Läuterung
Peter
dachte an gar nichts; er wollte nur weg, fort von allem und allen. Um ihn herum
war tiefschwarze Nacht. Er sah nicht, wohin er ritt und es war ihm auch egal.
Das Pferd galoppierte kraftvoll vorwärts, aber das war ihm nicht genug. Er
trieb das arme Tier immer weiter an. Die Flucht führte ihn ein Stück an der Küste
entlang, dann ging es landeinwärts weiter.
Peter
hatte keine Ahnung, wohin es ging, und er achtete nicht darauf. Irgendwann war
der Gaul am Ende seiner Kräfte. Peter sprang herab und lief zu Fuß weiter. Es
ging über Stock und Stein, über Felder und Wiesen. Er kannte sich in der
Gegend nicht aus.
Nach
mehreren Stunden rastloser Raserei — Peter hatte nicht die geringste Ahnung,
woher er die Kraft und Ausdauer hatte, so lange und so weit zu laufen —
gelangte er in einen lichten Wald.
Zwischen
den Bäumen sah er im Mondschein etwas glitzern. Es war ein großer kreisrunder
Teich, dessen Wasser spiegelglatt wie Quecksilber dalag. Er glich eher einem
schwarzen Spiegel, als einer Wasserfläche. Die Oberfläche schien das
Himmelslicht zu reflektieren, denn in der Umgebung des Wassers war es viel
heller, als anderswo.
Peter
sank in das weiche Gras am Ufer. Sein prächtiger Anzug hatte auf der Flucht
stark gelitten. Die weißen Strümpfe waren schmutzig und vom Dornengestrüpp
zerrissen, Hose und Rock waren von Staub und Lehmkrusten bedeckt und an mehreren
Stellen aufgerissen.
Peter
beachtete seine derangierte Adjustierung nicht weiter. Mit zitternden Fingern
angelte er nach dem Blauen Kristall in seiner Hosentasche. Er zog ihn hervor und
betrachtete in. Der Kristall schien von innen heraus sanft zu leuchten;
vielleicht aber lag das auch nur an der Reflexion des Mondlichtes oder an den
ungewöhnliche Lichtverhältnissen um den Teich herum.
Als
er in herumdrehte, erschrak er, denn er bemerkte jetzt, daß der Stein mit
verkrustetem Blute beschmiert war, ebenso wie seine Hände. Es war Alissandras
Blut. Peter schrie auf und kroch zum Wasser, wo er Hände und Kristall abwaschen
wollte.
Das
Wasser war kalt und fühlte sich sehr leicht und dünnflüssig an. Es schien ihn
kaum zu netzen. Die Berührung mit dem mondscheinduchtränkten Wasser tat ihm
sehr wohl, und ehe er es sich versah, lag er halb in dem kühlen Naß. Er wusch
sich das Gesicht und trank auch davon. Kaum hatte das Wasser seine Lippen berührt,
spürte er einen heftigen Stich in der Brust und ihm war, als fiele ein grauer
Schleier von seinen Augen. Die Ereignisse der vergangenen Stunden standen ihm
klar vor Augen.
Es
war immer dasselbe Bild, das sich ihm vor Augen schob: Alissandra!
Peter
schlug die Hände vor das Gesicht. Was hatte er nur getan! er hatte Alissandra
getötet! Den einzigen Menschen, der ihn jemals von ganzem Herzen geliebt hatte,
hatte er eigenhändig ermordet. Wie verblendet war er doch gewesen!
Er
sprang auf und verwarf die Hände. was sollte jetzt geschehen? Es war alles aus!
Wie töricht war er gewesen, zu glauben, daß sich hier in Arkanien etwas ändern
würde. Dabei hatte alles so gut angefangen. Er, ausgerechnet er, war dazu
auserwählt, König zu werden, er hatte sich in die schönste Prinzessin des
Landes verliebt und sie hatte seine Liebe erwidert. Und jetzt? Jetzt war alles
vorbei. Er hatte sie mit seinen eigenen Händen umgebracht, ihr das Schwert in
den Leib gebohrt. Er war ein Mörder! Wie könnte er mit dieser schweren Schuld
weiterleben? Jetzt blieb ihm nur noch ein Ausweg. Der Gerechtigkeit mußte genüge
getan werde.
