XXIV. KAPITEL

Läuterung

 

Peter dachte an gar nichts; er wollte nur weg, fort von allem und allen. Um ihn herum war tiefschwarze Nacht. Er sah nicht, wohin er ritt und es war ihm auch egal. Das Pferd galoppierte kraftvoll vorwärts, aber das war ihm nicht genug. Er trieb das arme Tier immer weiter an. Die Flucht führte ihn ein Stück an der Küste entlang, dann ging es landeinwärts weiter.

Peter hatte keine Ahnung, wohin es ging, und er achtete nicht darauf. Irgendwann war der Gaul am Ende seiner Kräfte. Peter sprang herab und lief zu Fuß weiter. Es ging über Stock und Stein, über Felder und Wiesen. Er kannte sich in der Gegend nicht aus.

Nach mehreren Stunden rastloser Raserei — Peter hatte nicht die geringste Ahnung, woher er die Kraft und Ausdauer hatte, so lange und so weit zu laufen — gelangte er in einen lichten Wald.

Zwischen den Bäumen sah er im Mondschein etwas glitzern. Es war ein großer kreisrunder Teich, dessen Wasser spiegelglatt wie Quecksilber dalag. Er glich eher einem schwarzen Spiegel, als einer Wasserfläche. Die Oberfläche schien das Himmelslicht zu reflektieren, denn in der Umgebung des Wassers war es viel heller, als anderswo.

Peter sank in das weiche Gras am Ufer. Sein prächtiger Anzug hatte auf der Flucht stark gelitten. Die weißen Strümpfe waren schmutzig und vom Dornengestrüpp zerrissen, Hose und Rock waren von Staub und Lehmkrusten bedeckt und an mehreren Stellen aufgerissen.

Peter beachtete seine derangierte Adjustierung nicht weiter. Mit zitternden Fingern angelte er nach dem Blauen Kristall in seiner Hosentasche. Er zog ihn hervor und betrachtete in. Der Kristall schien von innen heraus sanft zu leuchten; vielleicht aber lag das auch nur an der Reflexion des Mondlichtes oder an den ungewöhnliche Lichtverhältnissen um den Teich herum.

Als er in herumdrehte, erschrak er, denn er bemerkte jetzt, daß der Stein mit verkrustetem Blute beschmiert war, ebenso wie seine Hände. Es war Alissandras Blut. Peter schrie auf und kroch zum Wasser, wo er Hände und Kristall abwaschen wollte.

Das Wasser war kalt und fühlte sich sehr leicht und dünnflüssig an. Es schien ihn kaum zu netzen. Die Berührung mit dem mondscheinduchtränkten Wasser tat ihm sehr wohl, und ehe er es sich versah, lag er halb in dem kühlen Naß. Er wusch sich das Gesicht und trank auch davon. Kaum hatte das Wasser seine Lippen berührt, spürte er einen heftigen Stich in der Brust und ihm war, als fiele ein grauer Schleier von seinen Augen. Die Ereignisse der vergangenen Stunden standen ihm klar vor Augen.

Es war immer dasselbe Bild, das sich ihm vor Augen schob: Alissandra!

Peter schlug die Hände vor das Gesicht. Was hatte er nur getan! er hatte Alissandra getötet! Den einzigen Menschen, der ihn jemals von ganzem Herzen geliebt hatte, hatte er eigenhändig ermordet. Wie verblendet war er doch gewesen!

Er sprang auf und verwarf die Hände. was sollte jetzt geschehen? Es war alles aus! Wie töricht war er gewesen, zu glauben, daß sich hier in Arkanien etwas ändern würde. Dabei hatte alles so gut angefangen. Er, ausgerechnet er, war dazu auserwählt, König zu werden, er hatte sich in die schönste Prinzessin des Landes verliebt und sie hatte seine Liebe erwidert. Und jetzt? Jetzt war alles vorbei. Er hatte sie mit seinen eigenen Händen umgebracht, ihr das Schwert in den Leib gebohrt. Er war ein Mörder! Wie könnte er mit dieser schweren Schuld weiterleben? Jetzt blieb ihm nur noch ein Ausweg. Der Gerechtigkeit mußte genüge getan werde.

