Mit knapper Not
Joshi sah seinen Kameraden mit großen Augen an. Der Android war offensichtlich viel stabiler, als sie es für möglich gehalten hatten. Andererseits war ein Sturz aus dem vierzehnten Stock trotz der Wäschesäcke unten nicht so leicht abzufedern. Wie also hatte er es geschafft, heil unten anzukommen? Und warum war der Wäschewagen nicht beschädigt? Immerhin wog der ARCON gute vier Zentner.
»Wir müssen vorsichtig sein. Der lauert uns bestimmt hier irgendwo auf«, sagte Jokai leise und nahm den TED zur Hand.
Sie gingen durch die menschenleeren Räume im Kellergeschoß. Um diese Zeit wurden die Waschküche, die Trocken- und Bügelräume nicht benutzt. Das Personal hatte längst seinen verdienten Feierabend angetreten. Auf dem Gang, unter dessen Decke unzählige Rohrleitungen hingen, vernahmen sie leise Stimmen.
»Dort ist eine Treppe«, sagte Yoshi und deutete auf eine schlecht beleuchtete Betontreppe, welche hinab in das zweite Untergeschoß führte.
Yoshi ging voraus und blieb vor der ersten Stufe lauschend stehen.
»Ich glaube, dort unten ist jemand«, sagte er leise.
»Was machen wir, wenn es jemand vom Personal ist?« fragte Jokai.
»Den schicken wir mit dem TED schlafen«, erwiderte Yoshi unzimperlich.
»Der wirkt doch nicht auf die Typen«, meinte Jokai trocken. Aber irgend etwas würde ihnen bestimmt einfallen. Zur Not tat es vielleicht auch eine einfache Ausrede.
Hintereinander stiegen sie die Treppe hinab. Das zweite Untergeschoß sah noch trostloser aus. Verglichen mit dem Prunk und Luxus der den Gästen offen stehenden Räume war dies ein Unterschied wie Tag und Nacht. Staubige Neonleuchten am oberen Ende der Wände spendeten in weiten Abständen kaltes Licht. Wände und Fußböden bestanden aus nacktem, grauem Beton. Überall waren Rohrleitungen und elektrische Kabel zu sehen. Außerdem herrschte ein strenger Geruch, der sich mit jedem Schritt, den die beiden auf dem schmalen Gang voranschritten, verstärkte.
Am Ende des Ganges befand sich eine nicht ganz geschlossene doppelflügelige Eisentür.
»Puh! Was für ein Gestank!« sagte Yoshi und rümpfte die Nase.
Kaum hatten sie die nur angelehnte Tür aufgestoßen, sahen sie, daß sie nicht allein waren. In einer Ecke des Raumes stand der ARCON, der augenscheinlich mit sich selber beschäftigt war. Der Raum, in dem sie sich jetzt befanden war nicht sonderlich groß. An der einen Wand standen in Reih und Glied mehrere große Müllcontainer. Ein Lastenaufzug diente dazu, die Container nach oben zu befördern wo sie vermutlich auf einem Hinterhof wieder zum Vorschein kämen, um dort von der Müllabfuhr mitgenommen zu werden. In der anderen Ecke befand sich etwas, das auf den ersten Blick, wie eine geschlossene Abfallmulde aussah; es war eine hydraulische Müllpresse. Daneben befand sich eine weitere Abfallmulde, sie war nach oben offen. Direkt darüber hing eine offene Metallröhre von etwa einem halben Meter Durchmesser. Hier landeten die Müllsäcke, welche aus den oberen Stockwerken in die Müllschlucker geworfen wurden.
Jokai hatte kaum Zeit, den TED in Anschlag zu bringen, als der ARCON von seiner Reparatur abließ — offenbar war er auch in diesem Zustand — aus seinem linken Arm ragten einige Drähte und feine Schläuche heraus — funktionsfähig — und sich unverzüglich auf die beiden Sternenkrieger stürzte.
Jokai feuerte den TED ab, aber auf die Entfernung von mehr als drei Metern war er wirkungslos. Der Android machte einen gewaltigen Satz nach vorn und hieb mit der Faust nach Jokais Arm. Jokai wich zur Seite, während Yoshi den Androiden von hinten anging und versuchte, den Schalter unter dem Arm des ARCON zu finden, mit dem er sich abschalten ließ. Leider hatte der Android, wenn auch keine Augen, so aber empfindliche Sensoren am Hinterkopf, so daß er die Annäherung wahrnahm und den Angreifer geschickt abfing und über die Schulter nach vorn schleuderte. Yoshi stieß einen leisen Schrei aus, mehr vor Überraschung, als vor Schmerz, denn er landete verhältnismäßig weich in der Mulde der Abfallpresse.