Mit
aller Kraft riß er das Schwert aus der Scheide. Wie gebannt starrte er auf die
glänzende, polierte Klinge. Peter kniete am Ufer des Mondteiches nieder. Er
packte das Schwert mit beiden Händen an der Klinge und plazierte die Spitze auf
seiner Brust, dort, wo er sein verräterisches Herz vermutete.
Seine
Hände zitterten ein wenig und er mußte sie mehrmals abwischen, weil sie vom
Schweiß feucht wurden und auf dem glatten Stahl abrutschten. Er hatte Angst;
nicht vor dem, was er gleich tun würde, sondern davor, daß es ihm mißlänge.
Er
holte tief Luft und rief: »Verzeih mir, Alissandra!« Dann stieß er zu. Er spürte
einen scharfen, heftigen Schmerz in der Brust. Die Klinge von Thalidon wollte
nicht so leicht ihren Zweck erfüllen, wie bei Alissandra. Seine feuchten Hände
rutschten ab. Er schnitt sich in die Finger und die Spitze des Schwertes drang
einige Millimeter in seine Brust. Ein paar dicke tropfen seines Blutes quollen
schwerfällig aus der winzigen Wunde hervor.
Der
plötzliche heftige Schmerz brachte den Rasenden rasch wieder zur Besinnung. Er
ließ das Schwert fallen und warf sich schreien auf den Boden. Das war zu viel für
ihn. Also selbst dazu war er zu feige! Ein heftiger Weinkrampf schüttelte ihn.
Schluchzend und hilflos mit den Fäusten auf die erde trommelnd wälzte er sich
hin und her.
»Dann
halt anders!« rief er endlich und stürzte nach dem Wasser. Er warf sich hinein
und strebte auf die Mitte des Wassers zu. Er war nie ein besonders guter
Schwimmer gewesen. Die Ufer des kleinen Sees waren flach, und so mußte er sich
weit vom Rande entfernen, bis er den Grund unter seinen Füßen verlor.
Als
er die Mitte erreicht hatte, tauchte er unter und strebte mit kräftigen Armzügen
nach dem Grunde.
Das
Wasser schien viel tiefer zu sein, als er vermutet hatte, denn er konnte den
Grund nicht erreichen, obwohl er rasch tiefer sank.
Auf
einmal schoß sein Kopf aus dem Wasser. Wie war das möglich? Er hatte sich
nicht gedreht. Prustend schöpfte er Atem und sah sich um. Der Teich und die
Ufer sahen ganz normal aus, aber der Mond schien weniger hell, gleichwohl keine
Wolke am Himmel stand.
Peter
schwamm ans Ufer. Dort mußte er feststellen, daß das Wasser schlammig und die
Böschung viel dichter bewachsen war.
Er
schüttelte den Kopf, um das Wasser aus den Ohren zu bekommen. Alles war ruhig.
Einige Frösche quakten, Grillen zirpten, der Wind säuselte im Schilf und die
Baumwipfel wogten leise knarrend. In der Ferne pfiff leise eine Lokomotive.
Peters
Herz begann heftig zu schlagen. Nein! Das wäre zu einfach. Er machte kehrt und
stürzte sich erneut ins Wasser. Kaum hatte er die Mitte des Teiches erreicht,
tauchte er, aber er hatte große Schwierigkeiten, unter Wasser zu bleiben;
jedesmal trieb es ihn an die Oberfläche.
Schließlich
atmete er tief aus und tauche senkrecht hinab. Auf einmal fühlte er sich wie
von einem Sog erfaßt. Er sank schnell wie ein Stein in die Tiefe — und
tauchte gleich darauf wieder auf.
Peter
versuchte es gleich noch einmal, stieß aber sofort auf den steinigen Grund. Das
war doch nicht möglich. Jetzt konnte er sogar schon stehen. Das Wasser reichte
ihm gerade bis zum Hals.
Ungläubig
watete er zum Ufer. Alles war wieder wie zuvor. Im Gras am Ufer fand er sein
Schwert, das er dort weggeworfen hatte. Kopfschüttelnd steckte er es ein. Ihm
war kalt und er fühlte sich zu Tode erschöpft.