Mit aller Kraft riß er das Schwert aus der Scheide. Wie gebannt starrte er auf die glänzende, polierte Klinge. Peter kniete am Ufer des Mondteiches nieder. Er packte das Schwert mit beiden Händen an der Klinge und plazierte die Spitze auf seiner Brust, dort, wo er sein verräterisches Herz vermutete.

Seine Hände zitterten ein wenig und er mußte sie mehrmals abwischen, weil sie vom Schweiß feucht wurden und auf dem glatten Stahl abrutschten. Er hatte Angst; nicht vor dem, was er gleich tun würde, sondern davor, daß es ihm mißlänge.

Er holte tief Luft und rief: »Verzeih mir, Alissandra!« Dann stieß er zu. Er spürte einen scharfen, heftigen Schmerz in der Brust. Die Klinge von Thalidon wollte nicht so leicht ihren Zweck erfüllen, wie bei Alissandra. Seine feuchten Hände rutschten ab. Er schnitt sich in die Finger und die Spitze des Schwertes drang einige Millimeter in seine Brust. Ein paar dicke tropfen seines Blutes quollen schwerfällig aus der winzigen Wunde hervor.

Der plötzliche heftige Schmerz brachte den Rasenden rasch wieder zur Besinnung. Er ließ das Schwert fallen und warf sich schreien auf den Boden. Das war zu viel für ihn. Also selbst dazu war er zu feige! Ein heftiger Weinkrampf schüttelte ihn. Schluchzend und hilflos mit den Fäusten auf die erde trommelnd wälzte er sich hin und her.

»Dann halt anders!« rief er endlich und stürzte nach dem Wasser. Er warf sich hinein und strebte auf die Mitte des Wassers zu. Er war nie ein besonders guter Schwimmer gewesen. Die Ufer des kleinen Sees waren flach, und so mußte er sich weit vom Rande entfernen, bis er den Grund unter seinen Füßen verlor.

Als er die Mitte erreicht hatte, tauchte er unter und strebte mit kräftigen Armzügen nach dem Grunde.

Das Wasser schien viel tiefer zu sein, als er vermutet hatte, denn er konnte den Grund nicht erreichen, obwohl er rasch tiefer sank.

Auf einmal schoß sein Kopf aus dem Wasser. Wie war das möglich? Er hatte sich nicht gedreht. Prustend schöpfte er Atem und sah sich um. Der Teich und die Ufer sahen ganz normal aus, aber der Mond schien weniger hell, gleichwohl keine Wolke am Himmel stand.

Peter schwamm ans Ufer. Dort mußte er feststellen, daß das Wasser schlammig und die Böschung viel dichter bewachsen war.

Er schüttelte den Kopf, um das Wasser aus den Ohren zu bekommen. Alles war ruhig. Einige Frösche quakten, Grillen zirpten, der Wind säuselte im Schilf und die Baumwipfel wogten leise knarrend. In der Ferne pfiff leise eine Lokomotive.

Peters Herz begann heftig zu schlagen. Nein! Das wäre zu einfach. Er machte kehrt und stürzte sich erneut ins Wasser. Kaum hatte er die Mitte des Teiches erreicht, tauchte er, aber er hatte große Schwierigkeiten, unter Wasser zu bleiben; jedesmal trieb es ihn an die Oberfläche.

Schließlich atmete er tief aus und tauche senkrecht hinab. Auf einmal fühlte er sich wie von einem Sog erfaßt. Er sank schnell wie ein Stein in die Tiefe — und tauchte gleich darauf wieder auf.

Peter versuchte es gleich noch einmal, stieß aber sofort auf den steinigen Grund. Das war doch nicht möglich. Jetzt konnte er sogar schon stehen. Das Wasser reichte ihm gerade bis zum Hals.

Ungläubig watete er zum Ufer. Alles war wieder wie zuvor. Im Gras am Ufer fand er sein Schwert, das er dort weggeworfen hatte. Kopfschüttelnd steckte er es ein. Ihm war kalt und er fühlte sich zu Tode erschöpft.