Als Yoshi versuchte, aus der Mulde herauszuklettern, glitt er aus und rutschte bäuchlings ein Stück tiefer in den Schlund des rot lackierten stählernen Ungetüms hinein, dabei löste er unbeabsichtigt den Mechanismus aus, der die Presse in Gang setzte.
»Jokai! Hilf mir!« rief er verzweifelt, als er merkte, wie sich eine gewaltige Schaufel von oben über die Öffnung der Mulde senkte. Diese Stahlschaufel würde die halbrunde Mulde ausschaufeln und ihren Inhalt in das Innere der Maschine befördern, wo es zuerst von zwei mächtigen mit blitzenden Metallzähnen bewehrten Walzen zerkleinert und anschließend in kompakte Würfel gepreßt würde.
Sein Freund konnte ihm leider nicht zur Hilfe kommen, denn der ARCON stand zwischen der Abfallpresse und Jokai. Mit schreckgeweiteten Augen mußte er mitansehen, wie sein Freund verzweifelt versuchte, aus der glatten von feuchten Abfällen glitschigen Mulde herauszuklettern versuchte, während sich von oben langsam, aber unerbittlich die Schaufel herab senkte. Bald würde sie die Öffnung ganz verschlossen haben.
Jokai mußte alles auf eine Karte setzen. Er stieß das linke Bein hoch in die Luft und trat nach dem Kopf des Androiden. Dieser wich dem Tritt aus, in dem er einen Satz nach hinten machte. Jokai sprang zu Seite. Mit der Fußspitze trat er nach dem dicken roten Schalter an der Seite der Maschine. Die Schaufel blieb stehen.
Jokai nutzte die kurzzeitige Verwirrung des Androiden und verpaßte ihm mehrere Salven aus dem TED direkt ins Gesicht. Der ARCON geriet ins Taumeln. Sein Orientierungssinn schien beschädigt. Unsicher lief er in dem Raum herum, wobei er von einer Wand zur anderen torkelte.
Einen Augenblick lang war Jokai unschlüssig, ob er dem Androiden den Rest geben, oder seinen Kameraden aus seiner mißlichen Lage befreien sollte. Er entschied sich, gegen die Vorschriften zu handeln und sich zuerst um Yoshi zu kümmern, derweil der ARCON langsam wieder an Kräften gewann und im Begriffe war, seine internen Schaltkreise neu zu ordnen und die beschädigten Teile kurzzuschließen.
»Schnell! Hilf mir, Yoshi! Wir müssen ihn besiegen, solange er noch angeschlagen ist.«
Jokai gab dem Androiden einen Tritt gegen die Brust, der ihn einige Schritte rückwärts stolpern ließ. Yoshi hatte auf der Suche nach einer geeigneten Waffe nichts anderes als den blechernen Deckel einer Mülltonne gefunden, den er wirkungsvoll einsetzte.
Mit gemeinsamer Anstrengung gelang es den beiden, den Androiden zurückzuschlagen, bis er gegen die Einfüllmulde der Abfallpresse stieß. Jokai nahm zwei Schritte Anlauf, sprang in die Luft und stieß mit beiden Füßen gegen den ARCON. Dieser verlor das Gleichgewicht und kippte rücklings in die Mulde.
Geistesgegenwärtig drückte Yoshi den grünen Knopf. Die Schaufel setzte sich in Bewegung. Der ARCON gab ein wütendes Grunzen von sich, als die Schaufel sich über den Rand der Mulde senkte. Der Motor der Presse heulte auf und aus dem Inneren der Maschine drang ein scheußliches Krachen und Rattern, die Schaufel blieb einen Augenblick lang stehen, dann senkte sie sich ganz hinab und fuhr daraufhin langsam wieder in die Höhe; die Mulde war leer. Mit einem dumpfen Poltern kam die Maschine zum Stillstand.
»Na also! das hätten wir geschafft!« rief Yoshi und klatschte in die Hände.
