen, wie unten im Schloßhof und auf den Wehrgängen hinter den Zinnen die Verteidiger in Stellung gingen. Es herrschte eine helle Aufregung und ein unbeschreibliches Durcheinander.

Tamina war ratlos und auch ein wenig ängstlich. Was ging hier vor? Sie ging weiter und gelangte in ein schönes Turmzimmer. Es war von zahlreichen Kerzen hell erleuchtet. Kostbare Stoffe, kunstvoll gestickte Wandbehänge und mannigfaltige Felle von seltenen und exotischen Tieren verliehen dem Raum ein ebenso gemütliches wie edles Aussehen.

»Ist jemand hier?« fragte sie und bewegte sich in Richtung eines von seidenen Vorhängen halb verhüllten Durchgangs.

Der Vorhang wurde zur Seite gerissen. Mit dem blanken Schwert in der Hand stürzte ihr ein junger Mann entgegen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, daß es Peter war. Er war ganz in einen enganliegenden schwarzen Anzug gekleidet, der mit seinen aufwendigen Verzierungen überhaupt nicht zu der kriegerischen Kulisse passen wollte.

Als er sie erblickte, hielt er überrascht inne.

»Tamina! Du hier?« war alles, was er verblüfft herausbrachte. Er steckte das Schwert in die Scheide und lief auf sie zu.

»Peter! Ich bin so schnell es ging zurückgekommen. Sag’, was ist geschehen? Wie kommst du hierher und…«

Sie sprach nicht weiter, sondern warf sich in seine Arme und drückte ihn heftig. Er sah zwar sehr bleich und mager aus, aber wenigstens war er frei und unversehrt.

»Was hast du nur so lange gemacht? Ich habe schon befürchtet, dir sei etwas zugestoßen, oder du hättest mich vergessen«, sagte er und betrachtete sie verwundert.

»was heißt lange? ich bin kaum eine Woche fort gewesen«, entgegnete sie vorwurfsvoll.

»Es sind drei Monate vergangen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.«

»Was? Wie ist das möglich?« Tamina begriff nichts mehr.

Peter nahm einen silbernen Pokal und schenkte etwas Wein aus einer bunten kunstreich gefärbten Karaffe ein.

»Hier, setzt dich und trink und dann kannst du alles berichten«, sagte er und reichte ihr den Pokal.

Tamina nippte nur an dem Wein und begann sofort zu erzählen. Peter saß auf der Armlehne eines Sessels und lauschte gespannt.

Als sie fertig war, stand er auf und schüttelte den Kopf.

»Was für ein seltsamer Ort! Irgendwie muß die Zeit dort anders laufen, als hier. Ich habe einmal so etwas gelesen, aber daß es das auch in Wirklichkeit gibt, hätte ich nie gedacht.«

»Was ist hier los und wo sind Wilo und Alissandra und…«

»Sprich nicht von denen!2 sagte er scharf. »Wir befinden uns im Krieg mit den Rebellen. Ich bin froh, daß du mir den Kristall bringst. Es steht nämlich nicht gut. Aber mit seiner Hilfe kann ich die Rebellion niederschlagen. — Gib ihn mir!«

Zögernd legte sie den Blauen Kristall in seine Hand. Sie beobachtete seine Gesichtszüge genau. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Die Art wie er sprach und sich gab, war eine andere. Sie erkannte ihn beinahe nicht wieder. Peter schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte beschwichtigend: »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe in der letzten Zeit nicht viel geschlafen und diese Aufruhr hier zerrt an den Nerven. Aber bald wird alles in Ordnung kommen.«

Er nahm den Kristall an sich und der Blick, mit dem er das Funkeln des blauen Steins betrachtete, ließ Tamina frösteln.

»Was sind das für Truppen, die das Schloß belagern?« fragte sie.