Ungeachtet seiner tropfnassen Kleider legte er sich ins kühle Gras, wo er sogleich feste einschlief.

Peters Schlaf war unruhig und voller Traumgesichte. Im Morgengrauen schreckte er hoch. Er war noch ganz aufgewühlt, von dem, was er im Traume gesehen und erlebt hatte. Er hatte Alissandra gesehen. Sie lag in einem großen, mit hellblauer Seide ausgeschlagenen Bett. Tamina, Wilo und der alte Callidon standen an ihrer Seite und sahen sehr besorgt aus. Peter rief ihre Namen, aber keiner der Anwesenden konnte ihn hören oder sehen. Als er auf das Bett hinzulief, schien es sich zu entfernen. Peter wollte schneller laufen, aber er kam nicht vom Fleck. So sehr er auch rannte und schrie, half es doch alles nichts; das Traumbild verblaßte und verschwand schließlich ganz. An seine Stelle trat ein anderes Bild, das er nicht verstand. Er gewahrte einen Berg in der Ferne. Es war ein sehr hoher, felsiger Berg, der spitzkegelförmig aus einer hügeligen, grünen Landschaft herausragte. Den Gipfel konnte er nicht erkennen, denn er lag in den Wolken verborgen. Peter hatte keine Ahnung, wo er sich befand, denn die Landschaft, so schön und fruchtbar sie war, glich keiner, die er bislang auf seinen Reisen durch das große Arkanien hatte kennen lernen. Er sah den Berg nur aus der Ferne, und doch spürte er eine gewaltige Sehnsucht nach diesem Ort und wollte unbedingt dahin gelangen. Er wußte, daß dieser Ort von ungeheurer Wichtigkeit für ihn war.

Dann wachte Peter auf und fand sich wieder am Ufer des Mondsees wieder, wie er den Teich inzwischen getauft hatte.

Die Aufregung und abgrundtiefe Verzweiflung der vergangenen Nacht war von ihm gewichen. Dafür aber fühlte er sich innerlich leer und ausgebrannt. Einzig das Sehnen nach dem Berge aus seinem Traum wirkte noch nach und sorgte für nicht geringe Verwirrung.

Alissandra lebte noch — jedenfalls in seinem Traum. Was hatte das zu bedeuten? War es nur eine Reaktion seines schlechten Gewissens oder seiner überspannten Nerven? Oder lebte sie am Ende tatsächlich? Vielleicht hatte er sie nicht getötet, sondern nur verwundet. Doch war das überhaupt möglich? Hatte Callidon ihn nicht gewarnt, daß Thalidon eine absolut tödliche Waffe sei, die stets den Willen ihres Eigentümers erfüllt?

Was sollte er jetzt tun? Zurückkehren und nach Alissandra sehen, oder sich auf die Suche nach dem Berge machen? Peter konnte sich nicht entscheiden. Er nahm den Blauen Kristall in die Hand und hielt ihn gegen die Sonne.

Ein Feuerwerk funkelnden blauen Lichtes blendete ihn. Peter konnte sich von diesem Anblick kaum losreißen.

»Mächtiger Blauer Kristall! Führe mich auf den rechten Weg1 Wohin soll ich gehen?« sprach er mit fester Stimme.

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als er ein heftiges Ziehen in seiner Hand spürte. Er erschrak ein wenig. Aber dann faßte er sich ein Herz. Er vertraute auf die Macht des Kristalls. Willig ließ er sich führen.

Von dem Blauen Kristall geleitet lenkte er seine Schritte zielsicher durch den Wald. Er hatte zwar keine Ahnung, wo er sich gerade befand und wohin ihn der Kristall führen würde, aber das war ihm im Augenblick gleich; Hauptsache, er käme irgend wohin.

Peter marschierte den ganzen Tag ohne eine größere Rast einzulegen. Offenbar gab der Kristall ihm die Kraft hiezu.