Von draußen ließ sich eine Stimme vernehmen: »Was zum Teufel ist hier unten los? Wer hat um diese Zeit die Müllpresse eingeschaltet?«
Als der Angestellte den Müllraum betrat, fand er niemanden vor. Kopfschüttelnd ging er hinaus und schloß die Tür hinter sich ab.
Die beiden Sternenkrieger, die sich im Lastenaufzug versteckt hatten, atmeten auf. Der Aufzug ließ sich leicht bedienen, und so standen die beiden wenig später auf dem düsteren, mit Mülltonnen und leeren Weinkisten vollgestellten Hinterhof. Während Yoshi um einen Augenblick zu verschnaufen, sich auf eine der leeren Holzkisten mit der Aufschrift Champagne, France — was immer das bedeuten mochte — setzte, griff Jokai nach dem Funkgerät.
Kirina schlug die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, wo sie sich befand. Sie versuchte aufzustehen, aber aus irgend einem Grund versagten ihre Beine. Sie hatte höllische Kopfschmerzen und konnte ihre Umgebung nur wie durch einen dichten Nebelschleier sehen.
»Kirina, endlich bist du aufgewacht! Wie geht es dir? Du bist endlich die Psyllion los und alles wird wieder gut werden«, sagte Nick, der neben ihr saß und ihre Hand festhielt.
»Was ist geschehen?« fragte sie mit brüchiger Stimme. Sie versuchte sich aufzurichten, aber sogleich verstärkten sich ihre Kopfschmerzen und ein unangenehmes Schwindelgefühl gesellte sich hinzu. Ärgerlich über ihr Unvermögen kniff sie die Augen zu und kämpfte mit aller Kraft gegen den Schwindel an.
»Ich muß die Psyllion beschützen und sie dem Doktor bringen«, murmelte sie nachdenklich.
»Nein, Kirina! Das mußt du nicht mehr. Der Doktor hat keine Macht mehr über dich. Hörst du?« sagte Nick. Er wollte seinen Arm um ihre Schulter legen, aber sie wehrte ihn ab.
»Nein! Der Doktor ist mein Meister. Ich muß ihn suchen.«
Nick wußte nicht, wie er ihr helfen könnte. Die Psyllion hatte zwar ihren Körper verlassen, aber das Gift und die Suggestionen des Doktors wirkten offenbar noch immer. Unruhig sah er auf die Uhr. Wo die anderen nur blieben. Kirina mußte so schnell wie möglich in die Obhut eines guten Arztes gebracht werden. Aber wie sollten sie sie aus dem Hotel herauskommen?
Nick war so in seine Gedanken versunken, daß er die leisen Tritte auf der Treppe nicht wahrnahm. Erst, als sich ihm von hinten tappende Schritte näherten, drehte er sich langsam um, in der Erwartung, Robert oder einen der Sternenkrieger zu sehen. Ungleich größer war seine Überraschung, oder besser, seine Bestürzung, als er feststellen mußte, daß es sich um Dr. Pillar handelte, der sich drohend hinter ihm aufgebaut hatte.
Nick starrte den Doktor an, unfähig, einen Finger zu rühren. Wie hatte er den nur vergessen können?
Pillar hielt einen TED in der Hand, von dem er aber inzwischen wußte, daß er keinen Menschen damit verletzen konnte. Nick hätte sich ohrfeigen können, bei dem Gedanken, daß hier irgendwo eine geladene Pistole herumlag. Warum hatte er sie vorhin nicht gesucht und aufgehoben? Aber jetzt war es zu spät, sich Vorwürfe zu machen.
Pillar ging um ihn herum auf Kirina zu. In dem gewohnten schneidenden Befehlston fuhr er sie an: »Kirina! Wo sind die Psyllion? Ich habe dir befohlen, sie in Sicherheit zu bringen!«
Er packte sie am Arm und zerrte sie unsanft auf die Beine. Nur mit Mühe konnte sie sich aufrecht halten. Pillar betrachtete sie eingehend. Dann, als er den Grund für ihren Zustand erkannte, fluchte er leise zwischen den Zähnen.
Nick wollte Kirina zu Hilfe kommen, aber der Doktor stieß ihn brutal zu Boden. Beim Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, sah Nick in der Dunkelheit etwas glänzen. Auf allen Vieren kroch er darauf zu. Es war die Pistole, welche Kirina zuvor in dem Handgemenge verloren hatte. Nick schnappte sich die Waffe, ohne Zeit damit zu verlieren, sich davon zu vergewissern, daß sie auch geladen und funktionsbereit war. Er hätte damit auch einige Schwierigkeiten gehabt, denn es war das erste Mal, daß er eine Schußwaffe in Händen hielt.