Ungeachtet
seiner tropfnassen Kleider legte er sich ins kühle Gras, wo er sogleich feste
einschlief.
Peters
Schlaf war unruhig und voller Traumgesichte. Im Morgengrauen schreckte er hoch.
Er war noch ganz aufgewühlt, von dem, was er im Traume gesehen und erlebt
hatte. Er hatte Alissandra gesehen. Sie lag in einem großen, mit hellblauer
Seide ausgeschlagenen Bett. Tamina, Wilo und der alte Callidon standen an ihrer
Seite und sahen sehr besorgt aus. Peter rief ihre Namen, aber keiner der
Anwesenden konnte ihn hören oder sehen. Als er auf das Bett hinzulief, schien
es sich zu entfernen. Peter wollte schneller laufen, aber er kam nicht vom
Fleck. So sehr er auch rannte und schrie, half es doch alles nichts; das
Traumbild verblaßte und verschwand schließlich ganz. An seine Stelle trat ein
anderes Bild, das er nicht verstand. Er gewahrte einen Berg in der Ferne. Es war
ein sehr hoher, felsiger Berg, der spitzkegelförmig aus einer hügeligen, grünen
Landschaft herausragte. Den Gipfel konnte er nicht erkennen, denn er lag in den
Wolken verborgen. Peter hatte keine Ahnung, wo er sich befand, denn die
Landschaft, so schön und fruchtbar sie war, glich keiner, die er bislang auf
seinen Reisen durch das große Arkanien hatte kennen lernen. Er sah den Berg nur
aus der Ferne, und doch spürte er eine gewaltige Sehnsucht nach diesem Ort und
wollte unbedingt dahin gelangen. Er wußte, daß dieser Ort von ungeheurer
Wichtigkeit für ihn war.
Dann
wachte Peter auf und fand sich wieder am Ufer des Mondsees wieder, wie er den
Teich inzwischen getauft hatte.
Die
Aufregung und abgrundtiefe Verzweiflung der vergangenen Nacht war von ihm
gewichen. Dafür aber fühlte er sich innerlich leer und ausgebrannt. Einzig das
Sehnen nach dem Berge aus seinem Traum wirkte noch nach und sorgte für nicht
geringe Verwirrung.
Alissandra
lebte noch — jedenfalls in seinem Traum. Was hatte das zu bedeuten? War es nur
eine Reaktion seines schlechten Gewissens oder seiner überspannten Nerven? Oder
lebte sie am Ende tatsächlich? Vielleicht hatte er sie nicht getötet, sondern
nur verwundet. Doch war das überhaupt möglich? Hatte Callidon ihn nicht
gewarnt, daß Thalidon eine absolut tödliche Waffe sei, die stets den Willen
ihres Eigentümers erfüllt?
Was
sollte er jetzt tun? Zurückkehren und nach Alissandra sehen, oder sich auf die
Suche nach dem Berge machen? Peter konnte sich nicht entscheiden. Er nahm den
Blauen Kristall in die Hand und hielt ihn gegen die Sonne.
Ein
Feuerwerk funkelnden blauen Lichtes blendete ihn. Peter konnte sich von diesem
Anblick kaum losreißen.
»Mächtiger
Blauer Kristall! Führe mich auf den rechten Weg1 Wohin soll ich gehen?« sprach
er mit fester Stimme.
Kaum
hatte er diese Worte ausgesprochen, als er ein heftiges Ziehen in seiner Hand spürte.
Er erschrak ein wenig. Aber dann faßte er sich ein Herz. Er vertraute auf die
Macht des Kristalls. Willig ließ er sich führen.
Von
dem Blauen Kristall geleitet lenkte er seine Schritte zielsicher durch den Wald.
Er hatte zwar keine Ahnung, wo er sich gerade befand und wohin ihn der Kristall
führen würde, aber das war ihm im Augenblick gleich; Hauptsache, er käme irgend
wohin.
Peter
marschierte den ganzen Tag ohne eine größere Rast einzulegen. Offenbar gab der
Kristall ihm die Kraft hiezu.