Am späten Nachmittag gelangte er in ein kleines Bauerndorf. Seine Ankunft erregte in dem winzigen, aus einfachen strohgedeckten Hütten bestehenden Dorf großes Aufsehen. Obzwar Peters schöner Anzug schwer beschädigt und verschmutzt war, konnte man ihm dennoch ansehen, daß er kein gewöhnlicher Landstreicher oder Bauerntölpel war. Die Leute in dem Dorfe waren einfache und sehr arme Menschen, dennoch nahmen sie ihn freundlich auf und boten ihm Speis und Trank an.

Umringt von einer lärmenden, barfüßigen Kinderschar nahm Peter in einem der Häuser, die meist nur aus ein bis zwei Stuben bestanden, am Küchentisch Platz.

Es gab ein ärmliches Mahl, das zur Hauptsache aus Bohnen und Kartoffeln bestand. Alle aßen aus einer Schüssel, nur Peter als Gast erhielt ein eigenes Schälchen und einen Löffel aus Blech.

Einerseits genierte er sich, daß er bei den armen Leuten am Tische saß und sie ihr karges Mahl mit ihm teilen mußten, andererseits wären diese überaus gastfreundlichen Menschen zutiefst beleidigt worden, hätte er ihre freundliche Einladung ausgeschlagen; und nicht zuletzt knurrte sein Magen vor Hunger.

Über eines war Peter sehr froh: niemand erkannte ihn hier und keiner fragte nach seinem Namen. Er stellte sich daher nur als Reisender vor, der auf einer Wallfahrt zu einem heiligen Berge war.

Es war schon seltsam, was für merkwürdige Wendungen das Schicksal nahm. Da saß der höchste König inmitten unter den ärmsten seiner Untertanen. Aber Peter war es zufrieden. Um nichts wollte er in diesem Augenblick mit einem der begünstigten Höflinge tauschen. Er hatte die Nase voll von all den schönen Worten und dem vornehmen Getue, hinter dem sich meist nur Neid und Intrigen verbargen.

Der Bauer bot ihm ein Nachtlager an. Da Peter aber kein Mitglied dieser armen Familie aus seinem Bette vertreiben wollte, nahm er gerne mit einem Strohlager auf dem Boden vorlieb. In der Vergangenheit hatte er bereits mehrmals mit dieser Art zu nächtigen Bekanntschaft gemacht, so daß es für ihn durchaus erträglich war. Zudem schien ihm in seinem derzeitigen Zustande jede körperliche Ungemach recht eigentlich geeignet, um zu seiner Buße beizutragen.

Durch den anstrengenden Fußmarsch war er ziemlich erschöpft, so daß er rasch einschlief. Auch in dieser Nacht erschien ihm das vertraute Bild von der vergangenen Nacht wieder. Erneut stand er unsichtbar an Alissandras Krankenlager. Sie sah sehr schwach aus und war leichenblaß. Alles, was sie noch am Leben zu erhalten schien, war das goldene Amulett Peters, welches Tamina ihm um den Hals gelegt hatte. Meister Callidon stand neben dem Bett. Sein Gesicht war sorgenvoll. Tamina stand neben ihm. Ihre Augen sahen rot und verweint aus, und auch sie wirkte sehr leicht und übernächtigt. Peter konnte nicht hören, was die beiden miteinander sprachen, aber auf eine Frage Taminas senkte Callidon den Blick und schüttelte langsam den Kopf.

In diesem Augenblick verschwand das Bild und wie aus einem dichten Nebel, der sich allmählich auflöste, erschien der hohe Berg wieder. Dies Mal aber war er dem Berge viel näher und konnte mehr Details erkennen. Auch die dichte Wolkendecke, welche den Gipfel verhüllt hatte, war verschwunden. Peter konnte erkennen, daß sich der Berg kegelförmig nach oben verjüngte und nicht wie erwartet, in einer Spitze auslief, sondern mit einem flachen, beinahe kreisrunden Hochplateau endete.

Das merkwürdigste aber war, daß sich auf der Hochebene nicht ein schneebedeckter Gletscher, oder eine öde, von niederer Vegetation bedeckte, felsige Fläche befand, sondern ein üppig grünender, tropisch anmutender Garten, voller unbekannter Bäume und Pflanzen. Und wieder verspürte Peter eine starke Sehnsucht nach diesem Ort, welche an seinem Herzen zerrte. Er mußte unbedingt jenen Berg und Garten finden, dann würde alles gut werden; das fühlte er ganz deutlich.