»Die Hauptstadt hat sich den Rebellen ergeben. Tiras und sein Anhang sind geflohen. Die Armee hat sich auf meine Seite gestellt. Alles schien gut, aber Wilo und Alissandra — du weißt ja, wie schändlich sie mich verraten hat — wollen meine Regierung nicht anerkennen. Sie behaupten, daß Frau Verdel und meister Kalorim ihre Feinde seien. Aber das ist nicht wahr. Den beiden habe ich viel zu verdanken. Sie haben mir nicht nur das Leben gerettet, indem sie mich aus dem Kerker befreiten, sondern sie haben mir auch Augen geöffnet, was die Heimtücke und Niederträchtigkeit gewisser Personen anbetrifft, die behaupten, meine Freunde zu sein. Dieses Rebellenpack wurde von ihnen aufgewiegelt. Jetzt wollen sie das Schloß stürmen, aber das wird ihnen nicht gelingen…«

Eine aufgeregte Stimme unterbrach ihn.

»Majestät! Wir können die Mauern nicht mehr lange halten und das große Tor kann jeden Augenblick…«

Ein gewaltiges Krachen und Splittern ertönte und draußen wurden Schreie laut.

»Zu spät! Wir sind verloren!« rief der Mann und rannte hinaus. Peters Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Feiges Lumpenpack!« rief er, und zu Tamina gewandt sprach er: »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dafür sorgen, daß dir nichts geschieht.«

»Aber was…«

»Hör gut zu!« sagte er und legte beide Hände auf ihre Schultern. »Unten in der großen Halle ist ein Kamin. Auf der linken Seite befindet sich ein eiserner Ring. Wenn du kräftig daran ziehst, tut sich eine kleine Tür in der Wandverkleidung auf. Dahinter ist ein geheimer Gang. Er führt zum Strand hinab. Dort gibt es eine Höhle mit Proviant und Waffen. Verstecke dich in der Höhle und warte, bis ich komme oder jemanden schicke. — Wenn wir uns nicht wieder sehen sollten, dann versuche, dich zu dem alten Callidon durchzuschlagen. Außerdem steht dort eine Kiste mit Gold. Du kannst viele Jahre davon fürstlich leben.«

»Nein, Peter! Ich will bei dir bleiben«, sagte sie tapfer. Sie fühlte instinktiv, daß er sich in einer großen Gefahr befand, trotz des Zauberschwertes und des Blauen Kristalls.

»Das ist sehr mutig von dir, Tamina; und ich werde es nie vergessen, wie du zu mir gestanden bist, aber ich will nicht, daß dir etwas geschieht. Du mußt dich in Sicherheit bringen. Versprich es mir!«

»Ja, Peter!«

»Warte einen Augenblick!« Er ging hinaus und rannte die Treppe hinab.

Tamina lief in dem Zimmer herum. Sie ging in den Raum hinter dem Vorhang. Es war niemand dort. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Peter kam zurück. Sie hatte gerade noch Zeit, einen schweren Gegenstand unter ihrem Kleid zu verbergen, bevor er ins Zimmer kam.

»Die Luft ist rein. Dann geh jetzt!« Er drückte ihre Hand und sah ihr von der Treppe aus nach, bis sie verschwunden war.

Der Lärm auf dem Hof wurde lauter. Es dauerte nicht mehr lange, da gab auch das zweite Tor nach. Hunderte von Rebellen ergossen sich wie eine schwarze Flutwelle über den Hof. Die Verteidiger hatten keine Chance. Sie würden einfach überrannt und entwaffnet.

Peter beobachtet alles vom Fenster aus. Wo steckten Kalorim und Verdel? Seit dem Vormittag hatte er sie nicht mehr gesehen. Er suchte überall und rief ihre Namen, konnte sie aber nirgends finden. Vielleicht waren sie gefangen worden.

»Mich kriegt ihr nicht!« schwor er bitter. Jetzt mußte er das Szepter suchen, um den Kristall einsatzbereit zu machen.

Das Szepter verwahrte er in einer Schatulle neben seinem Bett. Aber die Schatulle war leer; ihr Deckel stand weit offen. Peter fluchte laut und schleuderte sie zu Boden. Hatte Nova etwa wieder damit herumgespielt und es irgendwo liegen gelassen?

Er sprang wie toll in dem Raum hin und her, riß alle Schubladen heraus und alle Schranktüren auf, zerwühlte Decken und Felle und warf die Kissen durcheinander.

In seiner Aufregung bemerkte er die schlanke Gestalt, die sich ihm von hinten näherte nicht. Erst als sie ihn ansprach, fuhr er wie von der Tarantel gestochen herum.

»Peter! Endlich habe ich dich gefunden! Ich bin ja so froh, daß dir nichts…«

»Alissandra, du elende Verräterin!« Peter starrte sie mit haßerfüllten Blicken an.