Am
späten Nachmittag gelangte er in ein kleines Bauerndorf. Seine Ankunft erregte
in dem winzigen, aus einfachen strohgedeckten Hütten bestehenden Dorf großes
Aufsehen. Obzwar Peters schöner Anzug schwer beschädigt und verschmutzt war,
konnte man ihm dennoch ansehen, daß er kein gewöhnlicher Landstreicher oder
Bauerntölpel war. Die Leute in dem Dorfe waren einfache und sehr arme Menschen,
dennoch nahmen sie ihn freundlich auf und boten ihm Speis und Trank an.
Umringt
von einer lärmenden, barfüßigen Kinderschar nahm Peter in einem der Häuser,
die meist nur aus ein bis zwei Stuben bestanden, am Küchentisch Platz.
Es
gab ein ärmliches Mahl, das zur Hauptsache aus Bohnen und Kartoffeln bestand.
Alle aßen aus einer Schüssel, nur Peter als Gast erhielt ein eigenes Schälchen
und einen Löffel aus Blech.
Einerseits
genierte er sich, daß er bei den armen Leuten am Tische saß und sie ihr karges
Mahl mit ihm teilen mußten, andererseits wären diese überaus gastfreundlichen
Menschen zutiefst beleidigt worden, hätte er ihre freundliche Einladung
ausgeschlagen; und nicht zuletzt knurrte sein Magen vor Hunger.
Über
eines war Peter sehr froh: niemand erkannte ihn hier und keiner fragte nach
seinem Namen. Er stellte sich daher nur als Reisender vor, der auf einer
Wallfahrt zu einem heiligen Berge war.
Es
war schon seltsam, was für merkwürdige Wendungen das Schicksal nahm. Da saß
der höchste König inmitten unter den ärmsten seiner Untertanen. Aber Peter
war es zufrieden. Um nichts wollte er in diesem Augenblick mit einem der begünstigten
Höflinge tauschen. Er hatte die Nase voll von all den schönen Worten und dem
vornehmen Getue, hinter dem sich meist nur Neid und Intrigen verbargen.
Der
Bauer bot ihm ein Nachtlager an. Da Peter aber kein Mitglied dieser armen
Familie aus seinem Bette vertreiben wollte, nahm er gerne mit einem Strohlager
auf dem Boden vorlieb. In der Vergangenheit hatte er bereits mehrmals mit dieser
Art zu nächtigen Bekanntschaft gemacht, so daß es für ihn durchaus erträglich
war. Zudem schien ihm in seinem derzeitigen Zustande jede körperliche Ungemach
recht eigentlich geeignet, um zu seiner Buße beizutragen.
Durch
den anstrengenden Fußmarsch war er ziemlich erschöpft, so daß er rasch
einschlief. Auch in dieser Nacht erschien ihm das vertraute Bild von der
vergangenen Nacht wieder. Erneut stand er unsichtbar an Alissandras
Krankenlager. Sie sah sehr schwach aus und war leichenblaß. Alles, was sie noch
am Leben zu erhalten schien, war das goldene Amulett Peters, welches Tamina ihm
um den Hals gelegt hatte. Meister Callidon stand neben dem Bett. Sein Gesicht
war sorgenvoll. Tamina stand neben ihm. Ihre Augen sahen rot und verweint aus,
und auch sie wirkte sehr leicht und übernächtigt. Peter konnte nicht hören,
was die beiden miteinander sprachen, aber auf eine Frage Taminas senkte Callidon
den Blick und schüttelte langsam den Kopf.
In
diesem Augenblick verschwand das Bild und wie aus einem dichten Nebel, der sich
allmählich auflöste, erschien der hohe Berg wieder. Dies Mal aber war er dem
Berge viel näher und konnte mehr Details erkennen. Auch die dichte Wolkendecke,
welche den Gipfel verhüllt hatte, war verschwunden. Peter konnte erkennen, daß
sich der Berg kegelförmig nach oben verjüngte und nicht wie erwartet, in einer
Spitze auslief, sondern mit einem flachen, beinahe kreisrunden Hochplateau
endete.
Das
merkwürdigste aber war, daß sich auf der Hochebene nicht ein schneebedeckter
Gletscher, oder eine öde, von niederer Vegetation bedeckte, felsige Fläche
befand, sondern ein üppig grünender, tropisch anmutender Garten, voller
unbekannter Bäume und Pflanzen. Und wieder verspürte Peter eine starke
Sehnsucht nach diesem Ort, welche an seinem Herzen zerrte. Er mußte unbedingt
jenen Berg und Garten finden, dann würde alles gut werden; das fühlte er ganz
deutlich.