Sogar nach dem Aufwachen am anderen Morgen wirkte jenes intensive Gefühl aus dem Traum noch nach. Einen Augenblick lang war Peter verwirrt, wußte nicht, ob er noch träumte oder bereits wach war.

Nach dem Aufstehen fragte er als erstes den Bauern nach diesem Berge. Aber weder er noch seine Frau kannten einen solchen Berg. In der Umgebung gab es keine Berge, nur einige flache, grasbewachsene Hügel.

Auch die anderen Leute im Dorf konnten ihm nicht weiter helfen. So machte er sich, nachdem er den gastfreundlichen Landleuten für seine Bewirtung herzlich gedankt hatte, wieder auf den Weg.

Wohin sollte er sich nun wenden? Nach Westen nicht, denn in dieser Richtung lag das Meer, nach Norden auch nicht, denn aus dieser Richtung kam er; also blieben nur noch der Süden und der Osten. Seine Suche, die unter großem Zeitdruck stand, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Arkanien war ein riesiges Land. Wie sollte er Tausende von Meilen zu Fuß zurücklegen? Dieser Berg konnte sich überall befinden. Im Norden gab es eine ausgedehnte Bergkette, im Süden auch und im Osten lag weit, weit entfernt das unüberwindliche Riesengebirge, von dem es hieß, es bilde das Ende der Welt. Vielleicht aber lag der gesuchte Ort sogar jenseits des Gebirges, denn andere Legenden berichteten von einem geheimnisvollen Land voller Wunder, und hatte nicht sogar Callidon etwas von einer Sternenstadt — was immer das sein mochte — erzählt? Würde ihm der Kristall helfen können? Peter besaß das Szepter nicht, sonst wäre alles ganz einfach. Jeden Wunsch hätte er sich damit erfüllen können. Doch der Blaue Kristall war zu mächtig. Wie sollte er die Macht des Kristalls nutzen, und wie sie bändigen?

Peter nahm den Kristall in die Hand und drückte ihn feste. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken. Er konnte die Macht des Kristalls förmlich spüren. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

»Wenn du kannst, dann führe mich zu dem Berg!« flüsterte Peter zu dem Blauen Kristall in seiner Hand und hielt ihn gegen die Sonne, damit das blaue Feuer sichtbar wurde.

Täuschte er sich, oder wies der Kristall tatsächlich in eine bestimmte Richtung? Peter wog den schweren Stein unentschlossen in der Hand.

Nein, er hatte sich geirrt. Aber warum funktionierte der Kristall bei ihm nicht? Tamina hatte er doch auch zu ihm geführt. Peter war am Verzweifeln. Alissandra lag im Sterben, durch seine Schuld, und er war weit weg und wußte nicht, was tun.

So verstaute er den Kristall wieder in der Hosentasche und lenkte seine Schritte rasch in irgendeine Richtung. Es war gleich, wohin er ging, Hauptsache, er blieb nicht stehen.

Er durfte sich nicht aufgeben. Jetzt war er ganz auf sich allein gestellt. Er mußte das Kunststück fertigbringen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpfe zu ziehen.

Dieser Berg aus seinem Traum, was hatte es damit auf sich? Wie könnte er Alissandra retten, wenn er dorthin gelangte? Und wieviel Zeit blieb ihm noch. Alissandra hatte so schlecht ausgesehen, daß es ihm jedesmal einen heftigen Stich ins Herz gab, wenn er sich das traurige Bild vor Augen führte.

Peter wanderte durch ein trockenes, unfruchtbares Flußtal, der Boden war hart und steinig und taugte zu keiner Kultur. Lediglich Schafe und einige magere Rinder weideten auf den flachen Hängen. Zuweilen standen dürre Bäume in kleinen Gruppen beisammen, manchmal erstreckte sich auch ein kleiner Wald über eine ganze Hügelkuppe.