»Peter! Bitte laß mich dir erklären… oh!« Sie verstummte, als sie den Blauen Kristall in Peters Hand erblickte. Sie biß sich auf die Lippen und ihre Augen weiteten sich.

Alissandra machte einen Satz auf Peter zu und entriß ihm den Kristall, noch ehe er merkte, was sie vorhatte.

»Verzeih mir, Peter! Aber ich denke, es ist das beste, wenn ich den Kristall so lange an mich nehme, bis du wieder…« Sie stockte, als sie sah, wie Peter rasend vor Zorn sein Schwert zog.

»Ich hab’ mich einmal von dir hereinlegen lassen, du Schlange! Aber ein zweites Mal wird dir das nicht gelingen! Gib mir den Kristall zurück!« schrie er rot vor Wut.

Alissandra stieg ebenfalls die Röte ins Gesicht. Peters Worte schmerzten sie sehr. Sie zog ebenfalls ihr Schwert und richtete seine Spitze auf Peter.

»Bitte, Peter! Komm wieder zu dir! Zwinge mich nicht, dir weh zu tun. Merkst du denn nicht, daß sie dich nur ausgenutzt und beschwatzt haben? Wo sind sie denn, deine Freunde, die Hexe und der Zauberer? Sie haben sich aus dem Staub gemacht, als sie merkten, daß ihre Pläne nicht aufgingen.«

»Schweig!« Peter machte einen Satz auf sie zu. Alissandra hob die Klinge und wich Peters Streich aus. Das machte ihn noch wütender.

»Gib mir den Kristall, oder ich vergesse mich!«

»Niemals! Gib auf, Peter1 Ich bin doch schneller.« Sie versuchte, die Tür zu erreichen, aber Peter war schneller. Er versperrte ihr den Ausgang.

Alissandra wollte Peter das Schwert aus der Hand schlagen, aber er wich zur Seite und holte ebenfalls zum Schlag aus. Alissandra sah den Hieb kommen und parierte ihn. Aber Thalidon war mächtiger als alle anderen Schwerter, die jemals in Arkanien geschmiedet worden waren. Die beiden Klingen trafen aufeinander und Thalidon schnitt Alissandras Schwert entzwei, wie einen morschen Zweig. Peter konnte den Hieb nicht mehr abbremsen. Er sah, wie die Spitze seines Schwertes Alissandra eine häßliche Wunde in die Seite schlug.

Sie taumelte zurück und ließ den nutzlosen Rest ihres Schwertes fallen. Auf ihrem Gesicht stand mehr der Schrecken geschrieben, als Schmerz. Sie betrachtete das hellrote heiße Blut, das zwischen ihren kalten Fingern hervorquoll und einen feucht glänzenden Streifen auf dem Stoff ihres Rockes erzeugte.

»Peter, besinne dich doch!« preßte sie hervor und konnte nicht fassen, daß sie keine Luft mehr bekam um zu sprechen.

Unglaublich! aber sie konnte nicht mehr gehen, nicht mehr aufrecht stehen. Vor ihren Augen begann es zu flimmern und sie konnte nicht mehr klar sehen. Sie sank auf die Knie.

»Peter, ich liebe dich doch!« flüsterte sie, bevor sie ganz zu Boden sank.

Peter starrte sie an. Langsam, wie in Trance nahm er ihr den Kristall aus der Hand und steckte ihn ein.

»Alissandra, sag was!« rief er. Aber sie lag auf dem Fußboden und ihr Blick war leer.

Mit zitternden Händen steckte er das Schwert ein und lief nach der Treppe. Was hatte er getan? In seinem Kopf war es ganz leer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wußte nur eines: er mußte fort von hier.

Plötzlich machte es Klick! in seinem Schädel und alles lief wie automatisch ab. Er rannte hinab auf den Hof. Keiner schien ihn zu bemerken, denn er wurde von niemandem aufgehalten. Er fand ein Pferd. Es war ein großer schwarzbrauner Gaul. Peter sprang auf das Pferd und trieb es in den Galopp. Wie der Wind ging es ab. Fort, einfach nur fort von hier! Das war alles, was er wollte.

So hetzte er hinaus in die schwarze Nacht.

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