Die kühle, schwere Waffe in seiner Hand verlieh im ein Gefühl von Stärke und Macht; gleichzeitig aber empfand er eine gewisse Furcht vor dem Mordgerät.
»Lassen Sie Kirina los, Pillar!« befahl Nick und zielte auf den Doktor. Dieser schien einen Augenblick lang verblüfft, gewann aber rasch seine Fassung wieder und hielt Kirina wie einen Schild vor sich.
»Wenn du schießt, wird sie es als erste zu spüren bekommen«, sagte er hämisch und zerrte das entkräftete Mädchen mit sich zum Rand des Daches.
»Geben Sie auf, Pillar. Sie haben keine Chance zu entkommen. Die anderen werden bald wieder zurückkehren.«
»Vorher wirst du mir die Pistole geben«, erwiderte Pillar ungerührt.
»Wie käme ich dazu?« fragte Nick und trat einen Schritt näher an die beiden heran.
»Weil sonst jemand einen Abflug von hier machen wird«, lautete die schreckliche Antwort. Pillar faßte Kirina um die Taille und schwang sie über den Rand der niederen Betonbrüstung.
Nick wurde bleich. Kirina saß jetzt auf dem schmalen Rand der Brüstung mit den Beinen nach außen. Ein kleiner Schubs würde genügen, um sie gute fünfzig Meter in die Tiefe zu befördern.
Kirina sah hinab. Unter sich konnte sie ganz klein und unwirklich die Lichter der Straße erkennen. Sie verspürte keine Furcht, nicht ein bißchen. Vielmehr nahm sie alles mit einer gewissen reservierten Neugier wahr, als wäre das nicht sie, die es betraf, sondern irgend jemand anderer, wie in einem Film. Sie kam nicht auf die Idee zur Gegenwehr. Ihre Willenskräfte waren noch immer wie gelähmt. Irgendwie war die Situation sogar komisch. Unwillkürlich mußte sie anfangen zu kichern.
»Kirina! Paß auf!« schrie Nick.
»Ja! Das Spiel ist aus, Pillar!« erscholl die Stimme von Robert.
Nick drehte sich um und sah seinen Freund und die drei Sternenkrieger mit gezogenen Waffen im Halbkreis hinter sich stehen.
Pillars Gesicht war von Wut und Enttäuschung verzerrt. Er erkannte, daß es für ihn keinen Ausweg mehr gab. Aber er wollte sich nicht einfach ergeben, das wäre unter seiner Würde. Diese jungen Sternenkrieger, waren keine würdigen Gegner für ihn. Aber einen letzten Triumph wollte er noch auskosten.
»Ihr habt mich, das sehe ich ein. Aber ich will dafür Sorgen, daß ihr euren Sieg teuer bezahlen müßt!« schrie er.
Jokai und Nick drückten fast gleichzeitig ab. Nicks Pistole ging nicht los. Aber Jokais TED verfehlte sein Ziel nicht. Als Pillar spürte, wie er getroffen wurde, nahm er alle verbleibende Kraft zusammen und versetzte Kirina einen Stoß in den Rücken, dann sank er bewegungsunfähig zu Boden. Kirina aber verschwand ohne einen Laut von sich zu geben über der Brüstung.
Nick und Robert schrien auf. Sie wollten hinlaufen, aber Naru hielt sie zurück.
»Nein, schaut euch das lieber nicht an«, sagte sie tonlos. Jokai und Yoshi hielten die Köpfe gesenkt. Keiner sprach ein Wort. Über der ganzen Szene lag eine unheimliche Totenstille.
Endlich griff Jokai nach dem Kommunikator. Er rief die Besatzung des Raumgleiters in der Umlaufbahn.
»Gib ihnen unsere Position durch und sage, daß Kadett Kirina Aina im Einsatz gefallen sei«, sagte Naru. Sie nahm die beiden Jungen an der Hand und führte sie zur Treppe.
»Setzt auch da hin. Den Rest werden wir erledigen.«
In Nicks Augen glänzte es feucht, während Robert die Tränen über beide Wangen liefen.