Nach einigen Stunden gelangte Peter an einen Flußlauf, dem er folgte. Er führte ihn in ein grünes, fruchtbares Tal. Die Weiden waren saftig und grün und allerorts sah er schwarz-weiß gescheckte Kühe weiden. Die meisten Felder waren gerade abgeerntet worden, auf anderen stand noch das Wintergetreide. Auf den Südhängen einiger steiler Hügel lagen Rebberge, in denen hurtige Weingärtner bei der Lese waren. Es war ein friedlicher, wohlgefälliger Anblick.

Allein Peter hatte keinen Blick für die liebliche Landschaft. Seine ganze Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, während er die meiste Zeit mit gesenktem Haupte fürbaß schritt. Gelegentlich führte ihn sein Weg durch ein Dorf, wo er die ersten besten Leute nach dem Berge fragte. Indes wohin er auch kam, wen immer er fragte, keiner wußte Bescheid, niemand konnte helfen. Die Menschen waren ihm gegenüber alle sehr freundlich und mitfühlend. Obzwar sie ihn nicht als ihren König, oder Regenten, oder Diktator, oder was auch immer seine Funktion noch war — hatte er überhaupt noch eine? — , erkannten, so merkten sie demungeachtet sogleich, daß ein schwerer Kummer den jungen Mann in der zerschlissenen Kleidung eines Edelmannes bedrückte.

So sinnlos seine verzweifelte und wenig fruchtbare Suche auch war, ließ Peter sich nicht davon abbringen, alle seine Kraft und Energie daran zu setzen, den Berg seiner Träume zu finden. Bis zum letzten Atemzuge wollte er vorwärts schreiten und nicht ruhen, ehe er an seinem Ziele angelangt wäre.

Mittlerweile war es ihm ganz gleich, ob er jemals König würde; im Gegenteil, die Lust am Herrschen war ihm gründlich vergangen. Wenn es ihm gelingen sollte, Alissandra zu retten, würde er sich irgendwo abseits der Hauptstadt niederlassen und irgend einer einfachen Beschäftigung nachgehen. Nach dem Sieg über Tiras und der Befreiung durch die Rebellenarmee, würde sich bestimmt jemand geeignetes finden, der das Land befrieden und es klug regieren könnte. warum nicht Wilo oder Alissandra als König oder Präsident, oder was immer für eine Regierung man einrichten würde?

Und wenn Alissandra nicht durchkäme? Peter wagte kaum daran zu denken. Aber in diesem Falle war er fest entschlossen, sich den Rebellen zu ergeben. Sollten jene darüber befinden, was aus ihm werden solle. Ohne Alissandra wäre für ihn ohnehin alles aus. Wie könnte er weiter leben, womöglich gar als Herrscher, in dem Bewußtsein, seine geliebte Alissandra getötet zu haben?

Was mochte aus Kalorim und Verdel geworden sein? Obgleich die beiden eigentlich an allem Schuld waren, fühlte Peter erstaunlicher Weise keinen Haß auf die beiden. Er war mehr über sie selber wütend, weil er sich so arglos und selbstsüchtig auf die finsteren Pläne der beiden eingelassen hatte. Wenn er nur ein klein wenig wachsamer gewesen wäre, hätte er das falsche Spiel der beiden leicht durchschauen können. Aber hatte er dies auch wirklich gewollt? War er nicht vielmehr so sehr mit seinem Schmerz und Selbstmitleid aus gekränktem Stolz beschäftigt gewesen, daß er vor lauter Zorn und Rachegelüsten seine einstige Geliebte am Ende zu hassen begonnen hatte? Wie hatte er jemals ernsthaft daran glauben können, daß ein Mädchen wie Alissandra zu einem derart niederträchtigen Verrat fähig wäre? Nein, er hätte es wissen müssen, daß sie ihn nicht aus freien Stücken verraten hatte.

Ja, jetzt war alles so klar und logisch; aber jetzt war es zu spät für diese Erkenntnis. Alles war verdorben und vorbei. Selbst wenn Alissandra wieder genäse, was er sich mehr als alles andere auf der Welt wünschte, so wäre es nun endgültig aus zwischen ihnen beiden.