Sogar
nach dem Aufwachen am anderen Morgen wirkte jenes intensive Gefühl aus dem
Traum noch nach. Einen Augenblick lang war Peter verwirrt, wußte nicht, ob er
noch träumte oder bereits wach war.
Nach
dem Aufstehen fragte er als erstes den Bauern nach diesem Berge. Aber weder er
noch seine Frau kannten einen solchen Berg. In der Umgebung gab es keine Berge,
nur einige flache, grasbewachsene Hügel.
Auch
die anderen Leute im Dorf konnten ihm nicht weiter helfen. So machte er sich,
nachdem er den gastfreundlichen Landleuten für seine Bewirtung herzlich gedankt
hatte, wieder auf den Weg.
Wohin
sollte er sich nun wenden? Nach Westen nicht, denn in dieser Richtung lag das
Meer, nach Norden auch nicht, denn aus dieser Richtung kam er; also blieben nur
noch der Süden und der Osten. Seine Suche, die unter großem Zeitdruck stand,
war ein hoffnungsloses Unterfangen. Arkanien war ein riesiges Land. Wie sollte
er Tausende von Meilen zu Fuß zurücklegen? Dieser Berg konnte sich überall
befinden. Im Norden gab es eine ausgedehnte Bergkette, im Süden auch und im
Osten lag weit, weit entfernt das unüberwindliche Riesengebirge, von dem es hieß,
es bilde das Ende der Welt. Vielleicht aber lag der gesuchte Ort sogar jenseits
des Gebirges, denn andere Legenden berichteten von einem geheimnisvollen Land
voller Wunder, und hatte nicht sogar Callidon etwas von einer Sternenstadt —
was immer das sein mochte — erzählt? Würde ihm der Kristall helfen können?
Peter besaß das Szepter nicht, sonst wäre alles ganz einfach. Jeden Wunsch hätte
er sich damit erfüllen können. Doch der Blaue Kristall war zu mächtig. Wie
sollte er die Macht des Kristalls nutzen, und wie sie bändigen?
Peter
nahm den Kristall in die Hand und drückte ihn feste. Ein Schauer fuhr ihm über
den Rücken. Er konnte die Macht des Kristalls förmlich spüren. Es war ein
unbeschreibliches Gefühl.
»Wenn
du kannst, dann führe mich zu dem Berg!« flüsterte Peter zu dem Blauen
Kristall in seiner Hand und hielt ihn gegen die Sonne, damit das blaue Feuer
sichtbar wurde.
Täuschte
er sich, oder wies der Kristall tatsächlich in eine bestimmte Richtung? Peter
wog den schweren Stein unentschlossen in der Hand.
Nein,
er hatte sich geirrt. Aber warum funktionierte der Kristall bei ihm nicht?
Tamina hatte er doch auch zu ihm geführt. Peter war am Verzweifeln. Alissandra
lag im Sterben, durch seine Schuld, und er war weit weg und wußte nicht, was
tun.
So
verstaute er den Kristall wieder in der Hosentasche und lenkte seine Schritte
rasch in irgendeine Richtung. Es war gleich, wohin er ging, Hauptsache, er blieb
nicht stehen.
Er
durfte sich nicht aufgeben. Jetzt war er ganz auf sich allein gestellt. Er mußte
das Kunststück fertigbringen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpfe zu ziehen.
Dieser
Berg aus seinem Traum, was hatte es damit auf sich? Wie könnte er Alissandra
retten, wenn er dorthin gelangte? Und wieviel Zeit blieb ihm noch. Alissandra
hatte so schlecht ausgesehen, daß es ihm jedesmal einen heftigen Stich ins Herz
gab, wenn er sich das traurige Bild vor Augen führte.
Peter
wanderte durch ein trockenes, unfruchtbares Flußtal, der Boden war hart und
steinig und taugte zu keiner Kultur. Lediglich Schafe und einige magere Rinder
weideten auf den flachen Hängen. Zuweilen standen dürre Bäume in kleinen
Gruppen beisammen, manchmal erstreckte sich auch ein kleiner Wald über eine
ganze Hügelkuppe.