Warum mußte es nur so enden? Alles schien gut zu werden: der ARCON besiegt, die Psyllion unschädlich gemacht, Kirina von dem Parasiten befreit, und jetzt… Robert verbarg sein Gesicht in den Händen. Nick legte den Arm und die Schultern seines Freundes. Er hatte sich nie vorstellen können, jemanden zu töten, aber in diesem Augenblick wünschte er sich, daß die Pistole losgegangen wäre und er das Scheusal von Pillar zum Teufel befördert hätte.
Nick zuckte zusammen, als er Narus Hand auf seiner Schulter spürte.
»Bald wird Verstärkung kommen, um den Doktor und die Psyllion abzuholen. Sie werden uns hier vom Dach abholen«, sagte sie.
»Was wird aus Kirina?« fragte Nick leise.
Naru zögerte, dann sagte sie langsam: »Wir können sie nicht mitnehmen. Dann würde unsere Tarnung auffliegen.«
»Aber man wird heraufkommen, um Nachforschungen anzustellen. Ich wundere mich ohnehin, daß bis jetzt noch jemand aufgetaucht ist«, erwiderte Nick.
»Nein! Ich halte das nicht aus. Ich will sehen, was los ist!« rief er und sprang auf. Er lief zur Brüstung und beugte sich hinüber. Obwohl er große Höhen nicht mochte, zwang er sich den Blick nach unten gleiten zu lassen. Mit beiden Händen hielt er sich an der Brüstung fest und starrte hinab.
»Mein Gott!« schrie er plötzlich. Robert sprang auf die Füße und lief herbei. Gemeinsam starrten sie in die Tiefe.
»Was ist?« Die drei Sternenkrieger kamen herbei.
»Da unten liegt niemand. Und außerdem geht es nicht direkt hinunter auf die Straße, sondern auf eine breite Terrasse«, rief Nick erstaunt.
»Das Restaurant«, sagte Robert entgeistert. »Kirina lebt. Sie muß auf der Markise über der Terrasse gelandet sein. Die hat ihren Sturz abgefedert. Dann ist sie hinunter gerutscht.«
»Das muß ich sehen!« rief Nick. Die fünf starrten einander fassungslos an. Auf ihren Gesichtern, welche eben noch von Schmerz und Trauer über den Verlust ihrer Kameradin gezeichnet waren, stand eine ungeheure Erleichterung geschrieben.
Auf dem Weg in das untere Geschoß, drang eine wildes Geschrei und Stimmengewirr an ihre Ohren. Sie vernahmen das hysterische Kreischen von Frauenstimmen und das entsetzte Brüllen der Männer. Der Lärm kam aus dem Restaurant.
Kaum hatten sie den Treppenabsatz erreicht, als die Tür zum Notausgang aufflog und eine Horde hysterischer Menschen in kopfloser Panik nach unten rannte. Manche strauchelten und stürzten. Einige versuchten, die Gestürzten wieder aufzurichten, andere trampelten über sie hinweg.
Die Sternenkrieger konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen, indem sie zurück nach oben gingen. Vom oberen Treppenabsatz aus beobachteten die fünf die Geschehnisse unten.
»Was ist da los?« fragte Nick.
»Vielleicht ein Feuer«, mutmaßte Robert.
»Unsinn!« meinte Nick, »dann müßte man doch etwas riechen und der Feueralarm wäre auch losgegangen.«
Der dichte Pulk von Menschen hatte das Restaurant verlassen, als die fünf durch die weit offen stehende Tür des Notausganges in das menschenleere Lokal traten.
Ihren Augen bot sich ein Anblick der Verwüstung: Tische und Stühle lagen umgeworfen auf dem Boden, Besteck und Geschirr lag zerbrochen auf dem Fußboden, edle Speisen und penetrant riechende Pfützen von Wein, Champagner und anderen edlen Getränken verunreinigten den dunkelroten Teppichboden. Es sah aus wie nach einer Schlacht.
»Was ist hier gesehenen?« fragte Naru. Die Sternenkrieger zogen ihre Waffen. Ein ohrenbetäubendes Scheppern und Poltern drang aus der Küche.
»Robert, Nick! Ihr bleibt hier!« befahl Jokai. Er stieß die Flügeltür zur hell erleuchteten, weiß gekachelten Küche auf. Yoshi und Naru stürzten mit den TEDs im Anschlag hinein, Jokai hinterher.