Peter zog die Nase hoch. Der Gedanke an Alissandra tat so unendlich weh.

»Warum hilfst du mich nicht?« schrie er den Blauen Kristall in seiner Hand an. Doch der Kristall funkelte ihn nur kalt und blau an.

An diesem Tage legte Peter noch viele Meilen zurück, ohne sich einmal umzusehen und ohne die geringste Spur des Berges zu finden.

Als die Nacht hereinbrach, fand Peter in einer Feldscheune Unterschlupf. Er legte sich sogleich zum Schlafen nieder. In dem mit Heu und Strohballen vollgepfropften Holzschuppen hätte er ohnedies kein Licht anzünden dürfen.

Voller Ungeduld wartete er darauf, daß er endlich einschlief, um den teuren Traum wieder zu träumen. Aber auf diese Art funktionierte das natürlich nicht. Wenn man versucht, den Augenblick des Entschlummerns bewußt wahrzunehmen, dann schläft man überhaupt nicht ein. Das wußte auch Peter, aber so sehr er sich auch bemühte, wollte es ihm einfach nicht gelingen, den Kopf leer zu bekommen. So lag er mehrere Stunden und wälzte sich von der einen auf die andere Seite.

Erst nach Mitternacht wurde er ruhiger. Vor seinem inneren Auge begannen sich mannigfaltige Gestalten abzuzeichnen. Langsam fing ein Bild an deutlicher zu werden und den bunten Reigen von Formen und Farben zu verdrängen. Es war das bekannte Bild des einsamen Berges. Der Berg kam näher, oder er näherte sich dem Berge — das konnte er nicht genau unterscheiden. Immerhin konnte er jetzt vieles deutlicher sehen. Es war ihm beinahe so, als kenne jede Felsspalte, jede Klamm, jeden Sims. wenn er dem Berge leibhaftig gegenüberstände, so wäre er bestimmt in der Lage ihn zu erklimmen.

Der Garten auf dem Gipfelplateau kam immer näher. Peter konnte jetzt erkennen, daß er von einer hohen, glatten Mauer umgeben war, die eine so perfekte, glatte, beinahe wie poliertes Metall glänzende Oberfläche aufwies, daß sie tatsächlich aus Metall sein konnte. Trotzdem — und das war das merkwürdige — konnte Peter nicht erkennen, was für eine Farbe das Material besaß. Es war hell und schimmerte mattglänzend..

Auf einmal erschien ein hohes Gittertor. Es war vergoldet, denn es glänzte hell und gleißend im Sonnenschein. Das Tor stand halb offen, so daß Peter hindurchtreten konnte. Ob er es tatsächlich passierte, konnte er nicht sagen. Auf jeden Fall stand er plötzlich mitten im dem Garten.

Der Garten war von einiger Ausdehnung, so daß er dessen Begrenzungs­mauer nicht sehen konnte. Überall wuchsen leuchtend bunte Blumen und helles grünes Gras. Ein breiter Pfad führte geradeaus in das Zentrum des Gartens. Dort stand mächtig und alles überragend ein riesiger, uralter Baum. Er war von einer unbekannten Art. Sein Stamm schien aus reinem Golde zu bestehen, genau so wie die dicken runden Früchte, welche zwischen sattgrünen, länglichen Blättern glühten. Sie hatten die Größe und Gestalt von Apfelsinen. Der Anblick dieses Baumes erweckte ein grenzenloses Gefühl in Peters Herz. Er fühlte wieder, doch jetzt tausendmal stärker diese Sehnsuchtsfreude, die sein Herz und seine Seele erfüllte. Dieser Baum versprach Erlösung.

Er sah sich auf den Baum zu gehen und an seinem Fuße niederknien. In seiner Hand lag der Blaue Kristall. Er nahm den Kristall in die rechte Hand, dergestalt, daß das spitze Ende heraus ragte. Mit einer langsamen, kräftigen Bewegung drückte er die Spitze in die Rinde des goldenen Baumes und fuhr einige Zentimeter herab. Ein schmaler Schnitt tat sich auf. Aus der Wunde fiel ein gleißender goldener Lichtstrahl. Aus der Kerbe floß ein dünner, milchiger Saft. Kaum benetzte der erste Tropfen dieser Flüssigkeit Peters Hand, da wurde er von allem Schmerz und Kummer geheilt. Das Bild verschwamm vor seinen Augen.