Nach
einigen Stunden gelangte Peter an einen Flußlauf, dem er folgte. Er führte ihn
in ein grünes, fruchtbares Tal. Die Weiden waren saftig und grün und allerorts
sah er schwarz-weiß gescheckte Kühe weiden. Die meisten Felder waren gerade
abgeerntet worden, auf anderen stand noch das Wintergetreide. Auf den Südhängen
einiger steiler Hügel lagen Rebberge, in denen hurtige Weingärtner bei der
Lese waren. Es war ein friedlicher, wohlgefälliger Anblick.
Allein
Peter hatte keinen Blick für die liebliche Landschaft. Seine ganze
Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, während er die meiste Zeit mit
gesenktem Haupte fürbaß schritt. Gelegentlich führte ihn sein Weg durch ein
Dorf, wo er die ersten besten Leute nach dem Berge fragte. Indes wohin er auch
kam, wen immer er fragte, keiner wußte Bescheid, niemand konnte helfen. Die
Menschen waren ihm gegenüber alle sehr freundlich und mitfühlend. Obzwar sie
ihn nicht als ihren König, oder Regenten, oder Diktator, oder was auch immer
seine Funktion noch war — hatte er überhaupt noch eine? — , erkannten, so
merkten sie demungeachtet sogleich, daß ein schwerer Kummer den jungen Mann in
der zerschlissenen Kleidung eines Edelmannes bedrückte.
So
sinnlos seine verzweifelte und wenig fruchtbare Suche auch war, ließ Peter sich
nicht davon abbringen, alle seine Kraft und Energie daran zu setzen, den Berg
seiner Träume zu finden. Bis zum letzten Atemzuge wollte er vorwärts schreiten
und nicht ruhen, ehe er an seinem Ziele angelangt wäre.
Mittlerweile
war es ihm ganz gleich, ob er jemals König würde; im Gegenteil, die Lust am
Herrschen war ihm gründlich vergangen. Wenn es ihm gelingen sollte, Alissandra
zu retten, würde er sich irgendwo abseits der Hauptstadt niederlassen und
irgend einer einfachen Beschäftigung nachgehen. Nach dem Sieg über Tiras und
der Befreiung durch die Rebellenarmee, würde sich bestimmt jemand geeignetes
finden, der das Land befrieden und es klug regieren könnte. warum nicht Wilo
oder Alissandra als König oder Präsident, oder was immer für eine Regierung
man einrichten würde?
Und
wenn Alissandra nicht durchkäme? Peter wagte kaum daran zu denken. Aber in
diesem Falle war er fest entschlossen, sich den Rebellen zu ergeben. Sollten
jene darüber befinden, was aus ihm werden solle. Ohne Alissandra wäre für ihn
ohnehin alles aus. Wie könnte er weiter leben, womöglich gar als Herrscher, in
dem Bewußtsein, seine geliebte Alissandra getötet zu haben?
Was
mochte aus Kalorim und Verdel geworden sein? Obgleich die beiden eigentlich an
allem Schuld waren, fühlte Peter erstaunlicher Weise keinen Haß auf die
beiden. Er war mehr über sie selber wütend, weil er sich so arglos und selbstsüchtig
auf die finsteren Pläne der beiden eingelassen hatte. Wenn er nur ein klein
wenig wachsamer gewesen wäre, hätte er das falsche Spiel der beiden leicht
durchschauen können. Aber hatte er dies auch wirklich gewollt?
War er nicht vielmehr so sehr mit seinem Schmerz und Selbstmitleid aus gekränktem
Stolz beschäftigt gewesen, daß er vor lauter Zorn und Rachegelüsten seine
einstige Geliebte am Ende zu hassen begonnen hatte? Wie hatte er jemals
ernsthaft daran glauben können, daß ein Mädchen wie Alissandra zu einem
derart niederträchtigen Verrat fähig wäre? Nein, er hätte es wissen müssen, daß sie ihn nicht aus freien Stücken verraten
hatte.
Ja,
jetzt war alles so klar und logisch; aber jetzt war es zu spät für diese
Erkenntnis. Alles war verdorben und vorbei. Selbst wenn Alissandra wieder genäse,
was er sich mehr als alles andere auf der Welt wünschte, so wäre es nun endgültig
aus zwischen ihnen beiden.