»Das gibt es doch nicht!« hörten Nick und Robert Yoshis Stimme aus der Küche. Vorsichtig stießen sie die Schwingtür ein Stück weit auf und spähten hinein.
Es bot sich ihnen ein schier unglaublicher Anblick: Die Küche bot ein Bild der Verwüstung. Aus den Kochstellen züngelten leuchtende Gasflammen in die Höhe, Töpfe, Pfannen und Küchengeräte lagen durcheinander auf den Tischen und auf dem Fußboden, die Wände waren mit Essensresten beschmutzt, Fleisch und Gemüse lagen neben Abfällen und leeren Verpackungen. Arbeitsschürzen und Kochmützen lagen dort, wo ihre Besitzer sie auf der Flucht weggeworfen hatten.
Inmitten dieses Durcheinanders befanden sich Kirina und der ARCON, mitten im Kampf. Kirina wirkte noch immer etwas angeschlagen, schien aber wieder ein gut Teil ihrer alten Form wieder gefunden zu haben. Der ARCON hingegen sah schrecklich aus. Seine äußere, menschlichem Gewebe nachempfundene Hülle war größtenteils zerstört und hing in blutigen Fetzen herab. Darunter kamen stählerne Streben und Gelenke, Kabel, Schläuche und Drähte zum Vorschein. Ein Teil seines Brustkorbes war eingedrückt und aus dem linken Bein tropfte eine milchige Flüssigkeit. Sein linker Arm hing nur noch an einigen Drähten und Kabeln und war von ihm nicht mehr zu gebrauchen. Der Kopf hatte nichts menschliches mehr: Dort, wo sich zuvor die Augen befunden hatten, sah man jetzt dunkle, halbdurchsichtige Glasbälle, ein Teil seiner Zähne waren abgebrochen und unter den weißen Keramikkappen kamen die stählernen Zahnhälse zum Vorschein.
»Der sieht ja zum Fürchten aus«, murmelte Nick, während Robert bei diesem Anblick unwillkürlich einen Schritt zurück wich. Bislang hatte er den ARCON immer als eine Art von Mensch betrachtet, obwohl er natürlich wußte, daß er es mit einer Maschine zu tun hatte, jetzt aber empfand er nur noch Schrecken und Abscheu vor diesem grotesken mechanischen Monstrum. Jetzt verstand er, warum die Menschen in heller Aufregung Hals über Kopf geflohen waren. Unter gewöhnlichen Umständen, hätte er vermutlich genau so gehandelt.
Kirina war eigentlich mehr auf der Flucht, als daß sie richtig kämpfte, denn der ARCON besaß noch immer den Photonenstrahler, von dem er gelegentlich Gebrauch machte. Allerdings mußte er vorsichtig sein, denn die blankpolierten, Chromstahlflächen, von denen es in der Küche nicht wenige gab, sowie die glänzenden Küchengeräte, machten den Einsatz der Strahlenwaffe gefährlich, da sie den Strahl ablenken oder teilweise sogar reflektieren konnten. Kirina war unbewaffnet und mußte, ohne ihre schützende Kampfuniform, ihre Gegenwehr darauf beschränken, sich geeignete Wurfgeschosse zu suchen. Die scharfen Küchenmesser erwiesen sich als denkbar ungeeignet zum Werfen; und zustechen konnte man damit auch nicht, da einerseits die Klingen dafür nicht stabil genug waren und andererseits die Gefahr bestand, einen starken Stromschlag zu erhalten, wenn man eine der Energieleitungen des Androiden traf.
»Kirina, du lebst noch?« war alles, was Naru herausbrachte, als sie ihre Kameradin sah.
»Ja, aber nicht mehr lange, wenn ihr den ARCON nicht bald ausschaltet«, rief Kirina zurück und warf sich zu Boden, als ein Strahl an der Stelle in die Wand fuhr, wo sich gerade ihr Kopf befunden hatte.
»Hier! Nimm den!« rief Naru und warf Kirina ihren TED zu. Jokai und Yoshi beschlossen, den ARCON von zwei Seiten anzugehen.