Aus dem bunten Schleier verschwimmender Farben und Gestalten löste sich ein neues Bild. Es war Alissandras Krankenlager. Noch immer lag sie siech mit geschlossenen Augen da. Ihr Gesicht war eingefallen, die Augen von Schatten umrandet, das lange braune Haar war stumpf und hatte den einstigen lebendigen Glanz verloren. Tamina, die neben dem Bette kniete, wandte um sich zu Callidon, der hinter ihr stand.

Zum ersten Male konnte Peter ihre Worte vernehmen. Sie fragte leise und mit bebender Stimme: »Wie lange noch, Meister Callidon?« Callidon hielt den Blick gesenkt und schwieg. Nach einiger Zeit sagte er endlich: »Nicht mehr lange, Tamina, Tage, vielleicht auch nur Stunden.«

Tamina drehte den Kopf zu Seite. Sie sagte nichts, nur eine stumme Träne rann über ihre Wange, während sie sich auf die Lippen biß.

Peter durchfuhr ein heißer Schrecken. Das Traumgesicht verlosch und mit heftigem Herzklopfen und dicken Schweißperlen auf der Stirn erwachte er.

Durch die Ritzen der Bretterwände fiel heller Sonnenschein herein. Peter stand auf. Er war von den Traumgesichten noch ganz aufgewühlt. Die Zeit war abgelaufen. Heute mußte es geschehen, um jeden Preis!

Er lief hinaus ins Freie. Mitten auf dem Feld blieb er stehen. Er zog den Blauen Kristall hervor und hob ihn in der rechten Hand empor, hielt ihn hoch über seinen Kopf.

»Kristall! Ich befehle dir, deine Macht einzusetzen und mich zu dem Berg mit dem goldene Baum zu befördern!« rief er laut.

Ein starkes Kribbeln fuhr durch seine Hand und seinen Arm. Er richtete erneut das Wort an den Kristall: »Als dein Herr und Meister befehle ich dir: Bringe mich an den Ort! Gehorche endlich, im Namen des Königs von Arkanien!«

Was darauf geschah, geschah unheimlich schnelle. Ein Blitz tauchte alles in blendendes blauweißes Licht. Ein sengendes Feuer fuhr durch Peters Arm in seinen Leib. Die Erde erbebte und dort, wo Peter stand, tat sich eine tiefe Kluft auf. Blitze spieen vernichtendes Feuer in alle Richtungen, entzündeten das trockene Gras und fällte alle Bäume in der Umgebung von über hundert Metern. Aber davon bekam Peter nichts mehr mit.

Er hatte die Macht des Blauen Kristalls entfesselt, ohne das Szepter zu benutzen. Als die Blitze erloschen und der Donner verhallt war, blieb von dem Feld, auf dem Peter sie eben noch befunden hatte, nichts mehr übrig. Eine dreihundert Meter lange und über zwanzig Meter tiefe Erdspalte klaffte mitten in der verwüsteten Landschaft auf. Im Umkreis von einigen hundert Metern war der Erdboden schwarz verbrannt und alle Vegetation vernichtet. Bäume lagen entwurzelt oder einfach abgeknickt wie Streichhölzer kreisförmig um den Ursprung der Kraft am Boden. Überall rauchte und schwelte es. Glücklicher Weise befanden sich keine Häuser und keine Menschen in der Nähe, so daß niemand verletzt wurde. Aber in allen umliegenden Dörfern fielen die Bilder von den Wänden, barsten Fensterscheiben und wurden Mensch und Vieh durcheinandergerüttelt und in größten Schrecken versetzt. Nicht wenige glaubten, das Ende der Welt sei gekommen und stürzten schreien und mit gen Himmel erhobenen Händen aus ihren Häusern.

Wo aber war Peter abgeblieben?

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