Peter
zog die Nase hoch. Der Gedanke an Alissandra tat so unendlich weh.
»Warum
hilfst du mich nicht?« schrie er den Blauen Kristall in seiner Hand an. Doch
der Kristall funkelte ihn nur kalt und blau an.
An
diesem Tage legte Peter noch viele Meilen zurück, ohne sich einmal umzusehen
und ohne die geringste Spur des Berges zu finden.
Als
die Nacht hereinbrach, fand Peter in einer Feldscheune Unterschlupf. Er legte
sich sogleich zum Schlafen nieder. In dem mit Heu und Strohballen
vollgepfropften Holzschuppen hätte er ohnedies kein Licht anzünden dürfen.
Voller
Ungeduld wartete er darauf, daß er endlich einschlief, um den teuren Traum
wieder zu träumen. Aber auf diese Art funktionierte das natürlich nicht. Wenn
man versucht, den Augenblick des Entschlummerns bewußt wahrzunehmen, dann schläft
man überhaupt nicht ein. Das wußte auch Peter, aber so sehr er sich auch bemühte,
wollte es ihm einfach nicht gelingen, den Kopf leer zu bekommen. So lag er
mehrere Stunden und wälzte sich von der einen auf die andere Seite.
Erst
nach Mitternacht wurde er ruhiger. Vor seinem inneren Auge begannen sich
mannigfaltige Gestalten abzuzeichnen. Langsam fing ein Bild an deutlicher zu
werden und den bunten Reigen von Formen und Farben zu verdrängen. Es war das
bekannte Bild des einsamen Berges. Der Berg kam näher, oder er näherte sich
dem Berge — das konnte er nicht genau unterscheiden. Immerhin konnte er jetzt
vieles deutlicher sehen. Es war ihm beinahe so, als kenne jede Felsspalte, jede
Klamm, jeden Sims. wenn er dem Berge leibhaftig gegenüberstände, so wäre er
bestimmt in der Lage ihn zu erklimmen.
Der
Garten auf dem Gipfelplateau kam immer näher. Peter konnte jetzt erkennen, daß
er von einer hohen, glatten Mauer umgeben war, die eine so perfekte, glatte,
beinahe wie poliertes Metall glänzende Oberfläche aufwies, daß sie tatsächlich
aus Metall sein konnte. Trotzdem — und das war das merkwürdige — konnte
Peter nicht erkennen, was für eine Farbe das Material besaß. Es war hell und
schimmerte mattglänzend..
Auf
einmal erschien ein hohes Gittertor. Es war vergoldet, denn es glänzte hell und
gleißend im Sonnenschein. Das Tor stand halb offen, so daß Peter
hindurchtreten konnte. Ob er es tatsächlich passierte, konnte er nicht sagen.
Auf jeden Fall stand er plötzlich mitten im dem Garten.
Der
Garten war von einiger Ausdehnung, so daß er dessen Begrenzungsmauer nicht
sehen konnte. Überall wuchsen leuchtend bunte Blumen und helles grünes Gras.
Ein breiter Pfad führte geradeaus in das Zentrum des Gartens. Dort stand mächtig
und alles überragend ein riesiger, uralter Baum. Er war von einer unbekannten
Art. Sein Stamm schien aus reinem Golde zu bestehen, genau so wie die dicken
runden Früchte, welche zwischen sattgrünen, länglichen Blättern glühten.
Sie hatten die Größe und Gestalt von Apfelsinen. Der Anblick dieses Baumes
erweckte ein grenzenloses Gefühl in Peters Herz. Er fühlte wieder, doch jetzt
tausendmal stärker diese Sehnsuchtsfreude, die sein Herz und seine Seele erfüllte.
Dieser Baum versprach Erlösung.
Er
sah sich auf den Baum zu gehen und an seinem Fuße niederknien. In seiner Hand
lag der Blaue Kristall. Er nahm den Kristall in die rechte Hand, dergestalt, daß
das spitze Ende heraus ragte. Mit einer langsamen, kräftigen Bewegung drückte
er die Spitze in die Rinde des goldenen Baumes und fuhr einige Zentimeter herab.