Der Android, der auf einem Auge blind zu sein schien, denn er wandte den Kopf Yoshi zu, ignorierte aber Jokai, der sich ihm von der anderen Seite näherte, marschierte auf Kirina los. Sie benutzte den TED, aber das Gerät wirkte nicht. Vielleicht ging der Energievorrat zur Neige oder der ARCON hatte seine Schaltkreise so verändert, daß die Wirkung des TED nicht mehr ausreichte, um wichtige Systeme zu stören.
Kirina trat nach ihm und sein linker Arm fiel herab. Es schien ihn nicht zu stören. Er schob den Arbeitstisch mit der Chromstahlplatte über den glatten Boden bis er Kirina zwischen der Tischplatte und dem Kochherd eingeklemmt hatte. Kirina schrie auf, als sie die Hitze der Herdflammen in ihrem Rücken spürte. Sie hielt den TED mit beiden Händen direkt vor das Gesicht des Androiden und betätigte ihn — ohne Reaktion. Der ARCON hob den Strahler.
Yoshi kam von rechts und schwang eine Bratpfanne. Ein Streich des ARCON mit dem Arm stoppte Yoshis Angriff abrupt. Gleichzeitig, als Yoshi zu Boden ging, schlug Jokai dem Androiden eine Flasche über den Kopf. Die Flasche ging mit einem Knall zu Bruch. Sofort verbreitete sich ein penetranter Geruch nach Weinessig. Die Flüssigkeit floß an dem Körper des ARCON herab und drang durch die aufgerissene Außenhaut in den mechanischen Leib ein. Ein heftiges Zischen und Spratzeln zeigte an, daß die empfindliche Elektrik des Androiden von der Säure angegriffen wurde.
Der verbliebene Arm des ARCON fing an, sich unkontrolliert auf und ab zu bewegen. Das war die Gelegenheit für Naru. Sie sprang über die Tische und warf sich von hinten auf den Androiden. Mit der einen Hand hielt sie sich an seinem Hals fest, während sie mit der anderen nach dem Schalter in der rechten Achselhöhle tastete.
Der ARCON gab ein piepsendes Geräusch von sich, dann senkte sich der Arm, alle Lebenszeichen erloschen und der schwere Körper fiel polternd zu Boden. Der ARCON war erledigt, ganz einfach ausgeschaltet.
»Wir müssen jetzt so schnell wie möglich raus hier!« sagte Jokai, der als Erster die Sprache wieder fand.
»Du hast recht«, pflichtete Nick ihm bei, »bevor hier die Polizei und die Feuerwehr oder wer weiß noch auftaucht.«
Unter gemeinsamer Anstrengung gelang es ihnen, den ARCON vom Boden aufzuheben. Mühsam schleiften sie den schweren, steifen Körper die Treppe zum Dach hinauf. Als sie oben angekommen waren, schloß Nick die Tür hinter ihnen. Vielleicht würde ihnen das einen kleinen Vorsprung geben, bevor auch das Dach untersucht würde.
»Seht euch das an!« rief Robert, der sich über die Brüstung lehnte und auf den Platz vor dem Hotel starrte. »Die haben den ganzen Bahnhofsplatz abgeriegelt. Da unten sind mindestens zehn Polizeiwagen, ein ganzer Löschzug der Feuerwehr und einige Krankenwagen; und dort ist das Fernsehen«, rief er atemlos.
»Beeilt euch! Wo sie nur bleiben«, sagte Jokai vor sich hin und starrte in den dunklen, wolkenverhangenen Nachthimmel.
»Ich glaube, ich höre ein Motorengeräusch«, sagte Nick und starrte ebenfalls in die Luft. »Sind sie das?«
»Nein, das ist das Geräusch einer eurer Flugmaschinen«, rief Kirina.
Robert und Nick starrten einander voller Schrecken an.
»Wenn das die Leute vom Militär sind, dann…« Er ließ den Satz unvollendet, aber beide wußten, was sie dann erwarten würde.
Das Geräusch wurde lauter. Kurze Zeit später flammte ein helles Licht am Himmel auf. Es war der Suchscheinwerfer des Hubschraubers.
»Volle Deckung!« schrie Nick und warf sich hinter einem Lüftungsrohr auf den Boden.