Ein schmaler Schnitt tat sich auf. Aus der Wunde fiel ein gleißender goldener
Lichtstrahl. Aus der Kerbe floß ein dünner, milchiger Saft. Kaum benetzte der
erste Tropfen dieser Flüssigkeit Peters Hand, da wurde er von allem Schmerz und
Kummer geheilt. Das Bild verschwamm vor seinen Augen.
Aus
dem bunten Schleier verschwimmender Farben und Gestalten löste sich ein neues
Bild. Es war Alissandras Krankenlager. Noch immer lag sie siech mit
geschlossenen Augen da. Ihr Gesicht war eingefallen, die Augen von Schatten
umrandet, das lange braune Haar war stumpf und hatte den einstigen lebendigen
Glanz verloren. Tamina, die neben dem Bette kniete, wandte um sich zu Callidon,
der hinter ihr stand.
Zum
ersten Male konnte Peter ihre Worte vernehmen. Sie fragte leise und mit bebender
Stimme: »Wie lange noch, Meister Callidon?« Callidon hielt den Blick gesenkt
und schwieg. Nach einiger Zeit sagte er endlich: »Nicht mehr lange, Tamina,
Tage, vielleicht auch nur Stunden.«
Tamina
drehte den Kopf zu Seite. Sie sagte nichts, nur eine stumme Träne rann über
ihre Wange, während sie sich auf die Lippen biß.
Peter
durchfuhr ein heißer Schrecken. Das Traumgesicht verlosch und mit heftigem
Herzklopfen und dicken Schweißperlen auf der Stirn erwachte er.
Durch
die Ritzen der Bretterwände fiel heller Sonnenschein herein. Peter stand auf.
Er war von den Traumgesichten noch ganz aufgewühlt. Die Zeit war abgelaufen.
Heute mußte es geschehen, um jeden Preis!
Er
lief hinaus ins Freie. Mitten auf dem Feld blieb er stehen. Er zog den Blauen
Kristall hervor und hob ihn in der rechten Hand empor, hielt ihn hoch über
seinen Kopf.
»Kristall!
Ich befehle dir, deine Macht einzusetzen und mich zu dem Berg mit dem goldene
Baum zu befördern!« rief er laut.
Ein
starkes Kribbeln fuhr durch seine Hand und seinen Arm. Er richtete erneut das
Wort an den Kristall: »Als dein Herr und Meister befehle ich dir: Bringe mich
an den Ort! Gehorche endlich, im Namen des Königs von Arkanien!«
Was
darauf geschah, geschah unheimlich schnelle. Ein Blitz tauchte alles in
blendendes blauweißes Licht. Ein sengendes Feuer fuhr durch Peters Arm in
seinen Leib. Die Erde erbebte und dort, wo Peter stand, tat sich eine tiefe
Kluft auf. Blitze spieen vernichtendes Feuer in alle Richtungen, entzündeten
das trockene Gras und fällte alle Bäume in der Umgebung von über hundert
Metern. Aber davon bekam Peter nichts mehr mit.
Er
hatte die Macht des Blauen Kristalls entfesselt, ohne das Szepter zu benutzen.
Als die Blitze erloschen und der Donner verhallt war, blieb von dem Feld, auf
dem Peter sie eben noch befunden hatte, nichts mehr übrig. Eine dreihundert
Meter lange und über zwanzig Meter tiefe Erdspalte klaffte mitten in der verwüsteten
Landschaft auf. Im Umkreis von einigen hundert Metern war der Erdboden schwarz
verbrannt und alle Vegetation vernichtet. Bäume lagen entwurzelt oder einfach
abgeknickt wie Streichhölzer kreisförmig um den Ursprung der Kraft am Boden.
Überall rauchte und schwelte es. Glücklicher Weise befanden sich keine Häuser
und keine Menschen in der Nähe, so daß niemand verletzt wurde. Aber in allen
umliegenden Dörfern fielen die Bilder von den Wänden, barsten Fensterscheiben
und wurden Mensch und Vieh durcheinandergerüttelt und in größten Schrecken
versetzt. Nicht wenige glaubten, das Ende der Welt sei gekommen und stürzten
schreien und mit gen Himmel erhobenen Händen aus ihren Häusern.
Wo
aber war Peter abgeblieben?
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