Der grelle Strahl des Scheinwerfers glitt über das Dach und tauchte die Szenerie abwechselnd in gleißendes Licht und in Halbschatten. Wenn jetzt nicht bald etwas geschähe, dann wären sie alle verloren. Nick und Robert würden vermutlich im Gefängnis landen und die Sternenkrieger in irgend einem geheimen Forschungslaboratorium, wo man sie wie Versuchskaninchen halten und testen würde. Robert erinnerte sich voller Schrecken an die Berichte und Erzählungen von dem Schicksal von auf der Erde gelandeten Fliegenden Untertassen und deren Besatzungen, welche vom Militär gefangen genommen und auf Nimmerwiedersehen in geheimen Militäranlagen verschwunden waren. Allerdings waren alle diese Dinge im Ausland geschehen und er konnte sich eigentlich nicht vorstellen, daß die Regierung seines Landes zu so etwas fähig wäre; andererseits, wer weiß?
Auf einmal entfernte sich der Hubschrauber und auf dem Dach herrschte wieder tiefe Finsternis. Es schien beinahe, als sei der Hubschrauber nicht von allein davongeflogen, sondern als habe ihn eine unsichtbare Hand zur Seite geschoben, denn er stand schief in der Luft, als flöge er gegen eine heftige Windböe an.
Über ihren Köpfen blitzten auf einmal mehrere helle Lichter in einem Kreis von ungefähr zwanzig Metern Durchmesser auf.
»Endlich! Das ist unser Raumgleiter!« rief Yoshi und griff nach dem Kommunikator. Er sprach in das Gerät hinein und sogleich geschah etwas sehr merkwürdiges. Robert und Nick reckten die Hälse, als sie das ungewöhnliche Schauspiel am Himmel über ihren Köpfen gewahrten.
Rings um den Lichterkranz schien sich die Luft plötzlich zu verdichten, als entstünde ein Nebel. Aber es war kein wabernder Nebel oder Rauch, der aufsteigt und zerfließt, sondern es sah eher danach aus, als würde die Luft auf einmal an Durchsichtigkeit verlieren und zu einer festen Masse gefrieren. Langsam wurden die Umrisse einer großen Fliegenden Untertasse sichtbar, die sich langsam bis auf wenige Meter über ihren Häuptern absenkte. Auf der Unterseite erschien eine kreisrunde Öffnung, die sich langsam aus ihrer Mitte heraus vergrößerte, ähnlich der Irisblende eines Fotoapparates. Eine Art von Strickleiter und ein dünnes Kabel mit einem Karabinerhaken senkten sich herab.
Jokai und Yoshi schlangen das Kabel um den ARCON und zurrten es fest. Dann wurde er rasch hinauf gezogen und verschwand in der Öffnung. Kurz darauf erschien ein weiters Seil, diesmal mit einer Art von Tragegurt, darin wurde der regungsunfähige Dr. Pillar eingewickelt und ebenfalls in die Untertasse gezogen.
Jokai nahm den Koffer mit den Psyllion an sich.
»Schnell! Wir haben keine Zeit!« rief er den anderen zu.
»Macht es gut, ihr beiden!« rief Naru den beiden Jungen zu, als sie die Strickleiter erklomm.
»He! Ihr könnt uns doch nicht einfach hier zurücklassen!« rief Nick empört. »Die werden uns lynchen, wenn sie erfahren, was wir wissen!«
Jokai überlegte einen Augenblick, dann winkte er und rief: »Kommt mit! Helft Kirina beim Hochklettern.«
Mit etwas weichen Knien stiegen Nick und Robert die schwankende Strickleiter hinauf. Sie nahmen Kirina in die Mitte, die ziemliche Mühe hatte, die glatten Sprossen festzuhalten. Aber in einem Tragegurt hochgezogen werden wollte sie nicht. Yoshi und Jokai bildeten den Abschluß.
»Warum beamen die uns nicht einfach hoch?« fragte Robert, als er zum zweiten Male mit dem Fuß durch die Leiter hindurch getreten und beinahe abgestürzt wäre.
»Ich sage es gerne noch einmal«, rief Nick herab, »du siehst einfach zu viel fern!«
Robert hob den Kopf, um zu sehen wo er landen würde, aber das Licht im Inneren der Untertasse war so hell, daß er nichts außer einigen verschwommenen Schemen ausmachen konnte. Als er die Öffnung erreicht hatte, fühlte er sich von zwei starken Armen hochgehoben und auf den Boden gestellt.
Noch bevor er ein Wort zur Begrüßung sagen konnte, verspürte er einen schmerzhaften Einstich im Nacken, dann wurde es finster.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 06. Januar 2002 06:28 |